Samstag, 31. Januar 2015

Es regnet

Es regnet. Dicke, schwere Tropfen fallen auf meinen Kopf und meine Schultern herab, zerplatzen und hinterlassen einen leisen Knall. Erst der Blitz – ein Donnerschlag folgt. Die engen Straßen sind leer, kein Auto fährt. Meine Beine treiben mich voran, ich folge ihnen verständnislos. Denn ich habe nichts verstanden, habe mein Leben verlebt, meine Nächte verschlafen und die Tage verträumt. Der Preis offenbarte sich in jenen hellen Momenten, ich denen ich die Klarheit, die nackte, kalte Klarheit über mein Leben erkannte. Erst waren es nur einsame Momente, wenn mein Blick die Leere suchte. Die Klarheit kam und mit ihr das grauenhafte Gefühl der Einsamkeit. Die Momente wurden mehr, sie wurden stärker, intensiver, schmerzhafter. Es ist der Tag gekommen, an dem ich kapitulierte.

Es regnet. Meine Socken sind nassgesogen. Jeder Schritt quetscht das Wasser aus ihnen, das mit dem darauf folgenden wieder eingesogen wird. Die Straßen sind allein - ich bin allein. Mein Blick streift in die weiten Gassen, findet keinen Anhaltspunkt, verliert sich in der Entfernung. Das Grau wird Schwarz, das Schwarz wird leer. Ich weine. Die Tränen werden vom Regen weggespült. Meine Schritte stecken im immergleichen Takt. Kein Gedanke dringt in meinem Kopf hervor. Kein Bild, keine Vorstellung, kein Wort kann diese verzweifelte Leere bekämpfen. Eine unbeschreibliche Übelkeit legt sich um meinen Magen. Ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen. Aber ich werde nicht langsamer, ich gehe weiter. Immer weiter, ahnungslos. Hoffnungslos.

Es gab einen Moment, da habe ich mich selbst verlassen. An diesem Tag packte ich gedanklich meine Koffer, schmiss mir selbst einen Mittelfinger entgegen und ging weg. Wohin ich ging, das weiß ich nicht. Ich suche mich. Nur weiß ich nicht, wo die Suche beginnen soll. Wo würde ich mich verstecken? Würde ich mich denn überhaupt vor mir selbst verstecken? Nein, ich hätte mich bekämpft. Ein Kampf auf Leben und Tod, bei dem ich gestorben wäre und ich hätte gewonnen. Auf der Suche nach mir – im Regen, in Gedanken, in Emotionen. Der Sinn meines Daseins scheint ein nichtiger zu sein – wurde er gestohlen oder nie geboren? Bin ich ohne Sinn geboren? Einfach nur auf die Welt gesetzt. Ist es meine Bestimmung, bestimmungslos zu bleiben? Meine Beine bleiben schnell  und ziellos.

Ein Mann kommt mir entgegen. Ich erkenne ihn erst, als er wenige Meter vor mir steht, der dichte Regen hatte seine Gestalt verhüllt. Sein Gesicht bleibt mir fremd. Der Regen wird stärker. Der Unbekannte spricht zu mir, aber ich verstehe ihn nicht. Er hat eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen, beinahe komplett zugeschnürt, sodass ich nur die Konturen seiner Nase erkenne. Ich höre seine Stimme, verstehe die Worte aber nicht. Er kommt näher. Nun rieche ich ihn, inmitten des Schauers, der uns umgibt. Er riecht alt, kalt. Er riecht nach meiner Kindheit, an den feuchten Keller meiner Großmutter, in dem ich in den Sommerferien die Äpfel eingelagert hatte. Nun ist er mir vertraut, ein immer da gewesener Bekannter, Freund, Bruder und Vater. Freude umgibt mich. Ob ich nach Hause will fragt mich der Mann. Ja, ich will.


Es regnet.

Mittwoch, 28. Januar 2015

Wienerisches Amerikanisch

Neulich in der Wiener Innenstadt:


Welkomm, Welkomm!

Ei hob ju hed e neis fleit tu austria. Yes, plihs, komm owa hiar. Senks. So, dis ist de Stephansdom. De Stephansdom is won of de oldesd bildings in wienna. It wos bild in wontausndwonhandretsörtiseven. Batt de dom is not komplitet jett. De konstraktschon hed tubi stoppd in fifftenelewn bekos off mani-schortetsch. Well end iff ju luk owa hiar, ju ken si de wondafull Kärntner Strasse. It is weri femos es e schopping mol. Jes so wi will dreiff wis de metro tu de Schwedenplatz, dis is enadda gred ples in wienna. – Geh, Koarl, hoist ma an Foahschein? –
So, dis is wot wi kol e Käsekrainer. E Käsekrainer is e big sosetsch wis tschihs init. Wi put it intu e breed, mostli intu e Hotdog-Breed. Te tüpikal wieness leiks to putt ketschapp and mastat init. So wi itit in won hend end de odda ken be jusd foa enising els. Gred, isnditt? Es ju ken si, austria is e wondafull ples foa ewaribadi. Wi ah open, freindli end we alwes hef the Wiener Schmäh – haha –  Jes ju no. 

