Donnerstag, 17. Dezember 2015

Du fehlst.

Brauner Cockerspaniel.
Du fehlst.
Rotes Feuerwehrauto.
Du fehlst.
Fröhliche Kinderlieder.
Du fehlst.
Miniatur-Sammelfiguren.
Du fehlst.
Krautflecken und Eiernockerl.
Du fehlst.
Takt der Pendeluhr inmitten lautloser Stille.
Du fehlst.
Goldenes Kreuz - dahinter ein Buch von Johannes Paul II.
Du fehlst.
Engelfiguren aus Porzellan.
Du fehlst.
Dein seliges Lächeln.
Du fehlst.
Ein Grab. Ein Kreuz. Ein Engel aus Porzellan.
Du fehlst.

Mittwoch, 17. Juni 2015

Der Schriftsteller

In diesen Monaten nannte ich nicht mehr als ein paar Hosen, zwei, drei Hemden und mein abgetragenes Paar Schuhe mein Eigen – aber mehr verlangte ich vom Leben nicht. Ich war glücklich mit dem Zustand dieser absoluten Freiheit – tatsächlich spürte ich die guten und schlechten Seiten und Zeiten dieses Umstandes. Eines Abends, ich saß wie so oft an den Stufen des Burggartens und schrieb die Geschichten meiner Fantasie aufs Papier, da kam eine alte Dame an mir vorbei. Ich sah sie von meinem Augenwinkel aus, beobachtete sie, wie sie mich wohl beobachtete. Interessiert setzte sie sich nach einer Weile zu mir und blickte mir, unverschämt wie sie war, in meine Notizen. „Was schreiben Sie denn da?“, fragte sie höflich aber bestimmt. Mein Blick verriet ihr wohl nicht genug und so fragte sie abermals: „Nun sagen Sie schon, was schreiben Sie denn hier?“ So verrückt ich ihre Frage fand, so bestürzte sie meine Antwort darauf. „Was, Sie schreiben hier Geschichten?“,  quiekte sie vor Entsetzen. Ich musste lachen, bat die edle Dame jedoch sofort um Verzeihung, ich hätte schon viele Reaktionen erlebt, sagte ich ihr, aber solch ein Entsetzen hatte ich mit meinen Geschichten noch nie ausgelöst. Sie fragte mich, wie alt ich denn wäre, als wäre das Schreiben von Geschichten eine Kindesangelegenheit. Die Frage warf ich natürlich zurück, worauf ich eine enttäuschte Mine als Antwort zugewandt bekam. Sie kam regelmäßig vorbei, und so lernten wir uns in diesen sonnigen Tagen kennen. Ich nannte sie Frau Fuchs, aufgrund ihres Fuchsfelles, das sie stets als Schal um ihren faltigen Hals geschwungen hatte. Ihren echten Namen hatte sie mir nie genannt, vielleicht hatte ich ihn jedoch erraten – ich habe es nie erfahren. Frau Fuchs war meine fleißigste Leserin – hätte ich mehr Menschen wie sie begeistert, ich hätte in diesen Wochen ein Obdach gehabt. Nun, Frau Fuchs wusste wahrscheinlich nicht um meine Situation, und so sprach sie stets in guten Tönen von mir, eine positive Kritik inmitten der schweren Zeit, die mich stark aufzubauen wusste. Tatsächlich, unsere Bekanntschaft war etwas ganz besonderes.

