Brauner Cockerspaniel.
Du fehlst.
Rotes Feuerwehrauto.
Du fehlst.
Fröhliche Kinderlieder.
Du fehlst.
Miniatur-Sammelfiguren.
Du fehlst.
Krautflecken und Eiernockerl.
Du fehlst.
Takt der Pendeluhr inmitten lautloser Stille.
Du fehlst.
Goldenes Kreuz - dahinter ein Buch von Johannes Paul II.
Du fehlst.
Engelfiguren aus Porzellan.
Du fehlst.
Dein seliges Lächeln.
Du fehlst.
Ein Grab. Ein Kreuz. Ein Engel aus Porzellan.
Du fehlst.
Donnerstag, 17. Dezember 2015
Mittwoch, 17. Juni 2015
Der Schriftsteller
In diesen Monaten nannte
ich nicht mehr als ein paar Hosen, zwei, drei Hemden und mein abgetragenes Paar
Schuhe mein Eigen – aber mehr verlangte ich vom Leben nicht. Ich war glücklich
mit dem Zustand dieser absoluten Freiheit – tatsächlich spürte ich die guten
und schlechten Seiten und Zeiten dieses Umstandes. Eines Abends, ich saß wie so
oft an den Stufen des Burggartens und schrieb die Geschichten meiner Fantasie
aufs Papier, da kam eine alte Dame an mir vorbei. Ich sah sie von meinem
Augenwinkel aus, beobachtete sie, wie sie mich wohl beobachtete. Interessiert
setzte sie sich nach einer Weile zu mir und blickte mir, unverschämt wie sie
war, in meine Notizen. „Was schreiben Sie denn da?“, fragte sie höflich aber
bestimmt. Mein Blick verriet ihr wohl nicht genug und so fragte sie abermals:
„Nun sagen Sie schon, was schreiben Sie denn hier?“ So verrückt ich ihre Frage
fand, so bestürzte sie meine Antwort darauf. „Was, Sie schreiben hier
Geschichten?“, quiekte sie vor Entsetzen. Ich musste lachen, bat die
edle Dame jedoch sofort um Verzeihung, ich hätte schon viele Reaktionen erlebt,
sagte ich ihr, aber solch ein Entsetzen hatte ich mit meinen Geschichten noch
nie ausgelöst. Sie fragte mich, wie alt ich denn wäre, als wäre das Schreiben
von Geschichten eine Kindesangelegenheit. Die Frage warf ich natürlich zurück,
worauf ich eine enttäuschte Mine als Antwort zugewandt bekam. Sie kam
regelmäßig vorbei, und so lernten wir uns in diesen sonnigen Tagen kennen. Ich
nannte sie Frau Fuchs, aufgrund ihres Fuchsfelles, das sie stets als Schal um
ihren faltigen Hals geschwungen hatte. Ihren echten Namen hatte sie mir nie
genannt, vielleicht hatte ich ihn jedoch erraten – ich habe es nie erfahren.
Frau Fuchs war meine fleißigste Leserin – hätte ich mehr Menschen wie sie
begeistert, ich hätte in diesen Wochen ein Obdach gehabt. Nun, Frau Fuchs
wusste wahrscheinlich nicht um meine Situation, und so sprach sie stets in
guten Tönen von mir, eine positive Kritik inmitten der schweren Zeit, die mich
stark aufzubauen wusste. Tatsächlich, unsere Bekanntschaft war etwas ganz
besonderes.
An den wärmeren Tagen
hatte ich meinen Spaß im Stadtpark, wo ich mich auf abgeschiedene Plätze setzte
und den Leuten zusah. Sie taten oft nichts besonderes, meist saßen sie auf
einer Parkbank und plauderten über dieses und jenes. Genau daraus bestand der Stoff,
der die Menschen entzückte und bewegte, entbrannte und mit sich fortriss. Mit
der Zeit lernte ich die Leute kennen, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu
haben. Ich erfand für jede Person eine Geschichte, die ganz auf meine
Vorstellungen von ihr zugeschnitten war. Eine Dame, zum Beispiel, war für mich
eine gutverdienende Geschäftsfrau, die mit allerhand wichtigen Staatsmännern
telefonierte und konsequenzreiche Entscheidungen zu treffen hatte. Die
Vorstellung hatte ich mir natürlich nicht einfach so aus den Fingern gesogen:
Wann immer ich sie sah, saß sie nervös auf einer Bank und telefonierte. Mit
ihrer rechten Hand fuchtelte sie wild umher und schien damit ihre berufliche
Prägnanz zum Ausdruck bringen zu wollen. An manchen Tagen saß ich in akustischer
Reichweite und konnte ihre Stimme vernehmen – sie klang angespannt
und hektisch. Für mich war sie eine starke, große Person, die mit
beiden Beinen im Leben stand und viel Verantwortung trug. In dieser einen
Hinsicht hatte ich schlussendlich recht: Nach einigen Monaten erfuhr ich von
einer Passantin nach einem langen Gespräch, dass die imaginierte Geschäftsfrau
Mutter von drei Kindern war – die Gespräche fanden mit ihrem heutigen Exmann
statt.
Wenn man auf der Straße
lebt, lernt man gezwungenermaßen viele Menschen kennen – es kommt auf das
eigene Geschick an, diese Bekanntschaften zu nutzen. Der eine mag sie für eine
finanzielle Bereicherung gebrauchen, der andere sieht in ihnen neue
Freundschaften und Vertrauenspersonen. Ich hatte stets nach den Geschichten der
Menschen gefragt. Wann immer ich die Möglichkeit hatte mit jemandem zu reden
bat ich ihn mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Man erzählte gern von sich
selbst – manche waren stolz auf ihre Taten, und manche schämten sich gar –
erzählen wollten sie aber alle. Wichtig war es in diesen Situationen offen und
ehrlich zuzuhören. Ich versuchte mich in die Rolle des Erzählenden zu bringen,
so, dass ich die Bilder der Geschichten vor meinem inneren Auge zu sehen bekam.
Jedes Mal fühlte ich mit den Menschen und lachte oder weinte mit ihnen. Es war
selbstverständlich, mich bei ihnen zu bedanken und ihnen mit Rat zur Seite zu
stehen. Oft entstanden längere Bekanntschaften und bald schon war ich eine Art
Sensation des Stadtparks, der Stadtparkschreiber. Aber nicht nur die Besucher
des Parks beanspruchten meine Aufmerksamkeit, auch die Bewohner weckten mein
Interesse. Vögel, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Enten und ab und zu kam sogar
eine Hauskatze auf Nachtbesuch. Wahrscheinlich wusste ihr Besitzer nichts vom
Ausreißen des getigerten Freundes und so machte sie sich gelegentlich auf die
Suche nach Mäusen und Vögel. Das Geheimnis dieser Katze mit ihr zu teilen
bereitete mir ein großes Vergnügen und so beobachtete ich sie oft beim Jagen
und Spielen. Eine meiner lebhaftesten und lustigsten Geschichten handelt von
genau dieser Katze.
Oft fragten mich die
Leute, warum ich das Dasein als Obdachloser einem normalen, geregelten Leben
vorziehen würde. Ich musste ihnen immer wieder erklären, dass es nicht meine
Entscheidung gewesen war, im Freien zu leben – viel mehr fehlte mir die
finanzielle Unabhängigkeit, um mir einen Wohnplatz anmieten zu können. Manche
Menschen baten mir daraufhin einen Schlafplatz bei ihnen an – ich
lehnte ihre Angebote stets ab. Das lag nicht etwa an Furcht oder Unsicherheit –
viel mehr wollte ich meinen anspruchslosen Lebensstil nicht verlieren.
Spätestens an dieser Stelle schüttelten alle Menschen ihren Kopf: Wieso ich ihr
Angebot ablehnte, einen freien Wohnplatz zu bekommen, wenn ich doch gerne ein
Heim hätte, das konnten sie nicht nachvollziehen. Sie wollten nie verstehen,
dass ich mich hier wohl fühlte, und meinen Schlafplatz als einen gerechten
Platz empfand. Mehr brauchte ich hier nicht zum Leben – ein paar Euros bekam
ich täglich, nicht durchs Betteln, ich schrieb kurze Geschichten und bat sie
zum Verkauf an. Die Leute dankten es mir mit milden Gaben – bis zu fünf Euro
bekam ich für eine zehnseitige Geschichte. Mein Leben war gut und ich erinnere
mich gerne an diese Tage zurück, die ein fester Teil meines Lebens gewesen
waren.
Dann, als der Winter
einbrach, musste ich mir eine Bleibe suchen. Das Schicksal wollte mir einen
rechten Haken verpassen, also fand ich keine Verdienstmöglichkeit und musste,
beinahe mittellos, in ein Obdachlosenwohnheim ziehen. Die Betten wurden jeden
Tag neu vergeben, ich musste mich bereits früh anstellen – viel Zeit ging in
diesen Wochen verloren. Ich lernte wieder viele neue Leute kennen: Herr
Gabriel, beispielsweise. Er war in etwa so alt wie ich und dem Alkohol verfallen,
aber kein Mann auf dieser Erde konnte sich eines besseren Humors behaupten.
Wenn jemand im Zimmer schlechte Laune hatte, wusste er sie ihm sofort
auszutreiben, vorausgesetzt der Alkoholpegel entsprach seinen
Mindestanforderungen. Der Herr Gabriel war eine gute Seele, die viel zu früh
von uns ging. Aber so ist das, Leute gehen, Leute kommen. Eines Morgens, ich
war bereits wach uns schrieb an einer Kurzgeschichte, wachte Herr Gabriel neben
seiner Flasche Wodka auf und fragte mich, warum ich erfundene Geschichten auf
leeres Papier schreibe; immerhin wäre es um die Tinte schade, weil das nie
jemand zu Gesicht bekommen würde. Als ich ihm dann entgegnete, dass es mein
Wunsch wäre, Menschen mit meinen Geschichten zum Lachen zu bringen, schnappte
er sich eine meiner Geschichten und fing an zu lesen. Als ich ihm beim Lesen
beobachtete, konnte ich sein seliges Lächeln sehen – es war ein ehrliches,
erfreutes Lächeln. Dieser kurze Augenblick hatte all den Strapazen in dieser
Zeit einen hohen Wert gegeben.
Mittlerweile lebe ich
ganz gut von meinen Geschichten – ich kann mir eine regelmäßige Miete leisten
und muss keinen Hunger leiden. Ehrlich gesagt ist dieser Lebensstil für mich
purer Luxus und ich finde es schade, ihn mit niemandem teilen zu können. In den
wärmeren Monaten setze ich mich fast täglich in den Burggarten, direkt auf die
Stiegen, wo ich schon in früheren Zeiten gesessen bin. Ich sehe den Leuten zu
und schreibe ihre Geschichten nieder. Frau Fuchs ist gestorben und so auch Herr
Gabriel, aber sie spiegeln sich in meinen Texten wider und bringen so dem einen
oder anderen Leser ein weiches Lächeln auf die Lippen. Ich habe kein großes
Lebensziel, keine Visionen oder Friedensträume. Ich bin und bleibe stets der
arme Schriftsteller mit zwei, drei Hemden, einer alten Militärjacke und meinem
abgetragenen Paar Schuhe. Wenn Sie mich einmal auf der Straße sehen, sitzend
oder stehend, schreibend oder denkend, seien Sie so nett und erzählen Sie mir
Ihre Geschichte. Ich werd’s Ihnen danken.
Montag, 15. Juni 2015
Opa Dorsch
An der weißen Veranda saß ein zitternder Mann im
Rollstuhl. Seine Augen waren mit dem Alter trüb geworden, seine Haut hing in
tiefen Falten herunter und dunkle Flecken breiteten sich über seine Arme und
Hände aus. Doch sein Lachen, das war jung und ehrlich geblieben, wie das eines
Kindes. Herr Dorsch war bereits 97 Jahre alt, oft aber behauptete er, er wäre
erst 57, oder an manchen Tagen, wenn ihm die gute Laune bis in den Kopf stieg
und sich in einem breiten Lächeln zeigte, da war er sich sicher, noch keine 30
zu sein. Aber das Alter spielte beim alten Dorsch eine untergeordnete Rolle –
wer immer zu ihm kam, der wurde mit Respekt und Charme vom ehemaligen
Geschäftsmann empfangen. Er wohnte in einem privaten Pflegeheim, unweit eines
großen Waldstückes, wo die Bewohner in den warmen Monaten den Bäumen und seinen
Bewohnern zusahen – erst im Alter fing man an, den ewigen Kreislauf des Kommen
und Gehens zu verstehen. So saß Herr Dorsch gerne im Grünen, so wie eines Tages
auch, als sein Urenkel, Sebastian Dorsch, ihn besuchen kam. Man muss an dieser
Stelle wissen, dass Herr Dorsch nur ungern mit seinem Vornamen angesprochen
wurde – das hatte persönliche, aber auch gesellschaftliche Gründe. An diesem
Frühlingstag also, begrüßte Dorsch seinen Urenkel, den Studenten und schloss
ihn in die Arme. „Groß bist du geworden“, sagte Dorsch mit hochgezogenen
Brauen. „Ja, 23 werde ich dieses Jahr“. Sebastian lächelte ihn an. Dorsch sah
Sebastians Nadelstreifanzug an – „Ach, geschäftlich unterwegs?“ „Nein“, sagte
Sebastian, „So geht man einfach ins Studium, heutzutage.“ Der alte Mann
betrachtete seinen Urenkel eine kurze Weile, bis er seinen Mund schloss und die
Aussage einfach abnickte. „Hast wohl recht, Bursche.“
Eine Pflegerin kam den Waldweg entlang spaziert. Sie war
nicht älter als Sebastian und trug eine beige Schürze um die Jeans geschnürt.