Dienstag, 27. Januar 2015

1001 Worte

Bürger! Wie kannst du klagen? Wie kannst du es wagen, deinen Mund zum Protest zu öffnen, um deinem Groll Gehör zu verschaffen, der sich in Undank und Faulheit suhlt? Denke an die Generation unserer Eltern, hat sie nicht alles getan, um uns eine bessere Welt zu hinterlassen? Was hat die Elternseltern Generation gemacht? War sie nicht still und hat ihr Schicksal hingenommen, wie es kam? Es kam voll Hass und Tod und Trauer und Verlust. Hat sie das Land nicht aufgebaut, hat sie die Wirtschaft nicht angekurbelt? Ihr Leben war hart und voll von Sorge, Verzweiflung und Trauer um den kommenden Tag. Aber du, Erdenbürger, willst dein Haupt erheben, zwischen deiner Verschwendung und deiner Arroganz, willst auf den Boden spucken, den Boden, der als Fundament unserer heutigen Welt dient? Eine Welle von Scham und Selbsthass soll dich überrollen im Augenblick, in dem deine Selbstsucht  dich erdrosselt.
Wir leben in einer futuristisch angehauchten Welt. Wer vor 80 Jahren durch die Stadt der ehemaligen Habsburgermonarchie spazierte, der würde an der gleichen Stelle heute Aug‘ und Ohr verlieren. Wo einst Kutschen auf den Backsteinstraßen knirschten, brummen heute Mercedes und BMW über den Wiener Ring. Protzige Hotelanlagen, deren Namen an die alten Zeiten erinnern sollen, laden zum teuren Absteigen ein. Der Luxus wurde neu entdeckt, er wurde aufgezogen und ist nun groß geworden, größer als wir es je waren. Niemand muss heute mehr hungern in unseren Ländern. Europa hat zusammengefunden. Wo einst Hasstiraden gesungen wurden, finden sich Afrika-Workshops und Zelte zum Origamischwan falten. Ziel erreicht? Nur scheinbar. Denn in Wirklichkeit sind wir weiter davon entfernt als je zuvor. Warum, fragt sich der Bürger von heute. Wir haben doch alles was wir wollen, leben im Überfluss, jeder kann in einem Haus leben, na fast jeder. Wer konnte damals schon ein Haus mit Swimming Pool und Garten und Zwergen und Rutsche und Hollywood Schaukel haben? Natürlich, nur die oberen Zehntausend leisteten sich einen solchen Luxus. Aber braucht man einen Garten mit einem Haus darauf? Sind die Gartenzwerge tatsächlich notwendig, um ein sinnerfülltes Leben zu führen? Da ruft der neue Bürger „Das ist mein Recht!“. Wohl wahr, dein Recht zu tun was du willst. Aber willst du denn tatsächlich dein Leben mit solchem Unfug füllen? Die Selbstbestimmung scheint an den meisten Leuten zu scheitern – oder ist es umgekehrt?
Luxus ist ein wunderbares Wort – vor allem wenn wir seiner Bedeutung nachgehen. Da müssen wir nicht lange suchen: Luxus ist lateinisch und bedeutet Verschwendung. Da fällt die Maskerade des vermeintlich edlen Wortes! Wer möchte schon verschwenderisch sein? Doch genau das ist der Lebensstil, den die heutige Gesellschaft für sich anstrebt. Problematisch wird die Frage, wie eine Gesellschaft, bestehend aus unzähligen Individuen, monoton luxuriös leben könnte? Nein, das ging schon damals nicht, denn wer ein Buch in die Hand nimmt und in den Zeilen der alten Zeiten nachliest, wird finden, wovon ich spreche: Die antike Oberschicht, die Aristokratie. Diese Gesellschaft, ein stets eingekesselter, isolierter Teil der eigentlichen, lebte von den Mühen und auf Kosten der Bauern, Knechte, Arbeiter, Kaufmänner und Leibeigenen. Der Hof des Kaisers blühte prunkvoll auf, wenn die Ernte im Herbst verkauft und die Steuer vom Adel eingezogen war. Die Könige und Fürsten sind heute verschwunden, mit ihnen die missbrauchte Aristokratie und die Leibeigenschaft. Dennoch leben wir heute unter ähnlichen Umständen, wenn auch den Umständen entsprechend in anderer Quantität. Die heutigen Fürsten sind selten mehr geadelt, meist ist ihr Hof ein privates Gut. Sie leben abgeschieden von der Welt in ihrer eigenen, mit Personal und Golfplatz, eigentlich doch ganz dem alten Muster entsprechend. Dass der Mensch nichts dagegen unternehmen mag und von einer Ungerechtigkeit in die nächste schlittert, das mag wohl an seinem Egoismus liegen, der von unten nach oben verteilt. Wo sich dann einige Egoisten zusammenschließen, da entsteht eine Lobby, eine Gemeinschaft der Einzelnen, die alle ihrem eigenen, subjektiven Wohl nacheifern.
Das Jammerdasein seiner eigenen Unterdrückung wusste der Bürger von damals wie der heutig moderne ganz einfach zu verdrängen: Mit Brot und Spielen – zur Verfügung gestellt von der herrschenden Klasse, die sich damals wie heute eine Menge Geld, Leben und Mühe damit ersparte. Waren es in früheren Jahrtausenden blutige Kämpfe, die dazu nötig waren den niederen Instinkten des Kleinbürgertums zu gefallen, hat sich die Unterhaltungsindustrie einen neuen Streich erlaubt: Unterschichtsfernsehen. Die allbekannten Sender mit ihren „scripted reality shows“ bringen den Bürger von heute praktisch kostenlos auf seine Kosten. Das Brot liefern Fast-Food-Ketten billig und fettig, wie es der Gaumen der Unteren bevorzugt.  Während sie also gemütlich vor den Wohnzimmeraltären ihre neuen Götter anbeten, fressen sie Hormone und Giftstoffe aller Art und Konsistenz in sich hinein, um sich Tags darauf in der Arbeit über den Trott des Lebens zu beschweren. Die klebrige Ironie, die diese Gesellschaft zusammenhält, ist komplizierter als je zuvor. Jawohl, diese Welt ist kein Deut besser geworden, als man Demokratien ausrief, Sklaverei verbat, Leibeigenschaft abschuf und Diktaturen zerschlug – das Ungleichgewicht hat sich nur verlagert, nie wurde es tatsächlich bekämpft, geschweige denn besiegt.
Schon immer hat der Mensch versucht, einen Schuldigen für sein eigenes Übel zu suchen – nie jedoch hat er sich selbst getadelt. Stets waren es die anderen: mal die Adeligen, mal die Kaufleute, mal die Kommunisten, mal die Juden. Die Schuld scheint so vielfältig wie die Beschuldigten, nie jedoch nimmt sie die Gestalt der Realität an. Eine Schande für ein solch edles Geschöpf wie dem Menschen, einzigartig auf diesem Planeten. Der Mensch hatte den Fortschritt nur im Kollektiv bestritten. In der Gruppe war der Mensch immer stark. Ohne Zusammenschluss wäre der Mensch in der ostafrikanischen Savanne verreckt. In Gruppen wurde der Mensch auch gehalten, als er versklavt und verkauft wurde, denn die Kraft eines Einzelnen vermag nichts zu verändern. Die Pyramiden wurden von hunderttausenden Menschen gebaut, deren Stärke in ihrer Zahl lag. Hätte die Masse ihre Kraft für das eigene Wohlergehen eingesetzt, so wäre es anfangs eine Revolution, dann ein Aufstand, später aber eine Demokratie geworden. Ihre  Kraft wurde ausgenutzt, um der Geltung eines einzigen Pharaos zu dienen, ihm die Ewigkeit zu schenken. Das Prinzip widerspricht dem evolutionären Gedanken der Selektion. Aber dazu ein andermal.