An den wärmeren Tagen hatte ich meinen Spaß im Stadtpark, wo ich mich auf abgeschiedene Plätze setzte und den Leuten zusah. Sie taten oft nichts besonderes, meist saßen sie auf einer Parkbank und plauderten über dieses und jenes. Genau daraus bestand der Stoff, der die Menschen entzückte und bewegte, entbrannte und mit sich fortriss. Mit der Zeit lernte ich die Leute kennen, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Ich erfand für jede Person eine Geschichte, die ganz auf meine Vorstellungen von ihr zugeschnitten war. Eine Dame, zum Beispiel, war für mich eine gutverdienende Geschäftsfrau, die mit allerhand wichtigen Staatsmännern telefonierte und konsequenzreiche Entscheidungen zu treffen hatte. Die Vorstellung hatte ich mir natürlich nicht einfach so aus den Fingern gesogen: Wann immer ich sie sah, saß sie nervös auf einer Bank und telefonierte. Mit ihrer rechten Hand fuchtelte sie wild umher und schien damit ihre berufliche Prägnanz zum Ausdruck bringen zu wollen. An manchen Tagen saß ich in akustischer Reichweite  und konnte ihre Stimme vernehmen – sie klang angespannt und hektisch. Für mich war sie eine starke, große Person, die mit beiden Beinen im Leben stand und viel Verantwortung trug. In dieser einen Hinsicht hatte ich schlussendlich recht: Nach einigen Monaten erfuhr ich von einer Passantin nach einem langen Gespräch, dass die imaginierte Geschäftsfrau Mutter von drei Kindern war – die Gespräche fanden mit ihrem heutigen Exmann statt.

Wenn man auf der Straße lebt, lernt man gezwungenermaßen viele Menschen kennen – es kommt auf das eigene Geschick an, diese Bekanntschaften zu nutzen. Der eine mag sie für eine finanzielle Bereicherung gebrauchen, der andere sieht in ihnen neue Freundschaften und Vertrauenspersonen. Ich hatte stets nach den Geschichten der Menschen gefragt. Wann immer ich die Möglichkeit hatte mit jemandem zu reden bat ich ihn mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Man erzählte gern von sich selbst – manche waren stolz auf ihre Taten, und manche schämten sich gar – erzählen wollten sie aber alle. Wichtig war es in diesen Situationen offen und ehrlich zuzuhören. Ich versuchte mich in die Rolle des Erzählenden zu bringen, so, dass ich die Bilder der Geschichten vor meinem inneren Auge zu sehen bekam. Jedes Mal fühlte ich mit den Menschen und lachte oder weinte mit ihnen. Es war selbstverständlich, mich bei ihnen zu bedanken und ihnen mit Rat zur Seite zu stehen. Oft entstanden längere Bekanntschaften und bald schon war ich eine Art Sensation des Stadtparks, der Stadtparkschreiber. Aber nicht nur die Besucher des Parks beanspruchten meine Aufmerksamkeit, auch die Bewohner weckten mein Interesse. Vögel, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Enten und ab und zu kam sogar eine Hauskatze auf Nachtbesuch. Wahrscheinlich wusste ihr Besitzer nichts vom Ausreißen des getigerten Freundes und so machte sie sich gelegentlich auf die Suche nach Mäusen und Vögel. Das Geheimnis dieser Katze mit ihr zu teilen bereitete mir ein großes Vergnügen und so beobachtete ich sie oft beim Jagen und Spielen. Eine meiner lebhaftesten und lustigsten Geschichten handelt von genau dieser Katze.

Oft fragten mich die Leute, warum ich das Dasein als Obdachloser einem normalen, geregelten Leben vorziehen würde. Ich musste ihnen immer wieder erklären, dass es nicht meine Entscheidung gewesen war, im Freien zu leben – viel mehr fehlte mir die finanzielle Unabhängigkeit, um mir einen Wohnplatz anmieten zu können. Manche Menschen baten mir daraufhin einen Schlafplatz bei ihnen  an – ich lehnte ihre Angebote stets ab. Das lag nicht etwa an Furcht oder Unsicherheit – viel mehr wollte ich meinen anspruchslosen Lebensstil nicht verlieren. Spätestens an dieser Stelle schüttelten alle Menschen ihren Kopf: Wieso ich ihr Angebot ablehnte, einen freien Wohnplatz zu bekommen, wenn ich doch gerne ein Heim hätte, das konnten sie nicht nachvollziehen. Sie wollten nie verstehen, dass ich mich hier wohl fühlte, und meinen Schlafplatz als einen gerechten Platz empfand. Mehr brauchte ich hier nicht zum Leben – ein paar Euros bekam ich täglich, nicht durchs Betteln, ich schrieb kurze Geschichten und bat sie zum Verkauf an. Die Leute dankten es mir mit milden Gaben – bis zu fünf Euro bekam ich für eine zehnseitige Geschichte. Mein Leben war gut und ich erinnere mich gerne an diese Tage zurück, die ein fester Teil meines Lebens gewesen waren.