Mit großen, vorsichtigen Schritten versuchte sie den kleinen Wasserlacken
inmitten der weißen Blütenlandschaft auszuweichen. Sie stellte sich sehr
tollpatschig an und als Sebastian ihren ausbalancierten Gang sah, konnte er
sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bianca“, empfängt sie der alte Mann mit
freudigem Strahlen im Gesicht. Als er ihr genauer ins Gesicht sah, konnte
Sebastian sicher sein, dass sie noch keine 25 war. Sie hatte seinen Blick
bemerkt und sah zu ihm herüber als sie sagte: „Maria, ist mein Name, Herr
Dorsch. Was darf ich Ihnen und ihrem Enkel denn bringen?“ – „Urenkel“,
unterbrach sie der Dorsch mit Stolz in seiner Stimme. „Also ich hätte gerne
einen Apfelsaft, wenn’s sein darf.“ „Für mich bitte das selbe.“, fügte
Sebastian schüchtern hinzu. Maria lächelte freudig ihn an, nickte artig und
machte sich auf den Weg zurück ins Altenheim. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“
Die dicken Lippen des Greises formten sich zu einem runden Kussmund. „Opa
Dorsch!“, ermahnte ihn sein Urenkel lachend. „Nein, nein, ist doch kein Problem“,
entgegnete ihm der Greis. „Bin zu deiner Zeit auch allem nachgejagt. Das liegt
den Männern einfach im Blut, glaub mir das.“ Doch Sebastian war viel zu
schüchtern, um weiter auf das Thema einzugehen und so füllte eine kurze Pause
der Stille den Ort. Erst jetzt bemerkte Sebastian die selige Ruhe, die diesen
kleinen Fleck inmitten des Waldes umhüllte. Vereinzelt hörte man Vögel
zwitschern und von Weitem konnte man das Lachen alter Menschen vernehmen. Der
Wind säuselte in einer vertrauten Melodie in Sebastians Ohren und umhüllte die
beiden Herren am Tisch der Familie Dorsch.
Maria kam bald wieder und stellte den Apfelsaft auf den
Tisch. „Darf ich sonst noch etwas tun?“, fragte sie die beiden Herren, ohne
dabei Sebastians Blick zu beachten. „Naja, also wenn Sie so fragen, Gnäd’s Fräulein“,
begann der alte Mann zu lächeln, „Mein Enkel, der Sebastian, ist ein
aufgeweckter Bursche, müssen Sie wissen. Ich glaub, dass er ein wenig Gefallen
an Ihnen findet, Sie verstehen?“. Sebastian sah verkrampft zum Boden und
spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anstieg. Maria aber, schien mit der
Situation besser umgehen zu können. „Er scheint ganz nach seinem Opa zu kommen,
zuvorkommend und herzlich.“, entgegnete sie ihm schmunzelnd. „Uropa.“,
verbesserte sie der alte Dorsch mit erhobenem Zeigefinger. Sebastian fing
Marias Blick auf und verlor sich in ihren großen, braunen Augen – Gefühle der
Glückseligkeit schossen ihm vom Bauchnabel in den Kopf. Er sah ihr Lächeln, er
wusste, dass es ihm galt, doch sein Gesicht war wie gelähmt und so blickte er sie
mit erstarrter Mine an. „Also mir tut der Rücken schon wieder weh, ich sollte
mich etwas hinlegen.“, sagte Dorsch mit zugezwinkertem Auge zu Sebastian. „Was
du willst schon gehen?“, fragte ihn sein Urenkel geschockt. „Mach dir um mich
keine Sorgen.“, sagte der Mann mit herzlicher Mine. „Hast doch eine gute
Bekanntschaft gemacht. Am besten setzt ihr euch zusammen und lernt euch erst
einmal kennen. Ich finde sie nett!“ Sebastian sah Maria schüchtern an und
spürte ihr Lächeln in seinem Herzen. Herr Dorsch verabschiedete sich mit einer
festen Umarmung. „Wünsch dir was,“ seine Worte klangen ehrlich und warm. Während
Opa Dorsch über den Waldweg zurück ins Heim geschoben wurde und weiße
Apfelblüten in seinen Schoß fielen, setzte sich Maria zum weißen Tisch, wo sie
sich dem gutaussehenden Sebastian noch einmal vorstellte.
Herr Dorsch starb die Woche darauf – er hatte Sebastian
nicht wieder gesehen. Die Beerdigung war düster und traurig. Während die
engsten Familienangehörigen weinten, standen Freunde, Bekannte und mögliche
Erben abseits und blickten bekümmert auf den großen, dunklen Eichensarg.
Sebastian ergriff Marias Hand, als der Sarg in die Erde herunterfuhr. Die
Trauerrede seines Onkel Konstantin trieb ihm und auch seiner Freundin warme
Tränen über die Backen. Als alle gegangen waren und auch der Priester Abschied
genommen hatte, stand Sebastian noch einmal vor Opa Dorschs Grabstein. Bedacht
fuhr er die eingravierten Buchstaben nach. Erinnerungen spiegelten sich in
seinen Gedanken wieder und so sah er in den Himmel und schickte ihm einen
stillen, dankbaren Gruß. Maria stand auf dem hellen Kiesweg und ergriff seine
Hand, als er auf sie zukam. „Eines hätte er nicht gewollt“, sagte Sebastian, und
warf einen letzten Blick auf den Marmorstein. Als Maria ihm einen fragenden
Blick zuwarf, da fügte er hinzu: „Dass man seinen Vornamen dran schreibt. Ich
glaube Opa Dorsch hätte er lieber gehabt.“ Beide lächelten kurz, und dann
verließen sie das Grab des 97 jährigen Adolf Dorsch, das von Apfelbäumen
umgeben war.
Sonntag, 14. Juni 2015
Junge Liebe
Es war ein edler
Altbau in dem er wohnte, mitten im Herzen der Stadt. Sie öffnete die große,
weiße Flügeltür und fand sich in einer Wohnung, die mit ihrem prächtigsten Traum
nicht mithalten konnte. Der Vorraum war ausgeschmückt mit Portraits von
Caravaggio, seinem absoluten Lieblingskünstler, wie er ihr als Erklärung
gestand. Sie ging auf dunkelbraunem, feinst geschliffenen Parkettboden, der
sanft und leise knarrte und jeden ihrer Schritte einladend begrüßte. Er führte
sie in sein Schlafzimmer, das größer war als das Wohnzimmer ihres Elternhauses.
Sanfte Küsse spürte sie an ihrem Hals, zarte Hände berührten ihre Taille. Sie
fand keinen Grund sich zu wehren, keine Ausrede für eine Flucht, denn er war
ihr vertraut und nahe wie kein Mann zuvor. So gab sie sich ihm hin, dem Mann,
der ihr Herz erobert hatte, der an einem einzigen sonnigen Nachmittag
vollbrachte, was so viele vor ihm Monate und Jahre vergebens versucht hatten. Am
nächsten Morgen wurde sie von Sonnenstrahlen geweckt, die sanft und warm auf
ihren roten Backen tänzelten. Sie fand sich blütenweißer Bettwäsche, auf einem
großen Bett in dem gigantischen Schlafzimmer. Als sie ihn nicht finden konnte,
durchwanderte sie die ganze Wohnung. Sie blickte in jede Ecke und hinter jede
Tür, doch sie fand nur leere Zimmer, lange Gänge und antike Einrichtungen. Ein
Gefühl der Unsicherheit durchbrach ihre innere Ruhe. Was war geschehen und wo
war der Mann, der ihr Herz in Windeseile erobert hatte? Sie wurde immer nervöser,
spürte ihre Hände zittern suchte nach ihm wie im Wahn aber konnte ihn nicht
finden. Angst durchfloss ihren Körper und so packte sie ihren Rucksack und
schritt durch das große Vorzimmer, vorbei an den Gemälden, vorbei an der
Flügeltür, hinaus ins Treppenhaus.
Als sie in
die enge Gasse heraustrat, überfiel sie ein Schwindelanfall. Sie musste sich an
der Kalkwand abstützen, um nicht auf die kalten, harten Backsteine zu fallen.
Sie atmete tief und schwer. Tränen fielen zu Boden und verfärbten die Steine in
dunkelblaue Quadrate. Lautes Schluchzen ertönte in der Gasse, es war ein
Schluchzen, das von Verzweiflung, von Hass und von Trauer sprach. Sie war
allein gelassen, von dem Mann, dem sie ihre Unschuld schenkte, unbedacht und
spontan, wie sie sonst nie gewesen war. Ihr Magen wurde schwer und wäre er
nicht leer gewesen, so hätte sie alles herausgebrochen. Nach Momenten der
Trauer und Einsamkeit verfiel die junge, zerbrochene Schönheit in Wut. Sie
stampfte die Gasse entlang, ging zum Stephansplatz, setzte sich auf die
Marmorbank, auf der sie gestern ihren Stolz und ihre Würde verloren hatte. Sie
saß, einsam und verlassen, einige Weile auf der Bank und beobachtete die
Touristen, die nach billigen Attraktionen Ausschau hielten. Das Geld, das sie
zusammengespart hatte würde für einige Tage reichen, also fuhr sie mit der
U-Bahn zurück zum Westbahnhof und mietete sich im billigsten Hotel der Stadt
ein kleines Zimmer. Hier war sie allein, hier war sie sicher vor Blicken und
Sprüchen, vor der Scham, die sie überkam wenn sie an die letzte Nacht dachte. Sie
zwang sich ein Sandwich zu essen und betrank sich am Abend mit billigem
Rotwein. Es dauerte nicht lange, bis sie vor dem flimmernden Fernseher
einschlief.
Die
Wohnungstür war nicht ins Schloss gefallen und stand einen Spalt breit offen.
Er stellte die Einkaufstasche auf den blanken Eichenholzboden und schloss hinter
sich ab. Er ahnte nichts, als er ins Schlafzimmer trat und das verlassene Bett
vorfand. Sie hätte es zwar ausschütteln und herrichten können, doch er würde
nicht Kritik an ihr üben. Im Supermarkt wurde ihm bewusst, wie viel er bereits
von ihr wusste –so hatte er den Schinken wieder zurückgelegt, da sie am
Vorabend über ihre fleischlose Ernährung erzählte – also entschloss er sich
dazu, ein Frühstücksei mit Käsebrot und Müsli zu servieren. Er begab sich in
die Küche und begann damit, die Eier zu kochen, das Müsli in die Schüsseln zu
streuen und die Brote zu schmieren. In Gedanken war er bereits bei ihr,
kuschelte sich an ihren schönen Körper und flüsterte ihr sanfte, liebevolle
Worte ins Ohr. Während er das Tablett mit tanzendem Schritt in das Schlafzimmer
brachte, erfreute er sich an der Vorstellung den ganzen Tag mit dieser
Schönheit verbringen zu werden. So machte er das Bett und wartete artig auf das
reizende Mädchen, das ihm seit der Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen
wollte. Während er unruhig an der Bettwäsche zupfte, dachte er noch einmal an
den vorigen Tag nach. Ursprünglich wollte er seinen besten Freund am Flughafen
abholen, der von einem dreimonatigen Trip aus Brasilien zurückgekehrt war, doch
kurz vor dem Gate an dem er seinen Kumpanen erwarten sollte, machte er kehrt
und folgte ihr. Er verpasste ihren Bus um Haaresbreite. Verzweifelt hatte er
die Suche bereits aufgegeben und begab sich mit müdem Schritt nach Hause. Am
Stephansplatz jedoch erblickte er sie wieder, unübersehbar in der Menge
strahlte das Mädchen, das ihm alle Gedanken geraubt hatte. Ein Glück, dass er
sie gefunden hatte, dachte er sich nun mit zufriedenem Lächeln. Sie war schon
lange im Bad, also wollte er anklopfen, nach ihr fragen und einen schönen,
guten Morgen wünschen. Doch seine Worte blieben unbeantwortet. Als er die
Türklinke herunterdrückte, bemerkte er, dass auch das Bad leer war.