Mittwoch, 21. Januar 2015

Die Zeit

Beim Supermarkt an der Ecke. Ein feiner Geschäftsmann, die Blüte seiner Jugend gerade eben verlassen, telefoniert an der Wursttheke. Sein Blick ist starr auf die gebratene Putenbrust aus Fleischstücken gerichtet, von der er „a bisserl was“ bestellt hat. Im Telefon ertönt, unschwer zu überhören, ein Mann mit lautem Sprechorgan. Man hört seine Anweisungen sicherlich einige Meter weit, wo auch die Frau von der Theke an der Schneidemaschine steht und im monotonen, immergleichen Rhythmus die Putenbrust herunter blättert. Der junge Herr windet sich sichtlich aus einem Schlamassel, in das er wohl aufgrund einer Verspätung geraten ist. Immer wieder verzieht er seinen breiten Mund und bleckt seine gebleichten Zähne während er durch sie die sauerstoffarme Luft einzieht. Dann aber passiert es! Er hebt seinen rechten Arm, winkelt ihn ab, blickt auf die teure Uhr. Seine Stimme ertönt zum ersten Mal in diesem Gespräch. „Jo, Peter. I hab ja gsagt, ich beeil mich. Aber i hab viel Zeit verloren.“ Der Mann hat, ich wiederhole es ausdrücklich, Zeit verloren. Das macht ihn um einiges sympathischer. So nehme ich meine bestellten Semmeln und bedanke mich mit einem zufriedenen Lächeln bei der Frau an der Theke.
Zurück in den engen Gassen der Altstadt versuche ich dem Wortlaut zu folgen. Immer wieder huscht mir der Satz durch den Kopf. „Aber i hab viel Zeit verloren – Zeit verloren.“ Wenn man Zeit verliert, dann muss man Zeit erst einmal besitzen. Warum verliert man so etwas? Wenn man nicht genug darauf aufpasst, wohlmöglich. Oder aber weil sie herausgefallen war, aus der Tasche oder vielleicht aus einem Beutel – einem Zeitbeutel. Ich blicke in meine Hosentaschen, finde keinen Beutel, der die Zeit aufbewahrt. Eigenartig. Man sagt doch auch, dass einem die Zeit gestohlen wird. Das ist es! Auf den Straßen machen Zeitdiebe das Leben der Menschen unsicher. Aber wo sind diese Diebe – wie sehen sie aus – und vor allem: Wie stehlen sie denn die Zeit, wenn sie nicht verwahrt ist? Fragen über Fragen häufen sich in meinem Kopf an, als ich an einem kleinen Tischchen vorbeikomme, an dem ein Hütchenspieler hockt und sein Spiel mit einem der Passanten treibt. Fasziniert sehe ich seinen schnellen Bewegungen zu. Immer wieder schafft er es, den kleinen Ball unter einem der Hüte zu verstecken. Der Passant, ein kleiner, dicker Mann in Anzug und Krawatte, sieht den Spieler verärgert an. Er hat ihn wohl ausgetrickst, darüber ist er sich bewusst – zum Beweis fehlt jedoch jede Spur. Ich sehe auf die Uhr – mein Atem stockt. 20 Minuten verloren! Wie ist das passiert? Vielleicht hat sie wer eingesteckt, als ich nicht aufgepasst habe? Aber, nein es ist wohl zu spät, ich sehe niemanden mit zu viel Zeit. Zu viel Zeit, kann man das haben? Ist Zeit so etwas wie Geld, kann man genug davon haben – ist man dann unabhängig?
Mein Kopf schmerzt bei solcher Gehirnakrobatik. Wie viel Zeit bleibt mir wohl noch? Was ist, wenn sie aufgebraucht ist? Völlig verstört komme ich an einem alten Brunnen an. Das Wasser läuft aufgrund der kalten Jahreszeit nicht mehr und so sitzen allerhand Menschen nebeneinander am Rand des Wasserbeckens. Ich setze mich auf die Steinkante. Spanische Studenten witzeln mit großzügiger Gestik um die Wette. Ich verstehe nur ein paar Brocken, mein Spanisch ist wohl nicht mehr das Beste. Es ist schon einige Jahre her, als ich Spanisch lernte, das war wohl am Gymnasium. Nach einiger Zeit der Ruhe setzt sich ein alter Mann zu mir. Sein grau-schwarzer Wollmantel scheint sauber und gepflegt, seine Brille ist in einem Zinnrahmen gefasst. Er zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch in weitem Bogen aus. Dann blickt er zu mir und sieht mich von der Seite an. „Junger Herr“, spricht er. „Haben Sie eine Sekunde Zeit?“ Fassungslos streift mein Blick ins Leere. „Ich weiß es nicht.“, antworte ich.  

Sonntag, 18. Januar 2015

An den Leser

Ich wende mich an den werten Leser, der seine begrenzte Zeit sich nimmt, um in meinen Texten zu suchen. Wonach er sucht sei seine Sache, was er findet jedoch meine. Das ist zumeist das Problem des heutigen Schriftstellertums, nämlich: es begründet sich in seiner subjektiven Unterhaltungsform. Wer heute schreibt, der schreibt Geschichten, schreibt was sich verkauft, also was der Bürger Nr. 0815 gerne liest. Wer sich nur oberflächlich, sprich in der Ubahn oder im Bus mit Büchern beschäftigt, wie es wohl die meisten der heutigen Leser tun, wird seinem Gemüt nur leichte Kost zumuten, also geistige Diät-Bücher kaufen – auch Bestseller genannt. Wer sich in den gegenwärtigen Zeiten ein gutes Buch zulegen möchte findet es beim Antiquitätenhändler. Die Zeiten des Schreibens sind vorbei, ja, tot sind sie. Im legendären Cafe Central in der Wiener Herrengasse, wo sich die namhaftesten Schreiber einst die Hand reichten, ihre Schreibblockaden zusammen mit Schach und Tarock aussaßen, die Motivation in der Suppenschüssel suchten, fanden und verewigten, da gibt es heute keinen einzigen wahrhaften Schriftsteller inmitten der Touristen, die Filterkaffee zum Mürben Kipferl bestellen. Ebenso tot wie die unvergessenen Literaturzirkel sind auch die vermodernden Anhäufungen von Feuilletons und Essays und deren größter Meister, Anton Kuh.
Das begründet sich des Schreibers Meinung nach in dem Verlust des guten Geschmacks. Ich habe die Wurzel des Übels lange gesucht, an den unmöglichsten Orten gefunden, dann doch als Attrappe enttarnt, aber letztendlich bin ich mir sicher, sie festzuhalten. Ich halte sie in die Höh', entblöße sie vor euren Häuptern, seht her: der fehlende Sinn für gute Literatur ist der Grund der untergegangenen Schreibkultur. Verkauft wird der Roman für die moderne Hausfrau, für Schulkinder und Freizeitleser. Wenn der Markt keine Monopolisierung durchführen würde und auch kleine Schreiber ihre Bücher verlegt bekommen würden, wäre an dieser Tatsache nichts auszusetzen – in Zeiten des knallharten Kapitalismus aber ist die Existenz dieser erwähnten Gruppe von Schriftstellern ernsthaft bedroht. Wer tatsächlich gegen den Strom schwimmt, wird seine Leserschaft nur schwer erreichen und sein Leben in den seichten Höhen der Anerkennung verbringen. Wer also abseits des Mainstreams schreibt braucht :
Geld zum Leben, vom Schreiben verdient er nichts;
Viel Ausdauer, um die Leser zu erreichen;
und ein frohes Gemüt, um dem Verdruss der allgemeinen Ignoranz erfolgreich entgegenzutreten.
In einem Satz also: Wer heutzutage schreibt, schreibt entweder um viel Geld zu verdienen, oder man schreibt aus masochistischer Leidenschaft, einer Leidenschaft, sich selbst von den Freuden des Lebens fernzuhalten. Zum Glück kann man zwischen beiden Gruppen eine dicke, schwarze Trennlinie ziehen. Verwischt wird sie selten bis gar nicht. Ich hoffe zutiefst, dass das 21. Jahrhundert genügend Schriftsteller der zweiten Art hervorbringen wird, um auch durch seine Kunst und Kultur in die Geschichtsbücher eingehen zu können – und das in schönen Erinnerungen.
Mein lieber Leser, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Donnerstag, 15. Januar 2015