Dann, als der Winter einbrach, musste ich mir eine Bleibe suchen. Das Schicksal wollte mir einen rechten Haken verpassen, also fand ich keine Verdienstmöglichkeit und musste, beinahe mittellos, in ein Obdachlosenwohnheim ziehen. Die Betten wurden jeden Tag neu vergeben, ich musste mich bereits früh anstellen – viel Zeit ging in diesen Wochen verloren. Ich lernte wieder viele neue Leute kennen: Herr Gabriel, beispielsweise. Er war in etwa so alt wie ich und dem Alkohol verfallen, aber kein Mann auf dieser Erde konnte sich eines besseren Humors behaupten. Wenn jemand im Zimmer schlechte Laune hatte, wusste er sie ihm sofort auszutreiben, vorausgesetzt der Alkoholpegel entsprach seinen Mindestanforderungen. Der Herr Gabriel war eine gute Seele, die viel zu früh von uns ging. Aber so ist das, Leute gehen, Leute kommen. Eines Morgens, ich war bereits wach uns schrieb an einer Kurzgeschichte, wachte Herr Gabriel neben seiner Flasche Wodka auf und fragte mich, warum ich erfundene Geschichten auf leeres Papier schreibe; immerhin wäre es um die Tinte schade, weil das nie jemand zu Gesicht bekommen würde. Als ich ihm dann entgegnete, dass es mein Wunsch wäre, Menschen mit meinen Geschichten zum Lachen zu bringen, schnappte er sich eine meiner Geschichten und fing an zu lesen. Als ich ihm beim Lesen beobachtete, konnte ich sein seliges Lächeln sehen – es war ein ehrliches, erfreutes Lächeln. Dieser kurze Augenblick hatte all den Strapazen in dieser Zeit einen hohen Wert gegeben.

Mittlerweile lebe ich ganz gut von meinen Geschichten – ich kann mir eine regelmäßige Miete leisten und muss keinen Hunger leiden. Ehrlich gesagt ist dieser Lebensstil für mich purer Luxus und ich finde es schade, ihn mit niemandem teilen zu können. In den wärmeren Monaten setze ich mich fast täglich in den Burggarten, direkt auf die Stiegen, wo ich schon in früheren Zeiten gesessen bin. Ich sehe den Leuten zu und schreibe ihre Geschichten nieder. Frau Fuchs ist gestorben und so auch Herr Gabriel, aber sie spiegeln sich in meinen Texten wider und bringen so dem einen oder anderen Leser ein weiches Lächeln auf die Lippen. Ich habe kein großes Lebensziel, keine Visionen oder Friedensträume. Ich bin und bleibe stets der arme Schriftsteller mit zwei, drei Hemden, einer alten Militärjacke und meinem abgetragenen Paar Schuhe. Wenn Sie mich einmal auf der Straße sehen, sitzend oder stehend, schreibend oder denkend, seien Sie so nett und erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich werd’s Ihnen danken. 

