Montag, 7. März 2016

Der Schmächtige

Ein warmer Windhauch streifte durch die noch düster wirkenden Straßen, deren Antlitz menschenleer und trostlos erschien. Keine Menschenseele verließ das Haus an diesem kühlen Samstagmorgen zu solchen Zeiten, schon gar nicht in einer noblen Gegend wie dieser, wo jede Hausfassade mit feinen Verzierungen geschmückt war und kein Fenster schwere Vorhänge vermissen ließ  – und obwohl das wilde Treiben der Arbeitstüchtigen am Rande der Außenbezirke bereits begonnen hatte und die Mittagspause schon bald in mächtigen Sirenen eingeläutet werden sollte war hier, im innersten Teil der Innenstadt, keine Mühe zu vermerken. An der Mündung der langen, einsamen Straße verlief eine der größten Einkaufsstraßen der Stadt und so konnte man, wenn man dieses Eck beobachtete, die vorüberrauschenden Massen an chinesischen und arabischen Touristen sehen, die sich mühevoll und voller Erwartungen an den Straßenampeln stauten. Nur wenige Meter entfernt von dieser chaotischen, schon beinahe störenden Atmosphäre des Einkaufswahns und der Besichtigungswut, lag die selige Ruhe der städtischen Noblesse.

Es dauerte noch einige Zeit bis die ersten Geschäftsmänner die prächtigen Hotelpforten verließen und in ihre bereits vorgeparkten, polierten schwarzen Limousinen einstiegen, um zu den wichtigen Weltkongressen chauffiert zu werden. Ein dicker Herr flanierte in gleichgültigem Schritte über den roten Teppich und achtete kaum auf den Mann, der ihm die Tür zur Edelkarosse aufhielt. Mit kaum bemerkbarer aber dankbarer Geste nickte der Dicke dem Chauffeur zu bevor er seinen massigen Körper mit eingeübter Technik in die Limousine verfrachtete.

Just in dem Moment der Abfahrt stolperte ein kleines Männlein vor die Glastür des Nobelhotels. Seine Arme und Beine wirkten in der sommerlichen Kleidung wie Strohhalme, sein gesamter Oberkörper glich dem eines hochgewachsenen aber noch unreifen Kindes, während die spitz zulaufenden schwarzen Lackschuhe von großen Füßen zeugten. Kantige, spitze Backenknochen schossen aus seinem Gesicht hervor und umrahmten den eigenartigen, verwirrt wirkenden Blick des Mannes. Schwarzbraune Locken wirbelten sich über seinem Haupt zu einem hohen Haarknäuel zusammen, dessen Schmäle die stark ausgebildeten Geheimratsecken kundtat. Ratlos blickte er um sich und stieß einen unbeeindruckten Seufzer von sich. Sichtlich enttäuscht schritt er weiter seines Weges. Sein Gang folgte einem unregelmäßigen Takt, in dem er seine Beine quer übereinander schlenkerte während die Arme lotterig von seiner Schulter wie halb abgebrochene Äste herunterbaumelten. Zu seinem Glück waren sie fest an seinen Körper angewachsen, sonst wären sie ihm bei jedem rhythmischen Ruck plump auf den harten Asphalt gefallen. In dieser Art und Weise schritt der Mann seinen Weg. Kaum war er einige hundert Meter gegangen, wurde er plötzlich mit einem harten Ruck nach hinten geworfen. In dem verschreckten Moment des Augenblickes sah er eine Brille an seiner Schulter vorübergleiten während sein Kopf, fest in den Nacken gepresst, dem hellblauen Himmel und seinen kleinen, vereinzelten, schneeweißen Wölkchen entgegenblickte. Sein Rücken prallte ungeschützt auf den harten Beton des Gehsteigs auf und drückte sämtliche Luft aus dem dürren Körper des Mannes. Ein schmerzerfüllter Laut drängte sich durch seinen zusammengebissenen Mund und das schreckhafte Zusammenzucken seiner Arme ließ ihn auf die Seite wälzen.

Als sich seine zusammengepressten Lungen wieder mit frischer, kalter Luft füllten, sah er einen großen Mann mit braunem Aktenkoffer in der Hand vor sich stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis der Angerempelte den kleinen Mann am Boden wahrnahm und sich schließlich in tiefer, brummender Stimme und wutverzogener Grimasse über diesen entrüstete. „Pass auf, Krüppel, du schircher.“, sagte dieser mit erhobener breiten, behaarten Hand, die er zu einer gewaltigen Faust formte und mit drohenden Geste schwenkte. Er hob seine Brille auf und hielt sie gegen die Sonne. Tiefe, weiße Risse waren durch die beiden runden Gläser gezogen. Wortlos stampfte der Mann seinen Weg durch die Fußgängermassen weiter. Immer tiefer tauchte er in die wirren Ströme von Menschen ein und bevor der Schmächtige erneut zu sich kam, konnte jener schon im Trubel des frühen Nachmittages entschwinden.
Krüppel, schircher, klang es immer wieder, in nicht enden wollenden Wortschleifen in seinem Kopf. Der scharfe Ton des Mannes, die drohende, mit Haaren überwucherte Faust und der penetrante Geruch seines Rasierwassers bildeten eine giftige Wolke von Eindrücken in den Gedanken des Schmächtigen und fraßen sich mit ätzenden Schmerzen tief in sein Bewusstsein. Noch immer starrte er wie angewurzelt in den Himmel, wartend auf ein Wunder, eine Zeitverschiebung, die ihm diese Situation ersparte und rückgängig machte und niemals wieder geschehen ließ. Aber sie blieb aus und er blieb auf dem Boden zurück. Inmitten zahlloser Menschen lag er verlassen und einsam am kalten Asphalt, wie eine heruntergefallene Zeitung, deren Wert es nicht erforderte sie noch einmal aufzuheben. Schließlich regte sich etwas in ihm. Ein leichtes Ziehen breitete sich in seinem Kiefer aus, ein kaum merklicher Druck, der seine Zähne aufeinander presste, immer stärker anschwoll bald schon die breiten Kieferknochen aus seinem Gesicht herausragen ließ, die, umspannt von dicken Sehnen, der gewaltigen Kraft des Bisses standhalten mussten. Der Krampf zog in den Hals über den Nacken und den Rücken, wo er schließlich in den Füßen und Händen mündete und schließlich zitterte der Schmächtige mit allen Muskeln seines Körpers. Er spürte alles an sich herabgleiten, fühlte sich schwebend in infernaler Höhe, fliegend, sausend, eilend, jagend durch die Sphären der zersetzenden Bitterkeit, bis er schließlich mit rasender Wucht in einen Zustand des brodelnden Hasses eintauchte. Abscheulicher Groll schwoll aus seinen Augen hervor und breitete sich in seinem Gesicht aus. Noch bevor der dürre Mann seine erste Bewegung gemacht hatte stand ein Gedanke fest verankert, ein Gedanke, ein Verlangen, ein heißer Wunsch, der tief in seinem Kopf brannte und nicht mehr gelöscht werden konnte – Rache. 

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