Damals

 Ein altes Sprichwort besagt, man solle nicht in der Vergangenheit leben.
Damals – ein subjektiveres Wort habe ich bislang nicht gefunden. Jede Generation hat ihre eigene Welt der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die eigene Vergangenheit könnte als die Gegenwart eines anderen vollkommen anders aufgenommen worden sein, und so ergeben sich so viele Wahrheiten und Eindrücke, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt.
Damals, ich war wohl acht oder neun Jahre alt – da wohnten meine Eltern mit mir an einer dicht befahrenen Straße. Ich erinnere mich an einen Innenhof des Gebäudes, an drei alte Damen, Tratschweiber, wie meine Mutter sie abfällig bezeichnete. Jeden Tag saßen sie auf derselben Bank, vor dem Sandkasten in dem ich spielte, und erzählten sich ihre Wahrheiten und Eindrücke, die sie als Generation miteinander verbanden. Sie waren Kinder des Krieges, verurteilt und vergessen, im Strudel der Zeit mitgenommen und beiseite geschoben. Ich erinnere mich an den alten, wiener Greissler, keine 500 Meter vom Wohnhaus entfernt. Ein Laden, der auf mich Kind klein gewirkt hatte, dessen Sortiment man mit einer Umdrehung überblicken konnte, voller Eigenerzeugnisse und regionalen Produkten. Der Geruch von frischem Obst und Gemüse, das in offenen Holzkisten angeboten wurde, lassen diese Erinnerungen besonders lebendig wirken. Ich bettelte stets um eine Süßigkeit, die ich als Belohnung bekam, für meinen körperlichen Einsatz – ich trug das Sackerl nach Hause. Es dauerte nicht mehr lange, da übernahmen die großen Konzerne den Markt, wurden zum Supermakt und schließlich zum Hypermarkt umgewandelt. Die kleinen Läden mussten schließen, weil das homogene Angebot den immergleichen, niedrigen Preis beibehalten konnte und der Geiz der Leute sie in die Konzernhallen trieb. Greissler gibt es in Wien kaum mehr – mit ihnen sind auch die kleinen Bauernhöfe und Pflanzenzüchter vom Bild der Landschaft weggefegt worden.
Wien – das hieß damals Einzigartigkeit. Auch wenn mir die letzten Tage der alten österreichischen Kultur als Kindheitserinnerungen angeheftet sind, frage ich mich oft, wie die Menschen meines heutigen Alters in der Zeit gelebt hatten. Ohne Computer, der der Schreibmaschine einen Vorteil von Jahrzehnten voraus ist, ohne Internet, das jegliche Abgeschiedenheit und Entfernung überwältigt, ohne Handy, mit dem man an jedem Ort sofort erreichbar ist. Nein, ich kann mir diese Zeit kaum vorstellen. Keine SMS, keine Mails, keine Telefonate in der Straßenbahn– mein Kopf routiert bei dieser Vorstellung, und doch hat sie etwas romantisches, Altvertrautes an sich.
Damals, es war wohl eine Zeit der Stille, die Ruhe vor dem Sturm, der die Fundamente der Stadt aus den Fugen reissen würde. Ein Sturm, der aus dem Westen kam und nicht nur die englische Sprache zu uns brachte – auch das Essen und die Fettleibigkeit haben wir inzwischen von unseren lieben Freunden übernommen. Was ich vermisse ist die kulturelle Identität unseres Landes und seiner Bevölkerung. Während wir als Kinder in Latz- und Stoffhosen umherrannten, spaziert unsere jüngste Generation in Jeans und HipHop-Kappen mit dem Aufdruck "OBEY" durch die Straßen. Es schmerzt, alte wiener Worte und Sprüche in Vergessenheit zu wissen, den unterbairischen Sprachrythmus in den Schulen, Banken, Kaufhäusern und an manchen Ecken der Stadt zu vermissen. Möge man mich altmodisch nennen, oder kleinlich oder auch änstlich und verrückt – ich vermisse den oidn, schiachn Bletschntandler (alten, hässlichen Gemüsehändler) am Wochenende, und wir alle wissen, dass er nie mehr zurückkommen möchte.
Damals, die Mitte der 1990er, für manche waren es die alten Tage, für mich aber waren diese Jahre der tiefe Topf, aus dem ich die Fundamente meiner Persönlichkeit geschöpft habe. Nie wieder wird es eine solche Generation geben, wie auch die heutige wohl einzigartig bleibt. Wir alle drehen uns im unendlichen Kreislauf des Lebens, nur der Fortschritt bleibt nicht stehen und macht so jedes Jahrzehnt der Geschichte einzigartig.