Montag, 15. Juni 2015

Opa Dorsch

An der weißen Veranda saß ein zitternder Mann im Rollstuhl. Seine Augen waren mit dem Alter trüb geworden, seine Haut hing in tiefen Falten herunter und dunkle Flecken breiteten sich über seine Arme und Hände aus. Doch sein Lachen, das war jung und ehrlich geblieben, wie das eines Kindes. Herr Dorsch war bereits 97 Jahre alt, oft aber behauptete er, er wäre erst 57, oder an manchen Tagen, wenn ihm die gute Laune bis in den Kopf stieg und sich in einem breiten Lächeln zeigte, da war er sich sicher, noch keine 30 zu sein. Aber das Alter spielte beim alten Dorsch eine untergeordnete Rolle – wer immer zu ihm kam, der wurde mit Respekt und Charme vom ehemaligen Geschäftsmann empfangen. Er wohnte in einem privaten Pflegeheim, unweit eines großen Waldstückes, wo die Bewohner in den warmen Monaten den Bäumen und seinen Bewohnern zusahen – erst im Alter fing man an, den ewigen Kreislauf des Kommen und Gehens zu verstehen. So saß Herr Dorsch gerne im Grünen, so wie eines Tages auch, als sein Urenkel, Sebastian Dorsch, ihn besuchen kam. Man muss an dieser Stelle wissen, dass Herr Dorsch nur ungern mit seinem Vornamen angesprochen wurde – das hatte persönliche, aber auch gesellschaftliche Gründe. An diesem Frühlingstag also, begrüßte Dorsch seinen Urenkel, den Studenten und schloss ihn in die Arme. „Groß bist du geworden“, sagte Dorsch mit hochgezogenen Brauen. „Ja, 23 werde ich dieses Jahr“. Sebastian lächelte ihn an. Dorsch sah Sebastians Nadelstreifanzug an – „Ach, geschäftlich unterwegs?“ „Nein“, sagte Sebastian, „So geht man einfach ins Studium, heutzutage.“ Der alte Mann betrachtete seinen Urenkel eine kurze Weile, bis er seinen Mund schloss und die Aussage einfach abnickte. „Hast wohl recht, Bursche.“

Eine Pflegerin kam den Waldweg entlang spaziert. Sie war nicht älter als Sebastian und trug eine beige Schürze um die Jeans geschnürt. Mit großen, vorsichtigen Schritten versuchte sie den kleinen Wasserlacken inmitten der weißen Blütenlandschaft auszuweichen. Sie stellte sich sehr tollpatschig an und als Sebastian ihren ausbalancierten Gang sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bianca“, empfängt sie der alte Mann mit freudigem Strahlen im Gesicht. Als er ihr genauer ins Gesicht sah, konnte Sebastian sicher sein, dass sie noch keine 25 war. Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah zu ihm herüber als sie sagte: „Maria, ist mein Name, Herr Dorsch. Was darf ich Ihnen und ihrem Enkel denn bringen?“ – „Urenkel“, unterbrach sie der Dorsch mit Stolz in seiner Stimme. „Also ich hätte gerne einen Apfelsaft, wenn’s sein darf.“ „Für mich bitte das selbe.“, fügte Sebastian schüchtern hinzu. Maria lächelte freudig ihn an, nickte artig und machte sich auf den Weg zurück ins Altenheim. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“ Die dicken Lippen des Greises formten sich zu einem runden Kussmund. „Opa Dorsch!“, ermahnte ihn sein Urenkel lachend. „Nein, nein, ist doch kein Problem“, entgegnete ihm der Greis. „Bin zu deiner Zeit auch allem nachgejagt. Das liegt den Männern einfach im Blut, glaub mir das.“ Doch Sebastian war viel zu schüchtern, um weiter auf das Thema einzugehen und so füllte eine kurze Pause der Stille den Ort. Erst jetzt bemerkte Sebastian die selige Ruhe, die diesen kleinen Fleck inmitten des Waldes umhüllte. Vereinzelt hörte man Vögel zwitschern und von Weitem konnte man das Lachen alter Menschen vernehmen. Der Wind säuselte in einer vertrauten Melodie in Sebastians Ohren und umhüllte die beiden Herren am Tisch der Familie Dorsch.