Samstag, 13. Juni 2015
Die dunkle Bar
Das weichgescheuerte Thekenholz fühlte sich beinahe wie
Glas an, als Tom mit seiner rechten Hand darüber fuhr. Unzählige Getränke,
Münzen, Kreditkarten und Zettelchen mit aufgekritzelter Telefonnummer wurden
hier im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgetauscht – die Bar war Zeuge so
mancher Ehe, Scheidung und Affäre geworden, und doch schwieg sie, voller Geduld
und Verständnis für den Erzählenden. Seit fünf Jahren kam Tom beinahe jeden
Abend in diese kleine Cocktailbar im Zentrum der Stadt. Während sich neben der
Eingangstür junge Frauen und Männer auf den abgewetzten Sofas niederließen,
bevorzugte er den hohen Barhocker und das gleichmütige Gesicht des Barmannes,
der zugleich Besitzer des Lokals war. Er hieß Franz und war nur wenige Jahre
älter als Tom – sie verstanden sich seit Beginn ihrer Bekanntschaft gut und so
sprachen sie zueinander als Freunde und berieten sich in ihren Ehesachen oder
in Geschäftsfragen. Tom wusste alles von Franz und Franz wusste alles von Tom.
Auch an diesem Abend saß er an der Theke. Sein Knie drückte gegen die rauen,
kühlen Ziegelsteine, aus denen die Bar aufgebaut war, und rieb nervös zwischen
den beiden Kanten hin und her. Seinen zweiten Drink hatte er bereits getrunken
und wie es die Gewohnheit verlangte, spendierte Franz ihm, still und heimlich,
um die anderen Gäste mit dieser Unart des Gastgebers nicht zu vertreiben, den
dritten und letzten Drink dieses Abends. Wie jeden Abend trank Tom einen Gin
Tonic mit einem Schuss Kokosmilch – eine Eigenkreation von Franz, der in jungen
Jahren als Barkeeper gearbeitet hatte.
„Dank‘ dir“, sagte Tom. Der Barmann, bereits kahl am
Kopf, sah seinen treuen Gast durch die eckige Brille an. „Thomas, du siehst
heute etwas mitgenommen aus. Was hat dich denn gebissen?“ Keine Antwort.
„Heitert dich ein bisschen Blues auf?“, Franz grinste über seine spärlich behaarten
Backen, als weichgespülte Saxophonmusik die dunkle Bar mit heiterer Laune
erfüllte. Lachend schüttelte Franz seine Schultern im Rhythmus der bewegten
Musik - Toms Antwort war dasselbe, unveränderte Gesicht mit traurigem Blick.
„Komm, erzähl jetzt.“, forderte ihn der Barmann auf. Einen Moment lang zögerte
er, begann dann aber seine verkrampfte Miene zu lösen und schnaufte in sein
Whiskeyglas. Franz merkte, dass sein Gegenüber noch einige Zeit überlegte, um
die richtigen Worte zu finden. Nach einer kurzen Pause, die von fröhlicher
Bluesmusik aufgefrischt wurde, warf Tom eine Frage in die Luft. „Was würdest du
tun-“ er stockte einen Moment, sah nach links und recht und vergewisserte sich,
dass niemand lauschte, „Wenn dich jemand verfolgt?“ Der Barmann sah Tom mit
verhärteter Miene an. Er schien auf etwas zu warten, einen weiteren Satz, eine
Erklärung, einen Abschluss des Satzes, aber als nichts folgte, sagte er
schließlich fragend: „Also dich verfolgt wer.“,
und als er zu Ende gesprochen hatte, zuckte Tom zusammen, als hätte ihn
etwas im Nacken gestochen. Er packte die Hand von Franz und drückte sie fest.
„Nicht so laut.“, flüsterte er ihm mit bedrohlichem Blick zu. Seine Brauen
waren tief ins Gesicht gesunken und standen wie liegende Rufzeichen über die
strahlend blauen Augen. „Siehst du den Kerl, der da hinten ganz allein auf der
Couch hockt?“, fragte er nervös. Franz ging aus der Theke und begann
abzuservieren. Tom sah ihm nicht nach. Er spürte seinen Pulsschlag in jeder
Fingerspitze, kalter Angstschweiß befleckte seinen Rücken. Seit Stunden schon
fühlte er sich von dem Mann, mit der dunklen Sonnenbrille in den Kragen
geklemmt, verfolgt. Er schluckte fest und spürte seinen Kehlkopf gegen die
Speiseröhre drücken. Schließlich kam Franz zurück und stellte das schmutzige
Geschirr in der kleinen Abwasch hinter der Theke ab. Wortlos blickte er Tom in
die Augen, als er ein frisch abgespültes Bierglas aus dem Regal nahm und
Weizenbier darin einschenkte. Seine Augen wirkten starr aber beruhigend, als
würden sie ihm seine Angst nehmen wollen. Dann zog er seine Augenbrauen kurz
und auffällig hoch, um Thomas etwas zu deuten. Während Franz das Bier in
geschwindem Gang nach hinten brachte, verfolgten Thomas Augen den Barmann.
Franz kam nach einem kurzen Gespräch mit dem fremden Gast
zur Theke zurück. Er begann die Regale zu schlichten, die Gläser einzuräumen
und das Geschirr abzuwaschen. Thomas betrachtete währenddessen die Gemälde und
Fotografien an der Wand. Sie schienen im Schimmer der alten Glühbirnen, die in
Gehäusen aus verschwommenem Milchglas versteckt waren, düster und alt. Bei
genauem Betrachten sah Tom eine dicke Staubschicht, die sich an der Oberseite
der Rahmen festgesetzt hatte. Als er zurück zu Franz blickte, bemerkte er seine
beängstigte Miene. „Darf es noch was sein, der Herr?“, fragte Franz mit
blinkendem Auge. Dann spürte er ein gefaltetes Stück Papier unter seine Hände
gleiten. Er nahm es unauffällig auf seinen Schoß und öffnete es. Mit Bleistift
stand in Blockbuchstaben geschrieben: „DU BLEIBST BESSER HIER.“ Angst überkam
Tom wieder und Schweiß rann den Rücken herunter, als er den besorgniserregten
Blick des Barmannes verspürte. Also habe
ich mir das doch nicht eingebildet, dachte er, während seine Augen starr
auf das Bierfass hinter den Gläsern gerichtet waren. Eine ganze Weile verging,
in der Thomas still und unbewegt auf seinem harten Barhocker saß und der Musik
lauschte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, doch glaubte er den Blick
des Unbekannten in seinem Rücken zu spüren, als würde er ihm ein scharfes
Messer immer fester und tiefer andrücken. Franz sprach kein Wort mehr zu ihm,
als hätte er selbst Angst bekommen – sein angespanntes und untypisches
Verhalten beunruhigte Tom noch viel mehr. Seine Blase drückte allmählich und
selbst die größte Sorge vor dem Ungewissen konnte das Bedürfnis nicht länger
halten. So beschloss er seinem Harndrang zu folgen und ging in raschem Schritt
zu den Toiletten.
Die Musik klang dumpf und
hohl bis in die Toilettenkabine, in der Thomas stand. Während er, etwas betrunken
von Franz Kokos-Gin Tonic, sich im Stehen erleichterte, ging die Tür zum
Toilettenraum auf. Der Schall der Musik drang in die Kabine und ließ die
unvergleichliche Stimme von John Lee Hooker erklingen. Noch bevor Thomas den
Songtitel erraten konnte, schwing die Tür wieder zu und ließ die Musik wieder
bleiern klingen. Schwere Stiefelabsätze gingen einen langsamen Gang in seine
Richtung. Der Mann, der eintrat, blieb direkt vor Thomas Kabine stehen. Tom
weitete seine Augen und schnappte nach Luft. Das ist er, dachte er und versuchte den Druck in seinem Kopf mit
einem leichten Schütteln auszugleichen. Er wartete einige Momente, die ihm
endlos lange vorkamen. Würde Franz jetzt kommen? Wahrscheinlich war er zu
beschäftigt und hatte den Unbekannten nicht aufs stille Örtchen gehen sehen.
Die Stiefelabsätze knirschten drohend am Fließenboden. Stille. Thomas hielt den
Atem an. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich trat jemand gegen die Kabinentür.
Thomas rief laut auf. Er zwängte sich in die hintere Ecke der Kabine. Neben der
Kloschüssel kauerte er, warf die Hände über den Kopf und schrie um Hilfe. Ein
letzter Tritt, bevor die Tür an der Stelle des Schlosses nachgab und
splitterte. Die Gewissheit über den nahenden Tod, die aussichtslose Flucht vor
dem Schicksal nahm auf dem kalten, stinkenden Boden der alten Cocktailbar im
Zentrum Wiens ihr Ende.
Der Morgen war bereits angebrochen, als Thomas Eckhart
die Straße betrat. Er trug seinen dunkelblauen Nadelstreifanzug mit Krawatte in
royalem Blau – der Hingucker im Büro. Herr Eckhart war stolz auf seinen Job,
stolz auf sein neues Auto, stolz auf das große Haus und seine schöne Frau. Er
hatte lang und hart dafür gearbeitet und wenn ihn jemand fragte, welch ein
Glückslos er einst gezogen hatte, so entgegnete er stets mit breitem Grinsen: „Das
Los der Götter.“ An diesem Morgen also ging Herr Eckhart seinen allmorgendlichen
Weg zum Bäcker. Seine Frau schlief noch und so zog er es vor, das Auto nicht
unnötig anzustarten – der Bäckerladen war nur 2 Ecken von ihm entfernt. Er war
nur einige Schritte gegangen, da kam ihm ein Mann entgegen, dessen Blick schon
lange Zeit auf Thomas Eckhart gerichtet war. „Verzeihen Sie“, sagte der Mann
mit ausländischem Akzent. Herr Eckhart ignorierte den Mann und ging weiter,
schließlich hatte er es eilig und wollte noch ein, zwei Brötchen für seine Frau
mitbringen. Der Mann ließ nicht locker und ging dem Eckhart nach, immer wieder
bittend um Aufmerksamkeit. Schließlich blieb der Geschäftsmann wütend stehen und
starrte dem Mann ins Gesicht. Wütend riss er dem Kerl die große, dunkle
Pilotenbrille von den Augen und warf sie zu Boden. „Hast du’s nicht verstanden?
Verschwinde, sofort!“ Der Mann richtete seine Frisur zurecht und hob die
Sonnenbrille auf. Wortlos trampelte er in Cowboystiefeln davon. Herr Eckhart
verschwand in der Bäckerei – bestellte fünf Brötchen und verließ die Filiale
sofort wieder. Die Begegnung hatte er schon bald wieder vergessen und auch den
Mann, der hinter ihm herging, hatte er nicht bemerkt…
Donnerstag, 11. Juni 2015
Der Wunschautomat
Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein. Unzählige
Kinder strömten wie Fischschwärme aus dem Schulgebäude und breiteten sich über
das weite Areal aus. In Gruppen standen dicke und dünne, kleine und große, jüngere
und ältere Kinder beieinander und scherzten, lachten, riefen, flüsterten oder
schrien in sorgenloser Manier. Mitten im Tumult schritt ein kleiner Bursche
durch die Menge. Mario war hager, seine Gestalt wirkte zärtlich, beinahe schon
zerbrechlich für einen Fünfzehnjährigen. Blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht
und glänzten in der warmen Mittagssonne. Während sich die Kollegen aus
verschiedensten Schulklassen miteinander unterhielten, ging Mario schweigend
weiter. Sein Blick war starr auf den hellgrauen Asphalt gerichtet, der ihm den
Weg heim verriet. Stumm zählte er die einzelnen Grasbüschel, die durch den
harten Straßenbelag durchgebrochen waren. Neben dem Gehsteig fuhren immer
wieder Autos vorbei, die mit brummendem Motor Marios Gedanken
durcheinanderbrachten. Immer wieder dachte er an das Gesicht der Lehrerin – sie
hatte gelächelt. War es ein böses Lächeln, oder versuchte sie ihm ihr Mitleid
zu zeigen? Eine Fünf auf die Deutscharbeit.
Das schmerzte. Mario verlangsamte seinen Schritt. Tief atmete er ein – und
wieder aus, diesen Rythmus behielt er für einige Momente. Immer wieder malte er
sich die Reaktion seiner Eltern aus: entsetztes Geschrei seiner Mutter,
Hiobsbotschaften seines Vaters, Drohungen des Schulabbruchs und viele andere
Situationen spielten sich wie ein trauriges Theaterstück in Marios Kopf ab,
Applaus gab es dafür keinen. Du wirst die
Schule nie schaffen – ertönte es in seinen Ohren. Der Bursch setzte sich
auf die alte Holzbank, unweit der Hauptstraße. Still lauschte er seinem
Herzschlag. Er hatte Angst davor, nach Hause zu gehen denn er wusste was ihn
erwartete. Stundenlange Gespräche und böse Mahnungen würden ihm den Rest geben,
bis er sich spät abends in sein Bett legen und heimlich zu schluchzen beginnen
würde. Sie verstehen mich nicht, dachte
Mario.