Die Klassenfahrt

 Viktor winkte aus dem Fenster. Der Bus war ohnehin schon hoch, aber da er im oberen Stock saß, wirkte sein Vater aus der Höhe noch viel kleiner. Von hier aus war sogar Papas Halbglatze zu erkennen, die er sich mit Müh und Not zurechtzukämmen versuchte. Doch die Zeit kannte keine Entschuldigungen und Erklärungen, und so schwanden seine Haare mit jedem Tag etwas mehr. Viktor, der sich nun seine kleine, blaue Jausenbox hervorgeholt hatte, die zwischen den Pullovern, Unterhosen und Mickey Mouse Magazinen versteckt war, bot Sophia eine Hälfte seines Butterbrotes an. Sophia, ein kleines, blondes Mädchen mit Sommersproßen um der Nase und daraufgesetzten Brillengläsern, die in einem lila Rahmen gefasst waren, saß in der Klasse direkt hinter Viktor. Sie verstanden sich gut und das obwohl Jungen und Mädchen prinzipiell nur untereinander zu tun hatten. Die Freundschaft zwischen den beiden wurde nur akzeptiert, weil Sophias großer Bruder einige Klassen über ihnen die gleiche Schule besuchte. Nicht, dass Bernhard den kleinen Wicht, der sich seiner Schwester immer mehr annäherte, sympathisch fand, aber jeder Schüler, der es versuchte, Sophia zu hänseln, war mit dem dicken Bernhard verfeindet. In der Schulhierarchie wäre das der soziale Tod eines jeden Zweitklässlers gewesen, und so akzeptierte man Viktor und Sophia als befreundete Schüler der Klasse. Er hielt ihr das Brot entgegen. Sie sah ihn an, nahm es schließlich zögernd und bedankte sich bei ihm mit einem kaum geltenden Lächeln. Die Motoren starteten, die dick bepolsterten Sitze vibrierten. In den hinteren Reihen begannen einige Kinder zu lautieren. Herr Reichert, der Klassenvorstand der 2B, hielt seinen Zeigefinger fest gespreizt auf die Lippen. Sein lautes, langgezogenes "Pscht" übertönte alle Gespräche des Busses und erstickte sie in seinem schrillen Keim. Mit hochgezogenen Augenbrauen und weit aufgerissenen Augen, mit denen er wie eine Eule aussah, hielt er eine Ansprache, in der er die Reife seiner Schüler und die Dringlichkeit ihrer Verantwortung erwähnte. Viktor sah ein letztes Mal zu seinem Vater, der ihm heftig zuwinkte. Bald war der Bus an die Ecke gerollt, wo er auf die Hauptstraße abbog, um dann auf der Autobahn in Richtung Westen weiterzuziehen. Viktor atmete tief ein. Ein letzter Blick vermittelte dem Papa Hoffnung auf ein baldiges, erfreutes Wiedersehen.Doch in erster Linie freute er sich auf die bevorstehenden Wochen, die wichtigsten Wochen seines bisherigen Schullebens. Die Sommerwochen.
Der Schulbus war nach einer genauen Sitzordnung geregelt. Sie war nicht ausgesprochen und doch still vereinbart, instinktiv vorgegeben. Je weiter hinten man saß, desto angesagter galt man in der Klasse. Also saß ganz vorne die Lehrerschaft, die sich unbewusst und doch ganz richtig in die Ordnung einfügte. Dahinter saßen die Streber, Harald und Phillip, deren Zeitvertreib es war, sich mit Büchern über die Sumerer und Babylonier zu beschäftigen. Sie galten als akzeptiert, auch wenn man oft über ihren flachen Humor, in dem sie sich kryptisch unterhielten, witzelte. In der Reihe hinter ihnen saßen Laurenz und Sebastian. Sie waren die Sorgenkinder der Klasse, da sie beide Probleme hatten, sich Bekanntschaften und Freunde zu schaffen. Da sie aber in ihrer Situation nicht allein waren und sich inmitten der Gemeinschaft gefunden hatten, fanden sie Glück im Unglück. Zwischen ihnen und Viktor befand sich die Mädchengruppe, über deren genaue Formation er sich auch nach zwei Jahren noch nicht ganz klar war. Elisabeth, von der Klasse liebevoll Liserl genannt, war das schönste Mädchen der Klasse, viele sagten gar der ganzen Unterstufe. Eine warme, vertraute Aura umgab ihre schöne Gestalt, und so war sie der geheime Schwarm unzähliger Schüler. Viktor konnte kein Interesse an ihr entdecken und wusste bereits am ersten Schultag, dass sie der zukünftige schöne Schwan der kommenden acht Jahre sein würde. Er hegte eine Unlust an Allerweltsdingen. Er interessierte sich seitdem er denken konnte für alternative Lebenswege. Als seine Eltern ihm vor einigen Jahren Pinsel und dazugehörige Farben gekauft hatten, um die Kreativität ihres Sohnes zu fördern, malte Viktor den Parkettboden in verschiedensten Rottönen an. Die Blätter aus Kartonpapier aber blieben blank. In den beiden letzten Reihen, direkt hinter Viktor und seiner blonden Sitznachbarin, saßen die coolen Burschen der Klasse. Unter ihnen Florian, ein schwarzhaariger Kerl mit grünen Augen und blassem Teint. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Schneewittchen, wahrscheinlich wäre er die perfekte männliche Version von ihr gewesen. Er war der Schönling der Klasse, das Alphamännchen. Um ihn herum sammelte sich eine Gruppe von menschlichen Kletten, die durch Florians Licht zu strahlen versuchten, doch ihr Versuch war immer schon zum Scheitern verurteilt. So saßen sie um ihn herum und unterhielten ihren kleinen Fürsten.
Stunde um Stunde verging, bis der Bus ans Ziel gekommen war und Herr Reichert um die Aufmerksamkeit seiner Schüler bat. Während Harald und Phillip, die beiden Streber, vom Vorstand gerne fleißige Schüler genannt, gespannt auf die Ansprache warteten, war Florians Gehabe durch das Geschnatter der Mädchen nicht zu hören. Sekunden vergingen, in denen Herr Reicherts Ader an der Schläfe immer schneller und deutlicher pochte, bis er aufschrie. Es war ein gellender Schrei. Die Kinder erstarrten. Selbst der übergewichtige Busfahrer sah den Lehrer mit verwunderter Mine an. "Meine Lieben!", rief der Lehrer bis ans Ende des Busses. "Wir sind nun in Bad Neustadl. Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter, das Gepäck wird ins Ferienlager geschickt." Die Schülerschaft, ein jeder für sich, und doch alle zusammen, packte den Rucksack und schnallte ihn um den Rücken. So ging einer nach dem anderen in geduckter Haltung aus dem Bus. Frischluft. Es roch nach Pferdemist und Düngemittel. Florian, dessen Rucksack von seinem größten Schergen, Raphael, getragen wurde, lehnte seinen Kopf in den Nacken und verzog seine wulstigen Lippen. Wie aufs Kommando beschwerten sich seine Jünger. "Boah, riecht ihr diesen Dreck?", fragte Raphael in die Gruppe. "Ja, ist wirklich krass ekelig.", bestärkte ihn Lukas, beide die Blicke auf Florians wegweisende Mimik gerichtet. Vom anderen Ausgang des Busses, einige Meter entfernt, dröhnten laute Buh-Rufe und uneifes Lachen. Auch die Mädchengruppe beschwerte sich über den Duft der Natur. Einzig und allein Sophia verzog keine Mine, als sie ausstieg. Sie sah Viktor an, schielte aber in den Augenwinkeln zu den Zicken hinüber und schmunzelte ihre Schadenfreude in seine Richtung. "Das riecht wie bei meinem Onkel.", flüsterte ihm das blonde Mädchen ins Ohr. Er lächelte. Sie wusste, was er für sie empfand. Beide wussten, was sie füreinander empfanden, und doch traute sich keiner der beiden über den eigenen Schatten. Sie gingen zu Herrn Reichert, der einen roten Regenschirm in die Luft hielt. Von Florians Ecke kam eine herablassende Bemerkung. "Schirm im Sommer, dem regnets in den Kopf."

Freitag, 9. Januar 2015

Schwendling

Die Straße lag unweit vom Badesee, in dem ich einmal beinahe ertrunken war. Fast zwanzig Jahre vergingen, bevor ich sie wieder betrat und deren fausttiefen Schlaglöcher, die wie einst das Fahren erschwerten, laut verfluchte. Keiner schien sich um sie zu kümmern, da die Jungen alt und die Alten tot geworden waren. Die Zeit hatte diesen Ort nicht verschont, sie schien ihn doppelt und dreifach verflucht zu haben. Bis auf einige alte Frauen, deren Männer gestorben und Kinder weggezogen waren, fanden sich nur mehr ein Schäfer, ein alter Bauer und eine junge Schriftstellerin im Ort wieder. Während der Schäfer hier genug Platz für sein Getier hatte und der Bauer dem Alkohol verfallen war, fand die junge Frau an diesem Ort genau, wonach sie ihre gesamte Jugend gesucht hatte. Es war nicht das leise Krähen der Raben bei der Morgen- und Abenddämmerung. Oder die Pferdekutschen, die nach alter Tradition durch das verlassene Dorf fuhren. Man könnte meinen, dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit liebte, die sie jedoch schon in der Stadt gefunden hatte. Nein, es war die geheimnisvolle Vergangenheit dieses Dorfes, das vor langer Zeit ein belebter und beliebter Ort gewesen war, die sie so faszinierte. Viele Kriege hatte es überstanden, viele Fürsten hatte es ernährt. Doch im Laufe der Zeit fand das, was einige Leute das Schicksal nannten, einen Weg diesen Ort, der trotz seiner hellen und freundlichen Seite ein finsteres Geheimnis in sich barg, zu vernichten. Keiner wurde von diesem gelenkten Treiben verschont. Selbst mein Großvater, einst Bürgermeister des Dorfes, in dem meine Familie seit Generationen aufwuchs und alt wurde, fand keinen Frieden, bevor er den unheimlichen Ort verließ. Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war.
Damals hieß es, dass die Kinder meines Jahrganges in Schwendling besonders gute Schüler wären. Kaum jemand hatte eine schlechtere Note als ein Gut und tatsächlich schien niemand größere Probleme beim Lernen zu haben. Ich war kaum 8 Jahre alt, da kam meine Mutter wie jeden Tag vor die Schule, um mich abzuholen. Diesen Tag jedoch war alles anders. Sie hatte immer lange, luftige Röcke getragen, die mit schönen, bunten Blumenblüten bestickt waren. An diesem Tag jedoch waren keine Blumen auf ihrem Rock. Auch das Lächeln vermisste ich in ihrem schönen, jungen Gesicht. Stattdessen sah ich Tränen die geröteten Backen herunterfließen. Sie waren schnell und flogen allesamt auf den schwarzen Mantel, den sie trug. Ich kann mich an den Wind erinnern, der besonders stark wehte und ihre Haare umhertrug, von links nach rechts und zurück. Die Luft war von Mandeln und Kastanien erfüllt. Während alle Kinder die Hand ihrer Mutter oder ihres Vaters nahmen und mit einem beruhigten, nach oben gerichteten Mundwinkel nach Hause gingen, stand meine Mutter reglos da. Ihre Augen sahen durch mich hindurch. Ich rief sie, stupste sie an, doch sie reagierte eine Weile nicht. Erst nach einigen Sekunden der Unruhe, kurz bevor ich angstvoll zu weinen begonnen hätte, begrüßte sie mich. Sie sah mich keine Sekunde dabei an, nicht einmal einen Blick schenkte sie mir. Ihre Worte waren kühl und fremd. "Wir gehen jetzt nach Hause.", sagte sie. Meine Lungen schienen sich zusammenzuziehen, als ich ihre Worte vernahm. Was war geschehen? War meine Mutter böse auf mich? Ich atmete tief und verkampft ein und wieder aus. Im Auto fragte ich sie nochmals was denn geschehen sei. Doch meine Mutter war weiterhin eine Fremde und reagierte nicht auf mein Bitten und mein Betteln. Dass Onkel Augustin nun verstorben war, erfuhr ich dann erst, als wir zu Hause angekommen waren. Es war auch für mich eine harte Sache gewesen. Ich weinte den ganzen restlichen Nachmittag. Eine Weile in den Armen meiner Mutter. Wir weinten gemeinsam. Als die Dämmerung eintrat, ging sie ohne ein Wort der Verabschiedung in ihr Zimmer. Die Nacht war still und kalt. Ich schlief nicht.
Am nächsten Tag telefonierte meine Mutter mit meiner Großmutter, die unweit von hier lebte. Schwendling war kein großer Ort, obwohl viele Familien ihre Sommerhäuser hierher gebaut hatten, kamen sie nur selten. Seit einem Jahr aber, vermehrten sich die Unfälle drastisch. Was anfangs nur vereinzelt und ohne Verstrickungen passiert war, schien nun eine Gefahr für jeden Bewohner des Dorfes zu sein. Als die Mutter den Telefonhörer auflegte, sagte sie ohne jeglichen Funken Lebensfreude: "Wir werden umziehen. Pack deine Sachen. Morgen ziehen wir zur Oma Margarete." Sämtliche Fragen nach dem Grund oder der Dauer unseres Umzuges wurden eiskalt ignoriert. Tatsächlich fiel mir das Einräumen der Kartons nicht leicht. Ich hatte nur zwei mittelgroße Schachteln bekommen, die wir ins Auto verfrachten konnten. Den Rest, so sagte sie, müsse ich hinterlassen. Es war in der Tat ein fluchtartiger Umzug, dessen Grund ich erst nach langer Zeit verstanden hatte. Man las in der Zeitung von vermehrten Unfällen, erhöhten Krankheitsrisiken. Menschen hingen sich im Wald auf, zündeten ihr Haus an und verschwanden so mitsamt ihrer Familie.
Warum, das ist mir selbst jetzt, wo ich vor der alten Ruine unseres Hauses stehe, noch immer nicht klar. Nach 10 Jahren verfiel Schwendling vollkommen und galt als verlassenes Geisterdorf. Erst vor wenigen Jahren beschlossen die wenigen Leute zurück in ihre Häuser zu ziehen. Ich spüre, dass dieser Ort keinen Zufall zulässt.