Es war ganz still gewesen, bevor sein Herzpochen plötzlich von
einer eigenartigen Melodie übertönt wurde. Sie klang wie die Musik eines
Spielautomaten – mechanisch und impulsiv drang sie in Marios Ohren. Er stand
auf und horchte genau hin. Die Melodie wiederholte sich im immergleichen
Rhythmus und metallischen Klang. Die Musik kam aus der kleinen, engen
Seitengasse, die unweit der Holzbank zu einer alten Fabrik führte. Mario dachte
nicht lange nach, denn jeder gewagte Gedanke hätte ihm mit äußerster
Dringlichkeit davon abgeraten, dem Geräusch zu folgen. Langsam ging er einige,
kleine Schritte. Er stand direkt vor der Ecke, das Geräusch wurde immer klarer
– eindeutig kam es aus der Sackgasse. Die Wände waren etwa eineinhalb Meter
voneinander entfernt und bestanden aus schmutzigen, alten Ziegelsteinen, deren
Ecken und Kanten abgeschlagen und rundgescheuert waren. Es fiel kaum Licht in
die Gasse – kurz stockte Marios Atem. Wahrscheinlich wäre er an gewöhnlichen
Tagen nicht auf die Idee gekommen, in diese Gasse zu gehen – seit 5 Jahren ging
er diesen Weg beinahe täglich. Aber dieser war kein gewöhnlicher Tag. Ein Bein
folgte dem Nächsten. Schritt um Schritt wagte Mario sich in die Gasse. Bald
schon war er am Ende angelangt: Eine alte Fabrikfassade bildete das Ende dieser
Sackgasse, die vor langer Zeit wohl als Einfahrt gedient hatte. Mario sah sich
um. Ein großes, rostiges Metalltor verschloss den Zutritt in die alte Halle.
Mario wollte kehrtmachen, da ertönte das Geräusch lauter und schriller als
zuvor. Der Bursch erschrak so arg, dass er sich ruckartig nach rechts wandte,
wo ein alter Spielautomat stand. Verwunderung. Die immergleiche Melodie ertönte
aus dem Spielkasten. Bunte Lichter strahlten aus dem Gerät. Rot und Blau und
Grün und Gelb ließen einen kleinen Teil der Fassade aufleuchten. Mario ging auf
den Automaten zu. Ungläubig sah er sich um: das Gerät war nicht angesteckt.
Kein Kabel führte zu einer Steckdose – noch größere Verwunderung machte sich in
dem Jungen breit. Plötzlich sprach eine abgehackte Stimme „Drücke Start!“. Nun
wiederholte die Maschine diese Aufforderung neben der eintönigen Melodie, immer
schneller und immer schriller. Die Lampen blinkten wilder und hörten gar nicht
mehr auf. Mario bekam Furcht. Schnell haute er seine geballte Faust auf den
dicken, roten Button in der Mitte des Feldes – erst jetzt erkannte er, dass es
der einzige Knopf am ganzen Automaten war. Die Lichter erstarrten – die Melodie
blieb aus.
Die abgehackte, mechanische Stimme sprach ohne begleitende
Melodie. „Heute ist dein Glückstag! Wie ist dein Name?“. Mario hob seine
heruntergefallene Kinnlade, schloss den Mund und sah den Bildschirm entsetzt
an. „Ma- Mario.“, stammelte der blonde Bursch hervor. „Hallo Mario! Heute ist
dein Glückstag!“, sprach die monotone Computerstimme. Mario schluckte. Der
Bildschirm wurde schwarz. Die Lichter gingen aus. „Lieber Mario. Heute hast du
einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ Das war schließlich zu viel des Guten.
Mario, der schon mit 5 hinter das Geheimnis des Osterhasen und des
Weihnachtsmannes gekommen war, suchte das Geheimnis dieses Gerätes. Er suchte nach einem Kabel, einer Kamera, einem
Mikrofon oder irgendeinem Anzeichen, das diesen Automaten als Streich
entpuppte. Doch er fand nichts. Da will
sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, dachte er sich. Doch der
Computer wiederholte seine Aussage. „Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn
bedacht.“ „Gut!“, rief Mario verwirrt. „Gut, dann wünsche ich mir – ich wünsche
mir den Fleck weg. Ich will eine glatte Eins ins Zeugnis, ich möchte, dass
meine Eltern endlich stolz sein können auf mich und mich lieben, weil ich ihnen
genüge!“ Als er seinen innigsten Wunsch ausgesprochen hatte, da rumorte es in
der Maschine. Rauch stieg aus den Lüftungsschlitzen, ein elektrisches Zirpen
und Knistern machte sich bemerkbar. Es stank nach Kabelbrand. Mario seufzte. Wäre auch zu schön gewesen, dachte er
sich, als er aus der dunklen Gasse trat und seinen Heimweg fortsetzte.
Wortlos klatschte Mario das Arbeitsheft auf den Küchentisch.
Seine Mutter blickte ihn unheilvoll an und auch der Vater hatte einen
sorgevollen Blick aufgesetzt. Scham überkam Mario, als er das Heft aufschlug
und ohne Kommentar seinen Eltern zuschob. Ein Moment der Stille erfüllte die
Küche, in der die Gemüsecremesuppe vor sich hin köchelte. Der sanfte Geruch von
gekochtem Brokkoli und Blumenkohl erfüllte die verdampfte Küche. „Bin stolz auf
dich“, sagte seine Mutter. Verwundert hob Mario seine Augenbrauen und blickte
sie fragend an. „Sehr gut. Bin sehr stolz auf dich. Hast du gut gemacht.“
Tatsächlich. Unter dem fehlerfreien Text stand eine dicke, rote 1. Von diesem Tag an schrieb Mario nie
wieder eine schlechtere Note – er wurde Klassenbester und schloss die Schule
mit großartigem Erfolg ab. Den Automaten aber, den fand er nie wieder. Aber
manchmal, an einsamen Tagen, da hört Mario noch heute die immergleiche,
mechanische Melodie von Weitem erklingen…
Dienstag, 9. Juni 2015
Arm und Reich
Der Linseneintopf
schmeckte nach Kokosfett und ranziger Butter. Ein Löffel rührte den kalten,
schlammigen Brei um, versuchte ihn zu einer appetitlicheren Masse zu formen –
erfolglos. Lukas saß auf der alten Couch mit zerrissenen Stoffüberzügen. An
manchen Stellen hielten nurmehr einzelne Fadenstränge das Geflecht der blauen
und roten Muster zusammen. „Heut schmeckt‘s besonders scheiße.“, sagte er mit
vollem Mund. Das Fett triefte ihm aus dem rechten Mundwinkel heraus und tropfte
auf seine hellblau ausgeblichene Jeans, hinterließ dicke, dunkle Flecken auf
seinem Hosenbein. Markus kam mit einer halbvollen Schüssel, setzte sich dazu,
schaltete die Glotze an und schwieg vor sich hin. Im Fernsehen lief Fußball.
Die beiden Brüder, gerade in die Zwanziger geschlittert, lebten in der
angemieteten Wohnung, versteckt im dunklen Innenhof einer Wohnanlage. Ein
Zimmer teilten sie sich, zusammen mit einer Toilette und einem Badezimmer, das
neben einem Waschbecken und einer Badenische räumlich nicht mehr erlaubte. Aber
nicht nur mit dem Platz mussten die beiden sparen – auch das Geld war knapp,
beide konnten lange keine Arbeit finden. Erst vor wenigen Wochen durfte Lukas,
der ältere der beiden Brüder, einen Aushilfsjob an einer Baustelle übernehmen.
Die Arbeit war hart und machte dem eins dreiundachtzig großen Kerl nicht
sonderlich glücklich – aber ein paar Hunderter mehr im Monat waren ein guter
Grund sechsmal die Woche das Bett vor Sonnenaufgang zu verlassen und erst spät
nach Sonnenuntergang wieder zurückzukehren.
4:45 Uhr. Der Wecker
läutete schrill und unbarmherzig, bis Lukas ihn mit schmerzerfüllter Miene
ausschaltete. Er blickte zu seinem jüngeren Bruder – er schlief tief und fest. Innerhalb einer Stunde
machte sich Lukas fertig und verließ das kleine Zimmer kurz vor Sonnenaufgang.
Die Straßen waren noch leer. Sein Körper fühlte sich unangenehm angespannt und
steif an, jeder Schritt war eine Qual. Lukas wollte diesen Job nicht mehr
übernehmen. Seine Kollegen behandelten ihn wie Dreck, sein Chef war ein fauler
Sack, der nicht mehr zustande brachte als alle anderen zu kommandieren und sein
Lohn wurde stark gekürzt – „Aufgrund fehlender praktischer Arbeitskenntnisse“,
wie sein Chef es nannte. Er wusste ganz genau, dass er den armen Jungen so
behandeln konnte, Herr Schachenger hatte ein gutes Gespür für junge Leute.
Besonders für diese Art, die Lukas vertrat. Solche Leute schmissen die Schule bevor sie 17 waren, rauchten
Gras bis sie 19 wurden und mit 20 werden sie von den Eltern auf die Straße
gesetzt – natürlich kamen sie zum Herrn Diplomingenieur um Arbeit zu bekommen
und Arbeit bekamen sie auch. In seinen Augen durfte sich Lukas keinen weiteren
Fehltritt erlauben, ganz klar, es gab genug andere, die seine Stelle gerne
annehmen würden – das Business kennt keine Emotionen und Kompromisse.
Lukas stand an der
Busstation. Er hatte den letzte vor zehn Minuten verpasst und so musste er
doppelt so lange auf den nächsten warten. Er setzte sich auf die kalte
Gittersitzfläche aus Metall. Die Stadt war tatsächlich am Schlafen, nur die
Vögel zwitscherten den ankommenden Tag willkommen. Lukas ließ seine Gedanken
schweifen – heute würde er sich nichts gefallen lassen. Niemand würde ihn heute
stoßen, ohne sich im Nachhinein bei ihm zu entschuldigen. Niemand könnte ihm
heute seine Pause streichen. Und niemand, schon gar nicht Herr Schachenger
könnte ihm heute weismachen, dass seine Arbeitskenntnisse unzureichend oder
fehlerhaft wären. Niemand, würde ihn heute rumschubsen.
Eine Menschengruppe kam
ihm entgegen. Es waren junge Leute, etwa in seinem Alter. Sie waren sichtlich
betrunken und scherzten und lachten laut. Als sie an ihm vorbeikam, blieb die
Gruppe stehen. Zwei Burschen bildeten die Spitze der Gruppe, in der sich noch
einige Kerle und ein Mädchen befanden. Einer der beiden deutete auf den jungen
Mann auf der kalten Gittersitzfläche. „Na sieh mal einer an.“, sagte der große
Kerl mit weinrotem Mantel. Er ging zu Lukas und blieb vor ihm stehen. Er sah
ihn an, bemerkte seinen offensichtlich luxuriösen Kleidungsstil, seine blonden,
zurückgekämmten Haare, die vor Brillantine trieften, seine Wildlederschuhe,
deren Spitzen künstlich aufgerieben wurden, und er wusste, dass dieser große,
schlanke Kerl zum anderen Teil der Bevölkerung gehörte. Der Kerl blieb vor ihm
stehen und sprach Lukas direkt an. „Wartest auf den Bus, hm? Musst arbeiten, so
früh?“ Das Mädchen kicherte hinter all den Burschen, die wild und unverschämt
um sie buhlten. Lukas sah ihn an, blickte hinter ihn und spürte den
verachtenden Blick der ganzen Gruppe in seinem Gesicht kleben. „Ja.“, sagte er.