Donnerstag, 8. Januar 2015

Das Geheimnis des Waldes

Wenn der Schnee liegen bleibt und sich kleine Hügellandschaften bilden, dann kommen Zwerge an die Oberfläche und bauen kleine Höhlen mit unendlich vielen Gängen, Zimmern, Palästen und sogar Städten unter die Schneedecken. So stellte sich das der kleine Wilhelm vor, wenn er jeden Tag um halb drei Uhr Nachmittags den langen Weg von der Volksschule zurück nach Hause nahm. Er liebte diesen Weg und obwohl er immer allein gehen musste, da das Familienhaus abseits des Dorfes lag, freute er sich auf den einsamen Spaziergang, auf dem seine Phantasie blühende Geschichten erzählte. Am liebsten jedoch hatte Willi, das war sein Spitzname in der Schule, den Winter, wenn Eiszapfen an den Tannenzweigen wie lange Stifte herunterhingen und die Spuren der Wildschweine, die sie in der Nacht hinterließen, die Trampelpfade in den Wald zeigten. Wenn er die Hälfte des Weges geschafft hatte, brach in den dunklen Wintertagen die Dämmerung ein und bis er endlich daheim ankam war es bereits ganz finster geworden. Der Abend hatte etwas magisch schönes in diesen Stunden.
Auch an diesem Januartag verabschiedete sich Wilhelm von seinen Klassenkameraden, wünschte der Lehrerin einen guten Tag und machte sich auf den Weg durch den Wald. Die ersten Schritte führten über eine Steigung, die dann in einem ebenen Weg überging. Von hier aus sah man links und rechts Nadelbäume, deren dürre Stämme sich zu einem dichten Wald zusammenschloßen. Der Kiesweg war ein hauchdünner Grad durch den Wald, eine Grenze von Nord nach Süd, der sowohl von Mensch als auch Tier begangen wurde. Einige Meter in den Wald geschlichen, verdunkelte sich das Licht, das die Baumkronen auffingen. Die Luft wurde rein und frisch. Wilhelm packte seinen Schulranzen fest an seinen Rücken und atmete die Waldluft ein. Mit tiefen Zügen schloß er die Augen und genoß die Ruhe, die ihn willkommen hieß. Wilhelm kannte den Wald sehr gut und der Wald schien auch ihm freundlich gesinnt zu sein. So mancher Hirsch begegnete ihm schon auf seinen Wegen, als würde er ihn aus sicherer Ferne beobachten. Eine stille Freundschaft verband Willi mit dem Wald, dessen Anziehungskraft ihn nicht loszulassen schien. Oft erwischte er sich dabei, wie er den Bewohnern seine Probleme und Geheimnisse erzählte und auf eine leise Antwort wartete. Dann aber befahl er sich selbst etwas mehr Disziplin und Verstand, wie es sein Vater immer wieder sagte. Dass Willi oft zu solcher Tagträumerei aufgelegt war, tadelte sein Papa oft an ihm. Seine Lehrerin erkannte darin eine blühende Fantasie, die es auszuleben galt. Sie sei die Triebwerk jeder Kunst. Der Vater sah aber nur Firlefanz, der in Faulheit und Schwachsinn ausarten würde. Was Wilhelm dazu sagte, schien niemanden zu interessieren.
An diesem Nachmittag schien die Luft besonders rein und frisch. Bis auf einen kleinen Bach, der sein kühles Wasser plätschern ließ, war es komplett still im Winterwald. Willi hatte Durst, also ging er in Richtung des Wassers. Er fand den Bach nicht sofort, da der unter bewachsenen Moosdecken versteckt und nur zu hören war. Nach kurzem Suchen war der kleine Bursch bereits am Trinken. Hastig machte er tiefe Züge und größe Schlucke. Das Wasser war eisig kalt, doch sein Geschmack ließ Willi nicht los. So trank er sich den Magen voll, der ihm die Kälte jedoch nicht zu danken wusste. Als er sich sattgetrunken hatte, setzte er sich nieder und öffnete seinen Ranzen. Vorsichtig holte er ein Stück Apfel hervor, den seine Mutter am Morgen vorgeschnitten hatte. Mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht legte er das Stück neben den Bach. "Danke", flüsterte er leise, während er ehrfürchtig in den tiefen Wald sah. Dann stand er auf und begab sich weiter auf seinen Weg. Der Himmel hinter den Baumkronen schien bereits dunkelrot über Wilhelms Kopf. Er würde sich verspäten. Seine Beine legten ein schnelleres Tempo zu und sein Körper nahm eine gekrümmte Haltung ein, um das Gewicht der Schultasche besser verteilen zu können. Der Atem ging tief und laut. Kleine Aststücke zerbrachen unter seinen festen, braunen Winterstiefeln, die er vor einigen Wochen erst von Onkel Alfred geschenkt bekommen hatte.
Wilhelm hielt inne. Sein Atem stockte und er und horchte genau in den Wald. Ein Geräusch machte ihn aufmerksam. Da! Da war es wieder! Ein leises Rufen, als wäre es fern. Doch Wilhelm konnte hören, dass es ganz nah war und so blickte er verwirrt um sich. Als er sich zum zweiten Mal umdrehte, und ein "Hier" ganz deutlich hören konnte, wollte er seinen Augen nicht glauben. Kaum zwei Meter vor ihm, auf einem hellgrünen Mooskissen saß ein Männlein, zwei Daumen hoch, einen Daumen breit. Eine rote Zipfelmütze hing ihm schief ins Gesicht. Der plumpe Körper war in eine ebenso rote Latzhose gepackt an dessen unteren Enden winzige, schwarze Schuhe heraussahen. Er winkte Willi zu und rief noch immer "Huhu!". Mit offenem Mund ging der Junge ein, zwei Schritte hervor, blieb dann vor dem Kerlchen stehen und beugte sich in seine Richtung. "Na endlich!", sagte das Männlein mit tiefer, leiser Stimme. "Dachte schon, du siehst mich nie.", sagte er mit verschmitztem Lächeln im Gesicht. Wilhelm aber bekam seinen Mund nicht zu und sah ihn weiter verwundert an. "Na, jetzt entspann dich doch erst einmal. Ich dachte du wüsstest von uns Bescheid.", sagte der kleine Mann. Dann hielt er ihm die Hand entgegen und brummte: "Ich bin Janosch. Stellvertrender Waldmeister der Zwerge hier im Wald. Mein Bruder, Bernhard, ist gerade auf Besuch in den Süden gezogen, deswegen verwalte ich hier alles Organisatorische." Willi, der jegliche "Disziplin und Verstand" verloren hatte, gab dem Zwerg die Hand. "Willi", hauchte er leise. Janosch nahm seinen Daumen in beide Hände schüttelte sie in kleinsten Bewegungen so fest er konnte. "Es freut mich, dich kennenzulernen. Weißt du, wir sehen viele Menschen durch unseren Wald spazieren. Zumeist ignorieren sie uns, was sie natürlich erwidert bekommen. Manche aber werfen ihren Abfall in unsere Wohnungen, zerstören unsere Straßen und Gänge, schneiden den Bäumen die Äste ab und machen anderen Unfug. Ich möchte dir, im Namen aller Waldbewohner, für deinen Respekt danken." Ein ehrliches Lächeln machte sich in dem Zwergengesicht breit, dessen Backen nun zu dicken Beulen hochgezogen wurden. Wilhelm beruhigte sich allmählich. "Waldmeister? Janosch? Waldbewohner?", sagte er verständnislos. "Ich wusste nicht, dass ihr wirklich existiert. Vater sagt ihr -", da unterbrach ihn der kleine Herr mit einem lauten Brummer. "Was die Leute sagen, sollen sie sagen. Du aber, mein lieber Wilhelm, bist ein guter Mann! Du teilst nicht nur deine Sorgen mit uns, auch dein Essen überlässt du den hungrigen Bewohnern des Waldes. Wir haben seit langer, langer Zeit keinen so herzlichen Menschen begrüßen dürfen. Das ist der Grund, warum man uns als Fabelwesen abtun möchte. Wir halten uns von respektlosen Leuten fern. Wer hat denn heute noch Respekt vor uns?" Seine Augen schauten traurig in den Wald und blieben an einer dicken, alten Tanne stehen. "Ich freue mich über deine Worte.", sagte der kleine Bursche. "Aber mein Vater wird böse, wenn ich länger -." Janosch lachte leise auf. "Jaja, dein Vater.. Nun, mach dich auf den Weg! Erik, unser ältester Hirsch, wird ein Auge auf dich werfen, damit du problemlos nach Hause kommst." Als Wilhelm hinter sich sah, bemerkte er tatsächlich einen großen, prächtigen Hirsch, der auf ihn zu warten schien. So verabschiedete sich der Junge vom Zwerg und ging seinen Weg durch den alten, stolzen Wald, der sein großes Geheimnis mit dem kleinen Willi teilte.