Die Gruppe lachte laut auf. Das Gelächter wurde immer schriller, und klang
nicht ab. Die Situation war schon beinahe lächerlich, als sich die Leute
schließlich einkriegten und der blonde Typ
sich groß und breit machte. „Schön zu sehen, dass das Volk arbeitet.“, er
drehte sich mit seinem Oberkörper nun zu seinem Gefolge aus Studenten, „Dann
hat unser Kontrollgang ja gefruchtet.“ Lautes Gelächter. Lukas fühlte sich
allmählich unwohl. Er blickte nur mehr gerade aus, starrte auf die
Gehsteigkante, die wenige Meter vor ihm lag. „Na schau, jetzt ignoriert uns der
Bub. Komm, wir laden dich auf was ein – erzähl uns von deinem harten, schweren
Leben.“ Lukas stand auf. Er wollte sich nichts sagen lassen, schon gar nicht
von Leuten, die keinen Finger rühren mussten, um zu überleben. „Hör mal zu, du
reiches Stück Scheiße.“, zischte es aus seinen Lippen hervor. Der Blonde
verstummte und mit ihm die ganze Gruppe. Seine Miene verfinsterte sich. „Du
hast keine Ahnung vom Leben“, fuhr Lukas fort, „Bist stolz auf den Reichtum
deiner Eltern, rennst hier herum als wärst du der Fürst des Ortes.“
Schüchternes Gelächter machte sich in den Reihen der Unbeteiligten breit, starb
jedoch nach fehlender Reaktion des Rudelanführers. „Hast schon richtig gehört,
Arschloch. Sieh dich doch einmal an. Du lebst auf Kosten anderer, hast nicht
das Zeug etwas zu vollbringen und musst anderen Leuten mit deinem Reichtum
imponieren. Tatsächlich aber, und das wissen wir beide, hast du keine Leistung
vollbracht, die deinen Wohlstand rechtfertigt. Jetzt verpiss dich, bevor ich
dir mit meinen Bauarbeiterhänden Eine auflege.“ Sichtlich irritiert zwinkerte
der Kerl mehrere Male hintereinander – wie vom Blitz getroffen stand er
regungslos da. Der Lockenkopf hinter ihm nahm ihn am Arm und zog ihn weg. Der
Rest der Gruppe folgte ihm, nicht ohne Lukas einen verächtlichen Blick
zuzuwerfen.
Der Arbeitstag verlief
problemlos – Lukas setzte sich nicht nur durch, er bekam eine Beförderung vom
Ingenieur Schachenger. „Endlich können wir dich hier gebrauchen, Bursche.“,
sagte er. Doch er meinte das nicht böse. Es war eben seine Art, so mit dieser
Art umzugehen. Die Art, die Lukas vertrat.
Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
Albert Brecht.
Sonntag, 7. Juni 2015
In Trümmern - Teil 3
Es war nicht die
strahlende Sonne, die Michael weckte. Auch sein Durst hielt ihn nicht vom
Schlaf ab. Was ihn zum Aufwachen drängte war der schaukelnde Jeep, in dem er
sich befand. Noch bevor er wusste, wo er war, hatte er schon das erste ihm
bekannte Gesicht gesehen: Freddy, der Konstruktionsleiter des Lagers im
Stephansdom, saß neben dem vermummten Fahrer und blickte aus dem Fenster. Ein
leises Stöhnen, in dem sich Erschöpfung und Verwirrung zu bitterer Verzweiflung
mischten, machte den breiten Norddeutschen auf Michael aufmerksam. Es folgten
ein kurzer Blick und ein unverständliches Wort zum Fahrer, der das Auto abrupt
zum Anhalten brachte.
Als die Männer
eingerückt waren, wurde es still in den Straßen Europas. Mit jedem Tag wurde
die Angst größer bis schließlich die ersten Todesmeldungen ins Land kamen -
erst war es ein Onkel, ein Vetter und ein Neffe - bald folgte der Bruder, der
Vater und der Sohn. Jeder Bürger hatte Familienmitglieder verloren und jeden
Tag konnte es eines mehr sein. Mit dem Einsatz der atomaren Sprengköpfe wurden
ganze Heeresgruppen in wenigen Momenten ausradiert und von den militärischen
Landkarten gestrichen. Eine Schreckensnachricht jagte die nächste und so
dauerte es nicht lange bis die Frauen und Kinder in den Städten rebellierten:
Erst in Madrid, dann in London und schließlich auch in Wien gingen Millionen
Frauen auf die Straßen - für ihre Männer, für ihre Söhne, für ihre
Freiheit.
Der Fahrer sprach einen
örtlichen Dialekt – er erklärte Michael, dass er aufgrund seiner illegalen
Aktivitäten gegen das Solidaritätsgesetz verstoßen hatte. „Verzeihen Sie
vielmals“, sprach Michael und blickte dem Mann, der seine Maskierung bereits
abgelegt hatte, ins Gesicht. Ein dicker Schnauzbart lag über seinen dünnen
Lippen, sein Kopf war flach und lang gezogen und die Augen schielten leicht
auseinander. Ehe Michael es kommen sah, versetzte der Kerl ihm einen Hieb auf
die Brust. „Gusch!“, schrie ihn der Mann an. „Jemand, der gegen das Gesetz
verstößt und sich der Höchststrafe auszusetzen hat, hält das Maul. Und wenn du
noch ein Wort sagst, kann ich dir nicht versprechen, dass du lebend aus diesem
Auto steigst.“ Die Worte klangen bedrohlich und ernst. Michael nickte entsetzt.
Nicht einmal ein „Verstanden“ brachte er heraus. Eine stechende Kälte überkam
ihn, er bekam Angst. Angst um sein Leben.
Der Tag nach dem Abwurf
würde als Tag X in die Geschichte des Landes eingehen. Die Straßen waren bis
tief in die Nacht leer, keine Menschenseele traute sich heraus. In der Stille
des Abends hörte man vereinzelte Schreie, deren Qualen die Ohren der
Überlebenden folterten. Aber keiner half. Am zweiten Tag fassten einige
Menschen wieder Mut - wer nicht verletzt war, kletterte zwischen den
Gesteinsbrocken und Straßengruben, um nach Überlebenden zu suchen. Nur wenige
konnten gerettet werden. In den darauf folgenden Tagen bildeten sich Gruppen,
um gemeinsam helfen zu können. Ehemalige Nachbarschaften taten sich zusammen
und bauten ihre Häuser auf, um wieder darin schlafen zu können. Niemand
verweigerte den Dienst, und wenn auch vereinzelt einige murrten, so war die
Stadt selten so sozial gewesen.
Sie fuhren noch etwa
eine halbe Stunde über Waldwege und Trampelpfade, bis sie ihr Ziel erreichten.
Michael konnte nicht sagen, durch welches Dorf sie fuhren und doch kam ihm die
idyllische Landschaft vertraut vor: prächtige Bauernhäuser mit ausgeschmückten
Balkonen und Efeuranken, die die gelb und grün gestrichenen Fassaden zierten,
bildeten das Bild dieses Ortes. Hier hatte der Krieg nicht hergefunden. Das
Auto blieb an einem abgelegenen Parkplatz stehen. Freddy und der Mann mit
Schnauzer stiegen aus. Einige Männer standen in einer kleinen Gruppe zusammen
am Platz – sie hatten Militäruniformen an und Gewehre um ihre Schultern
geschnallt. Durch die zerkratzte Scheibe konnte Michael erkennen, dass der
Fahrer und sein falscher Freund den Leuten die Hände schüttelten. Sie tauschten
einige kaum wahrnehmbare Worte aus, bis sich die Gruppe auflöste und sich in
Richtung des Dorfes bewegte. Der Fahrer aber kam als einziger zurück. Wortlos
öffnete er die Tür, griff Michaels Arm und führte ihn in einen abgelegen Stall.
„Hier verbringst du deine letzten Stunden.“ Die Tür wurde abgesperrt. Michael
war hier nicht allein.
Es dauerte nicht lange,
bis sich die Menschen wieder auf das Nötigste zusammengerafft hatten und ihr Leben
außer Gefahr bringen konnten. Man wartete nicht lange auf Hilfe, denn das Ende
des Krieges und die Niederlage der Union und all seiner Staaten war gewiss und
in baldiger Aussicht. Die Menschen hofften auf eine milde Behandlung und
erwarteten die Kapitulation mit jedem Tag aufs Neue. Doch sie blieb aus und so
bildeten sich im Laufe der Zeit Interessensgruppen verschiedenster Art. Männer
und Frauen, sprachgewandt und rhetorisch geschult, brachten erste
Freiheitsverbände und Organisationen zum Vorschein. Viele waren friedlich,
einige waren militant und revolutionär. Je mehr Gewalt in den vollen Sälen der
Gruppen gepriesen wurde, desto lauter und fanatischer jubelten die Leute ihrem
unaufhaltbaren Schicksal entgegen.
Michael kannte niemanden
der zwanzig Menschen, die mit ihm im Stall eingesperrt waren. Einige kamen aus
Wien, andere aus dem Umland, einer aus Horn und eine Frau kam aus Tulln. Sie
waren alle verschieden alt, zum Teil hatten einige studiert, andere aber waren
einfache Arbeiter gewesen. In nur einem Punkt hatten sie alle eine
Gemeinsamkeit: Sie hatten in ihrem Heimatsort für den Fortschritt gearbeitet.
Michael fand sich schnell einen Mann zum Reden in gleichem Alter – er hieß
Kevin und war einst Koch gewesen, bevor er in Rumänien stationiert und wenige
Tage vor einem Massenbombenabwurf auf seine Heeresgruppe wegen einem
gebrochenen Bein nach Hause beordert wurde. Die Verletzung hatte ihm sein Leben
gerettet und so hatte er sich dazu entschlossen, andere Menschenleben zu retten. In Simmering,
seinem Heimatbezirk in Wien, bekochte er die Alten und Schwachen, baute ihnen
die Wände neu auf und besorgte ihnen Wasser aus den umliegenden
Besorgungsstätten. Er war ein guter Mann gewesen, der jede Sekunde des Krieges
für den Frieden und das Wohlergehen der Menschen gekämpft hatte. Michael
unterhielt sich eine Weile mit Kevin, und bald fanden sie einige
Gemeinsamkeiten. Sie beide wurden von einem Kollegen verraten, bei beiden
Fällen schlug er sich auf die andere Seite. Beide waren aus Wien und halfen der
Allgemeinheit der Stadt. Plötzlich schlug die Tür auf und ein Mann in Uniform
hielt eine Liste in seinen Händen. Die Sonne hinter ihm ließ nur die Konturen
seiner Gestalt erkennen. Er las einige Namen vor. Darunter auch Michaels.
„Mitkommen.“
Während die Mehrheit der
Wiener Bevölkerung auf baldigen Frieden hoffte und mit täglichen
Demonstrationen gegen den Krieg ein Zeichen setzte, fanden einige wenige Leute
deutlichen Gefallen an militärisch organisierten Gruppierungen. Die Macht
dieser Uniformträger wurde durch die stetig wachsenden Probleme der Bevölkerung
und das Ausbleiben einer hoffnungsvollen Lösung immer größer. Bald schon
organisierten sie sich in Zirkeln, um Waffen und Munition zu stehlen und zu
rauben. Mit jedem Tag traten mehr Mitglieder bei - die Menschen fühlten sich
hinter Gewehr und Orden sicher aufgehoben. Nach wenigen Wochen kollektivierte
ein Mann alle diese militanten Gruppierungen zum „Bataillon Wien“.
Die Gruppe fand sich in
einem Gemeinschaftssaal wieder. Einige Tische waren zu einem eckigen U geformt,
in dessen Mitte ein kleiner Tisch seinen Platz gefunden hatte. Nach kurzem
Schaudern erkannte Michael, wo er gelandet war: Dieser Raum diente als
Gerichtsort. Einige Herren, jeder trug dieselbe olivgrüne Uniform, nahmen an
der Seite Platz. Sie wirkten fit und gut gelaunt, bestimmt hatten sie kurz
zuvor gut gegessen, dachte Michael. Er stand mit den anderen Menschen aus dem
Stall an der Seite des großen Raumes, gleich neben der Tür, umringt von 3
Soldaten, die ihre Zeigefinger am Abzug ihrer Gewehre bereithielten. Eine
Flucht war aussichtslos – sie hätte nichts gebracht: Am Weg im Jeep hierher
hatte Michael nur Wald und weite Weiden gesehen, hier würde ihm niemand helfen.
Da standen sie, wie Angeklagte, schmutzig, in zerrissener Kleidung, wie Sklaven
in einem Stall gehalten. Die Stimmung war getrübt, sie wirkte irreal vernebelt.
Er hatte recht: Bald schon trat ein Richter in schwarzer, langer Amtstracht in
den Raum. Michael war einer der Angeklagten. Alle nahmen Platz. Es wurde still
im Saal. Der Richter blickte kein einziges Mal in die Gesichter der Menschen,
die wie Tiere gehalten wurden. Er rief eine junge Frau auf, Maria, 24 Jahre
alt, bildhübsch. Er fragte kaum, sprach in kurzen Sätzen und blickte nicht
hoch. Seine Augen starrten auf das Blatt Papier, das auf seinem Tisch lag.
Das „Bataillon“ agierte
nicht in Wien. Viel zu auffällig wären all die Männer gewesen, die mit Gewalt
und Drohung für Ordnung sorgen wollten. Auf dem umliegenden Land, wo die Bomben
nur vom Hörensagen bekannt waren, da fanden sie viel Zuspruch. Sie versprachen,
was die Verzweiflung und der Hunger verlangte: Beendigung des Krieges,
reichliche Rationen für alle, ein Leben wie vor 10 Jahren. Bald schon konnte
sich das „Bataillon Wien“ in vielen Dörfern behaupten und stellten den jeweiligen
Bürgermeister – eine demokratische Politik war durch die zerstörte
Infrastruktur nicht möglich. Die bewaffneten Männer ersetzten die damalige
Polizei – sie sorgten für Frieden und unterdrückten jede Art von Widerstand.
Bald schon wurde klar, dass das Bataillon die Macht der Region erlangt hatte
und Wien das nächste Ziel darstellte.
„Michael Gschwindel“,
ertönte die kalte Stimme des Richters und rief ihn als letzten an der Reihe
auf. Die schrillen Worte versetzten ihm einen kalten Hieb in die Magengrube.
Er stand auf und ging vor zum Tisch, auf dem er jedem Blick, jedem Wort und
aller Aufmerksamkeit in dem Saal ausgeliefert war. „Sie sind 23.“ – „Stimmt.“,
erwiderte er rasch. „Was hat Sie dazu gebracht, gegen das Solidaritätsgesetz zu
handeln?“. Stille. Michael sah den Mann mit erstaunter Miene an. „Verzeihen
Sie, aber ich verstehe nicht.“, sagte er. Mit gleichmütiger, fast schon
freundlicher Stimme antwortete ihm der Richter. „Sie haben sich in den letzten
Wochen an dem Bau eines Fluchtmittels, namentlich einem Fluggerät, welches
jedoch nie zum Einsatz kam, beteiligt. So bescheinigt dies der Zeuge Frederick
Christher.“ Blankes Entsetzen machte sich in Michaels Gesicht breit. „Nein,
das- Nein das ist nicht wahr! Das ist nicht- Wir wollten damit Hilfe holen, um
aus der Stadt zu gelangen, warum sollten wir denn-„ – „Dankeschön, die Sitzung
ist geschlossen.“, unterbrach ihn der Richter. Michael schrie: „Nein, hören
Sie!“ Er wurde von hinten gepackt und von einem der Soldaten zu den anderen
gezerrt. Die Herren an dem Richtertisch standen auf und gingen aus dem Raum. In
den Augen der Angeklagten fand sich keine Spur der Hoffnung. Die Hoffnung, die
sie die letzten Monate, Tag für Tag, mit aller Mühe hervorgebracht hatten war
gestorben. Die meisten Leute standen still da und starrten in die Leere, wo
sich die Vergangenheit in ihren Erinnerungen spiegelte. Dann kamen die Herren
in Uniformen wieder in den Raum. Sie nahmen Platz. Der Richter las alle Namen
vor. „Milhonik, Precht, Lehn, Gülyür, Abrahm, Felzel, Stock, Fischbauer,
Hintermayer und Gschwindel werden als Angeklagte in dem Strafvorsatz des
Verstoßes gegen Solidaritätsgesetzes, welches besagt, dass jegliche Handlung
wider das vorläufig provisorische Regierungsprogramm mit harter Strafe, jedoch
nach eigenem Ermessen des zu handelnden Richters, zu belangen sei, schuldig
gesprochen und zum Tod durch Erschießung verurteilt. Das Urteil ist sofort
durchzuführen.“
75 Tage nach dem Abwurf
der detonierten Massenvernichtungswaffe marschierten 12.000 bewaffnete Männer
und Frauen durch Wien. Sie kamen in der Nacht und mussten kaum Verluste
vermerken – die meisten Bewohner bemerkten sie nicht, und wer sich trotz aller
Einschüchterung wehrte, wurde gnadenlos zur Strecke gebracht. Bis auf wenige
Festnahmen, die in aller Stille durchgeführt wurden, um sogenannte
Widerstandskämpfer zu beseitigen, wurde die Bevölkerung verschont. Das
„Bataillon Wien“ hatte sein Ziel erreicht.
Michael ließ den
Soldaten widerstandslos die Arme hinter seinen Rücken festbinden. Nun sollte
auch er eines der zahllosen Opfer des dritten Weltkrieges werden. Ein komisches
Gefühl, dachte er. Während alle Verurteilten sich wehrten, schrien oder
flehten, war er vollkommen still und ließ sich alles gefallen, was von ihm
erwartet wurde. Er wartete in einer Zweierreihe vor einer verschlossenen Tür.
Neben ihm stand Kevin, der junge Bursch aus Wien, der die Armen und Alten
bekocht hatte. Michael sah ihn an und lächelte ihm zu. Das Lächeln war quälend,
beinahe schon sardonisch. „Wer hätte sich das gedacht.“, sagte Kevin und biss
sich auf die Lippen. „Ich wollte den Menschen ihren Hunger nehmen und ihnen den
Tag erleichtern. Nun muss ich deswegen sterben.“ Michael sah ihm tief in die
Augen. „Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Bist ein guter Mann.“ – „Danke
dir! Du auch!“, sagte Kevin, während ihm eine Träne an der Wange herunter rann.
Die Tür öffnete sich. „Die Guten sterben jung.“, sagte er. Dann lachte er laut.
Das war das letzte, was Kevin zu ihm gesagt hatte.
Der Krieg dauerte noch
einige Wochen, bis die Union nicht mehr genug Soldaten stellen konnte und die
Ostfront rasant einbrach. Fisher, der Oberbefehlshaber des Unionsheeres
kapitulierte und stellte keine Friedensbedingungen. Wer nach diesem
Teufelskrieg noch sein Leben besaß, durfte sich dessen nicht mehr sicher sein.
Alle europäischen Staaten waren auf Gedeih und Verderb den Siegermächten
unterstellt. In Wien wurde, wenige Jahre nach Kriegsende eine große Tafel an
den Stephansplatz angebracht. An ihr stand: „Hier gedenken wir den armen Seelen
derjenigen, die durch das Militärkollektiv des Wiener Bataillons ihr Leben
lassen mussten. Mögen sie auf ewig ruhen.“
Die Gewehre waren auf
ihn gerichtet. Der Moment stand still. Die Gesichter der Schützen waren ausdruckslos.
Sie taten ihre Arbeit um am Abend zu ihren Familien zurückzukehren und das
gekochte Essen ihrer Frau zu genießen, ihren Kindern in die Wange zu kneifen
und ihnen vorm Schlafengehen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Sie ließen
keine Emotion zu und bedachten nicht, was sie taten. Neben Michael stand Maria,
das schöne Mädchen, das vor ihm verhört wurde. Sie hob die Faust und schrie
„Tod dem Faschismus!“. Schuss. Michael sackte zusammen. Eine warme Träne
kullerte seine Backe herunter und kühlte allmählich aus.
Die Guten starben jung.
Freitag, 5. Juni 2015
In Trümmern - Teil 2
Michael betrat den Dom. Im
Inneren schien es wie in alten Zeiten – das große Gitter versperrte den Weg zu
den Betbänken, Jesus betrachtete die arbeitenden Männer vom Kreuz aus, und
Friedrich III. schlummerte in seinem kaiserlichen Sarg auf vergessene Zeiten.
Bis auf die zersprungenen und zum Teil völlig zerstörten Glasfenster brachte
der Anblick im Inneren des Domes beinahe Hoffnung in die Augen der
Betrachtenden. Michael begrüßte Frederick, den Baumeister des neuesten
Projekts. Von allen nur Freddy genannt, war er der älteste von allen, die am
Projekt im Dom arbeiteten. Ursprünglich aus Norddeutschland, hat sich Frederick
an der technischen Universität für Maschinenbautechnik eingeschrieben – zum tatsächlichen
Studium kam es dann jedoch nie."Na, gut geschlafen?" fragte er mit
festem Handdruck. "Wunderbar, hatte eine Nachtdusche." sprach Michael
grinsend. "Ah verstehe." sagte Freddy und blickte auf seine
durchnässte Hose. "Also hör zu", fuhr er fort, "Heute müssen wir
das Gerüst fertig haben. Die Männer haben 47 Metallstäbe gleicher Art gefunden
und hierher gebracht. Die bearbeiten der Hans und der Max gerade. Wenn die
zurechtgebogen sind, bauen wir den Vogel zusammen." Michael blickte zu
Hans und Max, die die Eisenstangen am Amboss bearbeiteten und winkte ihnen
einen schönen Tag. Sie blickten auf und winkten ihm lächelnd zurück, bevor sie
weiterarbeiteten.
In einem Krieg wie diesem
existierte Neutralität nicht mehr. Die Klauseln und kleingedruckten Absätze
verschiedenster Verträge, die in Friedenszeiten halbherzig, ja wenn nicht
ungelesen unterzeichnet wurden, zwangen das Land bei der internationalen
Aufrüstung teilzunehmen. Friedliche Proteste der Bevölkerung wurden durch
Propaganda und Einschüchterung, Medien und Politiker als aussichtslos und reine
Zeitverschwendung abgetan. Nachdem die Fronten geklärt waren, wurden zunächst
wehrpflichtige Väter und Söhne nach Rumänien, Polen, Spanien und Schweden beordert.
Der traurige Abschied auf ewig schien anfangs noch als "reine
Sicherheitsmaßnahme" in den Zeitungen auf.
Im Dom herrschten angenehme
Temperaturen, während auf den Straßen immer mehr Menschen durch
Kreislaufprobleme und Unterernährung unter der glühenden Sonne zusammenbrachen.
Wasser war rar, denn seitdem die Hochquellwasserleitungen zerbombt wurden, ließ
die Regierung in der Hauptstadt alte Brunnen neu ausheben, die seit über 300
Jahren verschlossen waren. Dementsprechend war das Wasser unrein und
verursachte Durchfall, Brechreiz und Kopfschmerzen. Einen halben Liter sauberes
Wasser bekam jedoch jeder Bürger der Stadt bei der täglichen Essensvergabe.
Diese eisernen Reserven gingen jedoch schön langsam aus und so wurden die
Menschen immer verzweifelter und wütender.
Michael ging zu Hans, der sich
neben dem Amboss eine kurze Verschnaufpause gönnte und schlug ihm einen
freundschaftlichen Stoß auf den Rücken,: „Na, wie sieht’s aus, schaffen wir es
bis zum Adlerhaus?" Hans rauchte den letzten Zentimeter seiner Zigarette
in einem Zug, zuckte mit den Achseln und blies den Rauch aus seinen Lungen.
"Michi, ich habe keine Ahnung. So wie das hier aussieht, kommen wir keine
50 Meter mit dem Vogel. Das Material ist zu steif, für einen Gleitflug sind die
Flügel falsch konstruiert. Aber der Frederick sitzt lieber auf seinem fetten
Arsch, als dass er sich an dem Projekt beteiligt. Das Problem an der ganzen
Sache ist, dass wir keine ausgebildeten Fachkräfte hier haben. Ich war Gärtner,
der Freddy hat gerade mal Abitur und Max war Langzeitalkoholiker. Michael
erwiderte mit einem Lächeln, während Hans seine Zigarette auf den Fließen
ausdrückte. "Mathematiker, Physiker, Piloten, solche Leute brauchen wir.
Aber die sind ja alle im Osten verreckt. Uns bleibt nur der Rest, der für den
Krieg nicht gut genug war. Traurige Wahrheit." Michael biss sich auf seine
Unterlippe, blickte durch den Raum und stimmte nickend zu. "Ich kann euch
bei Berechnungen der Flugbahnen auch nicht helfen, aber ich habe zwei Hände.
Ich hab‘s euch versprochen, ich komm und helfe euch. Also, was kann ich
tun?" Hans deutete ihm zu Max. "Er braucht Hilfe beim Löten. Erklär
einem Trinker doch einmal wie man lötet. Nachdem er sich die Hand dreimal
verbrannt hat, bin ich erst einmal eine rauchen gegangen. Der Typ hat hier
nichts zu suchen, wenn du mich fragst." Michael sah ihn an, zwinkerte ihm
zu und sagte: "Wer hat das schon? Ich probiere mein Bestes."
Krakau, Kiew, Bukarest,
Stockholm und Helsinki waren die militärischen Starkstützpunkte der Union. Von
hier aus wurden Lang- und Kurzstreckenraketen geschossen, verteidigt und
angegriffen. Das erste Kriegsjahr verlief nach Brüssels Plänen. Der Westen wurde
stabilisiert, der Süden bis Kairo erweitert und der Osten in einen
internationalen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Soldaten wurden gut behandelt,
Ingenieure und Mathematiker vor Ort verdienten ein Vermögen. Der Feind schien
bis nach Moskau zurückgedrängt und hatte mit den Vereinigten Staaten und Japan
zu kämpfen. Ein gewonnenes Kriegsende wurde in allen Hauptstädten der Union
vorbereitet, und die Straßen füllten sich mit glücklichen Frauen und Kindern,
die ihre Väter, Söhne, Brüder und Onkels bereits sehnsüchtig erwarteten.