Freitag, 2. Januar 2015

Fortschritt

Der Mensch hat sich die Welt letzendlich zu Untertan gemacht. Der technische Fortschritt steigt mit jedem Tag weiter an und es scheint kein Ende in Sicht. Wer vor einigen Jahrzehnten noch Briefe in größter Mühe und Sorgfalt verfasste, Kalligraphie seine zweite Seele widerspiegelte und über die größten Geheimnisse offenbarte - selbstverständlich nur jenem, der ihre Sprache verstand - sendet heute ein Mail von Mexico nach Australien in tatsächlicher Millisekundendauer.


Wir schreiben das Jahr 1454. Ein Mann namens Johannes Gensfleisch, in späteren Zeiten fälschlicherweise Gutenberg genannt, hält soeben seine erste gedruckte Bibel in der Hand. Stolz betrachtet er sein Werk im Licht der Kerzen, deren helles Flackern noch gute 300 Jahre unersetzlich für den Menschen sein wird. Dann erst wird die Petroleumlampe erfunden und die Kerze rückt langsam in den Hintergrund der Raumausstattung. Doch wie der Buchdruck bald revolutioniert und die von Gutenberg angewandte Methode unzählige Male verändert wird, so bleibt er - wie die Flamme der Kerzen - ein ewiger Lichtschein in der Geschichte der Menschheit. Johannes Gutenberg, dessen Name noch viele Jahrhunderte in Kinderstimmen durch Klassenzimmer gerufen wird, ist in diesem Moment unendlich stolz auf sich und sein Werk. Obwohl die abgedruckte Bibel in Latein verfasst ist, steht sie für Fortschritt, Zukunft und Technik. Gutenberg wird 1999 zum Mann des Jahrtausends gewählt.


Man könnte meinen, dass der Mensch sich im Laufe seiner Existenz weiterentwickelt und die Treppe der Evolution in großen, schnellen Schritten besteigt. Dem ist aber nur beim ersten Anschein so, denn wenn man die Situation näher betrachtet, so merkt man schnell, dass allein die Wissenschaft, Philosophie, Technik, sprich alles von Menschenhand geschaffene, weiterentwickelt wird. Der Mensch aber fängt in seiner Existenz auf der ewig selbigen Stufe an. Was einen Sumerer vor 5000 Jahren von einem englischen Kolonialherren oder Arthur Schopenhauer unterscheiden würde, würden die Herrschaften beieinanderstehen, wäre wahrscheinlich nur der technische Fortschritt, an dem sie sich bemessen könnten. Ihr Wesen, ihre Empfindungen, ihr Geist und die Gedanken wären naturgegebenermaßen die selben. Diese Erkenntnis sagt das vorprogrammierte Scheitern der Menschheit voraus - eines Tages übersteigt die technische Errungenschaft unseren Verstand.


Doch trotzdem ist man froh, in Zeiten wie diesen leben zu dürfen. Keine Generation vor uns konnte in Windeseile einen Bericht auf seinem Blog veröffentlichen, dessen Inhalt an allen Orten der Welt gleichzeitig gelesen wurde. Das birgt ein enormes, politisches Potenzial, das an Wahrheit, Transparenz und Demokratie gebunden ist. Aber auch Gefahren - besonders in eben undemokratischen Ländern und Regierungen - kann ein solcher technischer Fortschritt mit sich bringen. Letzlich aber steht diese Entwicklung für die Gleichheit aller Menschen auf dieser Erde - die Erfindung des Internet mit Computern und dem anderen hochtechnologisierten Krimskrams wird wahrscheinlich eines Tages die Erfindung des Jahrtausends.



Euer Wolferl

Das Rauchen

Rein objektiv betrachtet ist es beinahe schon peinlich, sich in einer Situation der Nikotinsucht zu befinden. Seit Kindheitstagen an sehen wir unsere Umwelt an den Lasten des Glimmstängels leiden. Großväter und Großmütter sind dem Lungenkrebs einige der unzähligen Opfer geworden, der Raucherhusten unserer Tanten und Onkel, oder noch schlimmer - unserer Eltern - steigt in den alten Erinnerungen an die Schulzeit unwiderruflich hervor. Trotzdem ist Österreich Rangführer der jugendlichen Raucher in der EU - mit einem traurigen Anteil von 27%.


Das neue Jahr bricht an! 2015 ist nun einige Tage alt und hat dem einen oder anderen guten Vorsatz schon das Leben gekostet. Gerade in den ersten Wochen werden die meisten Köpfe in den Sand gesteckt. Mit der Zeit wird auch die Motivation gestärkt und so steigt die Kurve der Erfolge immer höher an. Wer mit dem Rauchen aufhören möchte, sollte sich bereits die einen oder anderen Tipps besorgt haben! Denn aller Anfang ist schwer.Das schreibe ich aus harter, eigener Erfahrung. Im Sommer 2014 habe ich nach 4 Jahren letzendlich der Zigarette auf Niemehrwiedersehen gesagt - ohne Hilfsmittel oder Rückfälle. Man soll aber nicht behaupten, dass das Wolferl ein Gelegenheitsraucher war. Das Gegenteil ist der Fall, am Ende waren es sicherlich 2 Packungen, sprich 40 Zigaretten, am Tag.


Ein Jeder hat seine eigene Strategie entwickelt, mit dem Rauchentzug umzugehen. Während so mancher das Verlangen nach oraler Befriedigung versucht mit Essen zu stillen, findet ein anderer den Adrenalinkick im Sport. Obwohl zweitere Methode mit Sicherheit gesünder ist, ist ein Rückfall hart und bestraft den ohnehin schon schwachen Geist mit Selbstverurteilungen und einem Motivationstief. Aber Aufgeben sollte nie als Konsequenz eines Fehlers betrachtet werden, und so höhlt steter Tropfen den Stein - beim zweiten, dritten oder vierten Anlauf funktioniert es!


Mit Sicherheit waren die ersten drei Tage wohl die härtesten Tage des Jahres - sie sollten perfekt geplant und vorbereitet sein! Ein Ausflug in die Natur bietet sich als gesunde Möglichkeit an. Das bringt einen auf andere Gedanken und lenkt vom Stressgefühl ab - ehe man sich versieht, ist der erste Tag vergangen und die Motivation ist um ein Vielfaches gestiegen. Nach den drei Tagen hat sich sämtliches Nikotin im Blut aufgelöst und ist nicht mehr vorhanden - von da an hören die körperlichen Entzugserscheinungen wie Schweißausbrüche, Zittern und innere Unruhe (die sich übrigens in Krampfzustände zuspitzen kann) auf und der psychische Kampf geht weiter.


Wirklich rauchfrei ist man wohl nie. Das habe ich von einem ehemaligen Raucher gehört, der 15 Jahre suchtfrei lebt und noch immer an alte Gewohnheiten denkt und "die eine oder andere Zigarette zur passenden Situation" vermisst. Das kann ich nun, an meinem 180. Tag, nachvollziehen - auch mir geht es noch so und würde mich mein Stolz nicht davon abhalten, so würde mein Kopf doch oft ja sagen.


Ich wünsche der deutschsprachigen Internetgemeinde ein schönes Jahr 2015 und allen, die sich das Aufhören vornehmen, viel, viel Erfolg!



Mit freundlichen Grüßen,


Euer Maxerl