Max war bereits am Ende seiner
Geduld als Michael sich zu ihm stellte. Zittrig hielt er den Stahlstab in der
linken Hand, um ihn mit dem Lötkolben in der rechten zu bearbeiten. "Max,
was hältst du von einer kurzen Pause? Ich weiß, wir haben Zeitdruck, alles
scheint aussichtslos und eigentlich sollten wir alle nach Hause gehen und auf
unser Ende warten. Aber eine kurze Zigarettenpause würde doch genügen,
oder?" versuchte Michael den sichtlich überforderten Mann zu beruhigen.
Nachdem er ihn mit bösem Blick ansah, sein Kinn nach vor schob und seinen Kopf
ungläubig schüttelte, stand Max auf, holte sich eine Zigarette aus der
Hosentasche und zündete sie sich an. "Willst auch?" fragte er Michael
entnervt. "Nein, danke. Hab aufgehört." erwiderte er. "Auch
gut", sagte Max und blieb wortlos sitzen.
Als Japan nach knapp 8
Monaten kapitulierte, blickte die Großmacht aus dem Osten in Richtung Europas.
Während die siegesberauschte Bevölkerung der Union einen Angriff verlangte,
wandten sich die Politiker und Generäle verschreckt an die Vereinigten Staaten,
um militärische Unterstützung zu erbitten. Dass die Armee solche Gewinne
verzeichnen konnte, wurde nicht ihren militärischen Leistungen, eher aber ihrer
diplomatischen Teilnahmslosigkeit gutgeschrieben.
Es war bereits dunkel geworden.
Michael ging die Kärntner Straße entlang, an der er bereits am frühen Morgen zum
Dom marschiert war. Die Familien waren in die freien Geschoße zurückgekehrt und
aßen gemeinsam oder erzählten sich Geschichten an einem kleinen Lagerfeuer, um
sich das Essen gar zu machen. Es lag eine ruhige, entspannte Stimmung in der
Luft und beinahe konnte man meinen, eine neue Zeit würde anbrechen. Doch
Michael wusste, dass die Arbeit die sich die Bürger der Stadt antaten mehr
Schein als Sein bedeutete. Denn ohne ausreichend Nahrung, Kraft und Männer in
Wien würde die Arbeit noch Jahre dauern. Verbindungen zum nächsten Bezirk waren
nur persönlich möglich, da das Telefonnetz komplett zerstört wurde. Somit war
Kontakt zur Außenwelt ausgeschlossen und selbst in ferner Zukunft noch weit
entfernt.
Nachdem Kiew verloren war und
Helsinki unter massiven Beschuss eingenommen wurde, erblickte die Bevölkerung
der Union das erste Mal die wahren Gesichter des Krieges. Kinder wurden
verschleppt und vergewaltigt, Frauen auf Bäumen aufgehängt oder zu Tode
geprügelt. Von dem Gefühl der Überlegenheit war in den Augen der Opfer nichts
mehr zu sehen. Ein grauer Nebel der Trauer und der Angst machte sich über
Europa breit – und gerade im Herzen des Kontinents war die Panik ausgebrochen.
Der Großteil der eingerückten Männer war in den Brennpunkten der Gefechte
stationiert und eine Chance auf ihre Heimkehr aussichtslos gering.
Michael schlug die Augen weit
auf. Eine Hand packte ihn an seiner Schulter, während eine andere ihm den Mund
zuhielt.
Am 28. September unterschrieb
der Präsident das Dokument, welches das Genick seines Volkes brechen sollte.
Die Union zwang jedes Mitglied seine Nationalarmee und sämtliche Reservisten an
die Unionsarmee zu überstellen - auf Gedeih und Verderb der Bevölkerung. Mit 39
Millionen Mann war genügend Kanonenfutter gefunden, um die ohnehin schon verlorenen
Städte und den Krieg für einige Monate zu halten. Während die
Propagandamaschine auf Hochtouren lief, ließen der Präsident und sein Kabinett
die Koffer packen, um im Falle des Schlimmsten möglichst schnell aus dem Lande fliehen
zu können.
Mittwoch, 3. Juni 2015
In Trümmern - Teil 1
Zwei Jahre waren nun seit dem Vergeltungsschlag vergangen. Im Panorama der Stadt stachen spitze Gebäuderuinen in den Horizont. Dunkler Rauch hing wie der ewig lauernde
Tod über den zerstörten Fabriken, Häusern, Schulen und Kirchen. Die einst lebenswerteste Stadt der Welt ist zum Mittelpunkt der Grausamkeit, Unbarmherzigkeit und Gier der Menschheit geworden.
Michael lag in seinem Schlafsack als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht erfassten. Wärme und Licht waren lange Zeit verschwunden geblieben und fanden nun erst sehr scheu
und schüchtern in die Gesichter der Verschreckten zurück. Die ersten Bagger waren auf der Straße zu hören und Menschen schrien durch die Gassen. Michael öffnete seine Augen, rieb sich seine Stirn
und betrachtete die aufgehende Frühlingsonne. Seine Jeans hatten sich im feinen Nieselregen nassgesogen. Es war das wohl einzige freistehende Haus in der Stadt seitdem die Anarchie anfing. Der Grund war wohl schwer zu
übersehen, denn durch das fehlende Obergeschoss bot es kaum Schutz. Doch einen Schlafplatz mit Fremden zu teilen war in diesen Zeit höchst riskant, weshalb man niemanden trauen wollte.
Auf der Straße schuftete man bereits. Starke Männer, deren Oberkörper in der Morgensonne glänzten, schoben Gesteinsbrocken,
hebten Gruben aus, bauten Ziegelwände in die zerrissenen Fassaden, überzogen verbrannte oder vom Wind verwehte Dächer und fuhren Schubkarren Zement durch die Gegend. Die ganze Stadt war am Aufbau beteiligt und
an diesem Tag, den 73. nach der katastrophalen Zerstörung der Stadt, sah man bereits erste Fortschritte auf den Straßen. Das Parlament wurde komplett mit Ziegelwänden saniert und die Staatsoper vollkommen überdacht. In diesen Gebäuden
fanden bis zu 300 Familien ihren Schlafplatz, auch wenn durch Sicherheitsmaßnahmen kaum Platz gespart wurde.
Michael ging in die Oper um seine tägliche warme Mahlzeit zu ergattern. Es war bereits 9.27 Uhr geworden, und in diesen Zeiten hieß es: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
In der Empfangshalle warteten bereits weit über 100 Menschen vor ihm, obwohl die Ausgabe erst Punkt 10 begann. Viele Menschen waren von dieser Mahlzeit abhängig. Da sind eine Schüssel Kartoffeleintopf und 4
Brotscheiben bereits der weite Weg wert.
Die Menschen tuschelten und nuschelten in kleinen Gruppen. Sicher fühlte sich niemand in Gesellschaft anderer seitdem die Gesetzregelung außer Kraft getreten war.
In Familienklans, die oft nicht mehr als 5 Personen betrugen, regelten sich die Menschen ihre Gesetze selbst. In der Not schreibt der Hunger die Gesetze. Geplündert und geraubt wurde nicht, allein aus zwei Gründen.
Der erste war wohl, dass es gar nichts mehr zu plündern gab, der zweite, dass nach den schrecklichen Zeiten niemand mehr sein Leben aufs Spiel setzen wollte und schönere Zeiten erhoffte. Dazu trug jeder aus Gründen
der Selbstliebe bei; Männer halfen beim Aufbau der Gebäude, versuchten Essen im Wald um der Stadt zu jagen oder zu sammeln, Frauen halfen bei der Nahrungsbesorgung, verteilten sie, kümmerten sich um Waisenkinder,
erzogen ihre eigenen, und planten die nahe Zukunft der Stadt; junge Männer halfen ihren Vätern oder gingen Holz sammeln, putzten und schliffen Steine, junge Frauen webten Kleidung, spielten Musik, um der Depression
entgegenzuwirken oder malten der Bevölkerung Bilder aus Kreide und Kohle. In diesem Leichnam einer Gesellschaft, in der der Fortschritt einst nicht schnell genug vorangetrieben werden konnte, erhofften die Menschen nun
den nächsten Tag des nächsten zu überleben.
Jetzt war Michael an der Reihe. Er nahm die Plastikschale Eintopf und einen Becher kaltes, sauberes Wasser dankend an, ging damit zu einer der freien Holzbänke, die überall
in den Saal der Oper gestellt wurden. Hastig aß er seinen überwürzten Gulascheintopf mit den harten Brotscheiben und trank den halben Liter klares Wasser herunter, um sich seiner Arbeit zu widmen. Er stellte das schmutzige
Geschirr mit einem dankenden Gruß zu den anderen und verließ das mächtige Gebäude. Sein Weg führte über die Kärntner Straße, deren Gebäude von allen Seite aufgerissen waren.
Beim Vorbeigehen konnte man die Schlafsäcke und einfach kostruierten Zelte innerhalb der Stockwerke betrachten, Kinder und deren Eltern, die sich ihren Tee über offenem Feuer erwärmten. Welch trauriges Leben
die Generation der Zukunft zu erleiden habe, wollte sich Michael bei diesem Anblick nicht fragen. Mit den Händen in seinen Jeanstaschen ging er weiter, bis er bei dem verfallenen Stephandsom ankam. Die Spitzen waren weggesprengt
und jede Art der auffällig konstruierten Kunstwerke an dem Gebäude mit ihnen. Übrig blieb ein armseliges, verbranntes Gebäude, welches ein Opfer von vielen war.
Nachdem die erste Bombe detonierte verspürte man ein starkes Beben in der Stadt. Sie verfehlte ihr Ziel um einige Kilometer und brachte nicht die erwünschte Wirkung
mit sich. Die zweite Bombe erfüllte ihre Aufgabe mit vollstem Erfolg. Ein Druck, der aus der Höhe von 250 Metern Höhe auf die Erde stieß, ließ Häuser im Umkreis seiner Hauptwirkung zersträuben.
Der große Rest der Stadt wurde von einem Windhauch des Teufels in verschiedenste Neigungen verdreht. Ein Drittel der Bevölkerung starb unmittelbar dabei; mit ihr die Bezirke und Ämter, die Demokratie und der
Rechtsstaat. Ein Land dahingerafft – in 15 Sekunden.
Montag, 1. Juni 2015
Vierzeiler
Lass' sie kommen, lass' sie gehen;
ihre Liebe sei dein Lohn;
kannst sie anschrei'n, kannst du flehen;
sie flüstert Worte morgen schon.
Wird dich mitnehmen, lässt dich steh'n;
deine Zukunft ist ihr gewiss;
nach Freiheit wirst dich sehnen;
jeder Kuss von ihr ein Biss.
Deine Werke sind Arbeit ihres Geistes;
ein Spiegel ihres Wunders nun;
der Lohn, nicht Lohn deines Fleißes;
sondern ihres liebstes Tun.
Doch nicht einer vermag zu wissen;
wann sie dich verlässt;
die Muse, war noch heut' am Küssen;
morgen schon im nächsten Nest.
Sonntag, 31. Mai 2015
Der Mann ohne Obdach
"Obdach" bedeutet Unterkunft oder Wohnung. Obdachlosigkeit wird definiert als Zustand, in dem Menschen über keinen festen Wohnsitz verfügen und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten.
Martin wacht gleich neben Plastikmülltonne mit rotem Deckel
auf – wie das danebengeworfenes Altpapier um ihn herum liegt er da, greift sich
auf die Schläfe, um den Druck in seinem Kopf auszugleichen. Doch es hilft alles
nichts, und so steht er auf, um sich die Laubblätter und die Papierfuseln vom
Leibe zu streichen. Mit den Gedanken noch bei letzter Nacht verlässt er die
dunkle Seitengasse, aus der er getorkelt kam. Die Straßen sind voll von
Menschen, die zur Arbeit laufen oder einkaufen oder anderen Erledigungen
nachgehen – es ist Samstag. In vielen Sachen ist Martin entgegen der Meinung
der Bevölkerung ein guter Mann. Auch wenn er keinen Wert auf sein Äußeres legt,
weil Obdachlose sowieso stinken, wie er sagt, so hat er ein Herz für alles und
jeden – ganz besonders für Hunde. Wann immer Martin einen Hund sieht, geht er
auf ihn zu. Sofern der anvisierte Hund nicht fortrennt, entwickelt sich eine
oft lang andauernde Freundschaft zwischen Hund und Mensch. Oft teilt Martin
seinen Schlafplatz und sein Abendmahl mit den Hunden der Umgebung. Das richtige
Verhältnis an Straßenkötern und halbfrischem Essen in den umliegenden
Containern und Mülleimern ist gegeben und so sind alle glücklich: Die Hunde
freuen sich über das festlich hergerichtete Abendmahl und einen gesicherten
Schlafplatz in der dunklen Seitengasse, während der alte Martin sich über die
Gesellschaft seiner Gäste freut.
Der alte Martin war vor langer Zeit mal jung gewesen –
studiert hatte er sogar, in seiner Heimatstadt. Das Schicksal hatte sich ihm in
großzügiger Manier anvertraut und so lebte er als Waise einer Arbeiterfamilie
entsprungen, in der wundervollen Villa seiner Adoptiveltern. Sein echter Vater
war ein Schläger und Säufer gewesen. Eines Nachts kam er sturzbetrunken nach
Hause und schlug seine Frau halbtot, weil sie ihm das falsche Bier kaltgestellt
hatte. Es dauerte nicht lange, bis die Nachbarn das Jugendamt einschalteten und
Martin aus dieser Hölle befreiten. Seine neuen Eltern kamen aus Amerika –
George und Natalia waren zwei wohlhabende Textilfabrikanten, deren Neugier und
Unternehmungslust sie nach Europa führte. Sie nahmen den kleinen Martin auf –
und erzogen ihn wie ein eigenes Kind. Es dauerte nicht lange, da entwickelte
Martin ein äußerst feines Gespür für seine Umwelt. Wenn jemand traurig war, so
konnte er es der Person ablesen, egal wie sie sich gab. Er war ein guter und
ehrlicher Freund, der seinen Kumpanen immer Rat gab, wenn sie zu ihm kamen. Sie
kamen oft zu ihm und so nannten sie ihn bald Weiser Martin. Er studierte auf einer Privatuniversität und lernte
neue Menschen kennen. Die meisten von ihnen waren verlogen und falsch, stets an
ihrem eigenen Profit, den sie aus jeder Sache schlagen konnten, interessiert. Martin
fand nicht viel Gefallen an den wöchentlichen Discobesuchen und so schottete er
sich bald ab, las in seinen Büchern und spielte Musik. Die Jahre vergingen und
nach dem Studium machte sich Martin, ganz gegen den Wunsch seines Ziehvaters,
auf den Weg nach Südafrika, um dem Leben auf den Grund zu gehen. Es dauerte
nicht lange, bis er im Umland von Kapstadt einen jungen Mann traf, der in etwa
im selben Alter war. Sie unterhielten sich eine Weile und er fand heraus, dass
der junge Mann Jacob hieß. Jacob wohnte in den Slums vor Kapstadt. Obwohl er
bitterarm war und nur eine schäbige Papphütte mit einem Dach aus Plastikfolien
sein Eigen nannte, bot er Martin an, ihn zu besuchen. Der weiße Martin fiel im
südafrikanischen Ghetto schnell auf – beinahe alle Bewohner hier waren schwarz.
Der Großteil freute sich über den europäischen Besuch und Martin kündigte bald sein
Hotelzimmer, um bei Jacob und seinen Freunden zu wohnen. Die Nächte waren von
Musik, Rum und herzlichen Menschen begleitet. Fast jeden Abend fand irgendwo in
der Hüttenstadt ein Fest, ein Peace-and-Freedom
Evening, statt. Martin war bald so beliebt wie bekannt in der Gegend – er war
herzlich und das exakte Gegenteil der zuvor gefürchteten und gehassten weißen
Minderheit im Lande. Er ließ sich Zeit – mit den Monaten verfilzten seine Haare
zu dicken Dreadlocks und seine Haut wurde unter der Sonne karamellbraun. Er
begann den örtlichen Dialekt zu sprechen und wurde von allen nurmehr Mart genannt. Er fühlte sich wohl und
dachte kaum mehr an Zuhause, an seine Eltern oder die Kollegen, die er
zurückgelassen hatte.
Heute denkt Martin gerne an die Zeit in Afrika zurück – sie war
eine der lehrreichsten Epochen seines Lebens. Als er zurückkehrte, scherte er
sich die Haare kurz und trug wieder lange Hosen. Bald erkannte er, dass er im
Geiste noch bei seinen Freunden war. Martin bemühte sich einige Jahre lang, den
gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Einige Zeit arbeitete er als
Redakteur einer Zeitung, doch wegen der Unzuverlässigkeit, wie sein Chef Martins
fehlendes Gefühl für Pünktlichkeit bezeichnete, wurde er aber bald gekündigt.
Es folgten schwere Zeiten als Milchmann, Fabrikarbeiter und schließlich
Arbeitssuchender. Martin begann mit dem Trinken, verlor rasch seine Wohnung und
landete auf der Straße. Seit 3 Jahren nun wohnt er, wie Jacob und seine alten
Freunde, in einem selbstgebauten Häuschen, mit einem Dach aus Plastikfolien.
Die örtliche Polizei drückt beide Augen zu – er tut niemandem was, heißt es aus
inoffizieller Sicht der Polizisten. Doch der Mann mit zerzaustem Bart und
zerfledderter Kleidung ist noch nicht am Ende angelangt! Vielleicht schafft er
es, eines Tages eine Bleibe zu finden, in der er willkommen ist – dann hat er
bessere Jobaussichten und kann als Akademiker einem geregelten Leben nachgehen.
Die fiktive Figur des Martin basiert auf Erzählungen eines
Obdachlosen. Sie inspirierten die niedergeschriebene Geschichte.
Freitag, 29. Mai 2015
Die silberne Taschenuhr
"Gefällt dir,
nicht wahr?", sagte die Frau mit einem breiten Grinsen. Sie sah Jakob mit
großer Entzückung zu, der sich in diesem Moment erst dem fehlenden Geld bewusst
wurde, das diese Uhr kosten würde. Er zuckte etwas zurück und sagte mit unbeholfener,
beinahe unterwürfiger Stimme: "Verzeihen Sie mir vielmals, gute Frau, aber
dieses Stück kann ich mir sicherlich nicht leisten." Das breite Lächeln
der Frau veränderte sich nicht als sie Jakob tief in die Augen sah und
schließlich sagte: "Ich schenke sie dir. Bin mir sicher, dass mein Bruder
sie für jemanden wie dich aufgehoben hat. So einiges Abenteuer wirst du mit dem
alten Stück erleben, mein Junge." Jakob wusste nicht recht, wie er seine
Freude zum Ausdruck bringen sollte, streckte der Alten seine Hand entgegen und
bedankte sich in freudefüllender Rede. Nachdem sie ihm noch einmal das Beste
gewunschen hatte und sagte, er solle mit dem Geschenk vorsichtig umgehen,
bejahte er ihre Anweisung und begab sich auf den Heimweg.
Gute Laune führte
Jakobs Beine an und so melodisierten seine Stiefelabsätze fröhlich auf den
Backsteingassen. Die Sonne war bereits hinter die Dächer der wiener Altstadt
gewandert und warf nurmehr einen hellroten Schein über den Häuserhorizont. Zu
Hause angekommen warf Jakob seinen schwarzen Wollmantel auf den Tisch, zog
seine Schuhe im Gehen aus und landete nach einem gekonnten Sprung sicher und
sanft auf seiner Ledercouch. Pfeifend nahm er die Fernbedienung seiner
Musikanlage in die Hand und startete die Liederliste – Mozarts Violinkonzerte.
An der Wand hangen ziervoll umrahmte Kunstdrucke von Caravaggio und Poussin,
deren dunkle, kräftige Schattierungen das sonst spärlich eingerichtete Zimmer
mit Leben und Pulsierung füllten. Die schwarze Ledercouch, die Jakob von seinem
Vater beim Umzug in die Wohnung geschenkt bekam, war das einzig teure
Möbelstück in der gesamten Wohnung. Auf farbliche oder stilistische Harmonie
achtete Jakob nicht und schätzte sowohl den weißen Fernsehtisch, als auch den
kirschholzbraunen Kleiderkasten und den scharlachroten Schreibtisch. Sein
liebstes Stück jedoch war der Bücherschrank, der Jakobs größten Stolz
darstellte. Seit er das Lesen erlernt hatte, wurden allerlei Bücher von ihm
gesammelt, allem voran aber Geschichtsbücher. Wann immer Jakob Zeit fand,
stellte er sich vor das gefächerte Regal, wählte einen Band, setzte sich auf
die schwarze Ledercouch und schmöckerte bis er einschlief, was oft noch auf
dieser passierte. Dass er seine Musiksonaten in hohen Lautstärken genießen konnte,
verdankte er seinen schwerhörigen Nachbarn, die in ihm einen besonders reifen,
attraktiven, jungen Mann sahen, der sich für Kunst und Kultur und "all die
schönen Dinge im Leben" interessiere, wie es die Dame immer wieder sagte.
Jakob hielt die silberne
Taschenuhr in seiner Hand. Diese Gravierungen waren ein handgemachtes
Meisterwerk, das konnten selbst seine Laienaugen erkennen. Langsam öffnete er
die Uhr und strich über das kratzerfreie Glas. Es war keine Marke vermerkt,
auch kein Jahrgang oder ein anderes Indiz, das das Geheimnis dieser Uhr zu
lüften vermochte. Ein leises Quietschen war zu vernehmen, als er das Werk
aufzog. Mit jeder Umdrehung spürte Jakob einen etwas größeren Widerstand, bis
sich der Kopf gar nicht mehr drehen ließ. Kaum hatte er die Uhr beiseite
gelegt, überfiel ihn eine unaussprechliche Müdigkeit, die an seinen Gliedern zu
zerren begann, sich die Wirbelsäule hochschlang, schließlich seinen Kopf in
ihren Besitz nahm und ihm somit jeden Gedanken raubte. Obwohl sich Jakob
darüber bewusst war, dass diese Müdigkeit etwas Unnatürliches an sich hatte,
fiel es ihm immer schwerer, die Augen offen zu halten, so sehr, dass der Kampf
bald verloren war und er auf seiner weichen Couch zusammensackte. Während
Wolfgang Amadé Mozart die Violinen spielen ließ, fiel Jakob in einen tiefen,
unruhigen Schlaf.
Der Morgen wurde von tiefen Nebelschwaden begleitet. In den
engen Backsteingassen hallte das Knarren der Fiakerkutschen, deren Räder die
ausgestreuten Kieselsteinchen sprengten. Ein lauter Peitschenschlag, dessen
Knall die friedliche Morgenstille durchschnitt, fuhr durch Jakobs Ohren und
ließ ihn aufschrecken. Auf seiner Stirn zeichnete sich im Glanz seines
Schweißes das drückende Wetter der vergangenen Nacht ab. Jakob schnaufte kurz,
setzte sich auf und spürte, dass sein Gesäß auf einem harten Untergrund
landete. Als seine Hand auf eine hölzerne Bank griff, deren Oberfläche
abgenutzt und weichgeschliffen war, weiteten sich seine Augen, während er
seinen Mund weit aufriss. Wo war die Ledercouch verschwunden, wohin war die
gesamte Einrichtung von Jakobs Wohnung gewandert? Immer wieder wendete er sich,
im Kreis drehend, suchte er einen Sinn, denn das Zimmer war dasselbe, das
wusste er mit Sicherheit. Fassungslos bewegte er sich langsam zur kalkweißen Wand,
berührte sie mit allen Fingern. An genau jener Stelle befand sich am vorherigen
Abend noch Caravaggios Medusa Kunstdruck, dessen furchterfüllte Mine sich nun
in Jakobs Gesicht wiederspiegelte. Er befand sich in seinem leeren Zimmer, in
dessen Mitte einzig die hölzerne Bank stand, auf der Jakob aufwachte. Weder der
Schreibtisch, noch der Bücherschrank, auch nicht sein Einzelbett oder
Kleiderkasten standen im Raum. Erst jetzt bemerkte Jakob, dass er nicht einmal
mehr seine Kleidung vom gestrigen Tag anhatte – stattdessen fand er sich in
brauner Kordhose und weißem Hemd, über dem schwarze Hosenträger gespannt waren,
wieder. Der Kragen war steif und ungetragen, wie auch die Hose und die
schwarzen Lederschuhe. Jakob ging aus dem Zimmer und stand nun vor der Eingangstüre,
die viel älter aussah als noch am Tag zuvor. Im Badezimmer war keine
Duschkabine mehr und auch die Waschmaschine war verschwunden. In der Küche
befand sich kein Herd und keine Teller, ja nicht einmal der Kühlschrank stand
noch in der Ecke, wo er sonst immer stand. Verwirrt und kopfschüttelnd ging
Jakob zurück ins Zimmer und setzte sich auf die Holzbank. In sich
zusammengesackt saß er da, faltete die Hände zusammen und legte seinen glühend
heißen Kopf darin. Er holte tief Luft. Dann, als er die Augen nach einer kurzen
Weile wieder aufschlug, bemerkte er ein kleines, glitzerndes Stück Silber unter
seinem Fenstersims. Jakob stand auf, eilte zum Fenster und hob die kleine
Taschenuhr auf. Sie tickte nicht mehr. Als er auf das Ziffernblatt sah, bemerkte
er, dass die Uhr um 5:41 stehengeblieben war. Hastig steckte er die Uhr ein und
verließ seine Wohnung.
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