Maria kam bald wieder und stellte den Apfelsaft auf den Tisch. „Darf ich sonst noch etwas tun?“, fragte sie die beiden Herren, ohne dabei Sebastians Blick zu beachten. „Naja, also wenn Sie so fragen, Gnäd’s Fräulein“, begann der alte Mann zu lächeln, „Mein Enkel, der Sebastian, ist ein aufgeweckter Bursche, müssen Sie wissen. Ich glaub, dass er ein wenig Gefallen an Ihnen findet, Sie verstehen?“. Sebastian sah verkrampft zum Boden und spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anstieg. Maria aber, schien mit der Situation besser umgehen zu können. „Er scheint ganz nach seinem Opa zu kommen, zuvorkommend und herzlich.“, entgegnete sie ihm schmunzelnd. „Uropa.“, verbesserte sie der alte Dorsch mit erhobenem Zeigefinger. Sebastian fing Marias Blick auf und verlor sich in ihren großen, braunen Augen – Gefühle der Glückseligkeit schossen ihm vom Bauchnabel in den Kopf. Er sah ihr Lächeln, er wusste, dass es ihm galt, doch sein Gesicht war wie gelähmt und so blickte er sie mit erstarrter Mine an. „Also mir tut der Rücken schon wieder weh, ich sollte mich etwas hinlegen.“, sagte Dorsch mit zugezwinkertem Auge zu Sebastian. „Was du willst schon gehen?“, fragte ihn sein Urenkel geschockt. „Mach dir um mich keine Sorgen.“, sagte der Mann mit herzlicher Mine. „Hast doch eine gute Bekanntschaft gemacht. Am besten setzt ihr euch zusammen und lernt euch erst einmal kennen. Ich finde sie nett!“ Sebastian sah Maria schüchtern an und spürte ihr Lächeln in seinem Herzen. Herr Dorsch verabschiedete sich mit einer festen Umarmung. „Wünsch dir was,“ seine Worte klangen ehrlich und warm. Während Opa Dorsch über den Waldweg zurück ins Heim geschoben wurde und weiße Apfelblüten in seinen Schoß fielen, setzte sich Maria zum weißen Tisch, wo sie sich dem gutaussehenden Sebastian noch einmal vorstellte.


Herr Dorsch starb die Woche darauf – er hatte Sebastian nicht wieder gesehen. Die Beerdigung war düster und traurig. Während die engsten Familienangehörigen weinten, standen Freunde, Bekannte und mögliche Erben abseits und blickten bekümmert auf den großen, dunklen Eichensarg. Sebastian ergriff Marias Hand, als der Sarg in die Erde herunterfuhr. Die Trauerrede seines Onkel Konstantin trieb ihm und auch seiner Freundin warme Tränen über die Backen. Als alle gegangen waren und auch der Priester Abschied genommen hatte, stand Sebastian noch einmal vor Opa Dorschs Grabstein. Bedacht fuhr er die eingravierten Buchstaben nach. Erinnerungen spiegelten sich in seinen Gedanken wieder und so sah er in den Himmel und schickte ihm einen stillen, dankbaren Gruß. Maria stand auf dem hellen Kiesweg und ergriff seine Hand, als er auf sie zukam. „Eines hätte er nicht gewollt“, sagte Sebastian, und warf einen letzten Blick auf den Marmorstein. Als Maria ihm einen fragenden Blick zuwarf, da fügte er hinzu: „Dass man seinen Vornamen dran schreibt. Ich glaube Opa Dorsch hätte er lieber gehabt.“ Beide lächelten kurz, und dann verließen sie das Grab des 97 jährigen Adolf Dorsch, das von Apfelbäumen umgeben war. 

Sonntag, 14. Juni 2015

Junge Liebe

Es war ein edler Altbau in dem er wohnte, mitten im Herzen der Stadt. Sie öffnete die große, weiße Flügeltür und fand sich in einer Wohnung, die mit ihrem prächtigsten Traum nicht mithalten konnte. Der Vorraum war ausgeschmückt mit Portraits von Caravaggio, seinem absoluten Lieblingskünstler, wie er ihr als Erklärung gestand. Sie ging auf dunkelbraunem, feinst geschliffenen Parkettboden, der sanft und leise knarrte und jeden ihrer Schritte einladend begrüßte. Er führte sie in sein Schlafzimmer, das größer war als das Wohnzimmer ihres Elternhauses. Sanfte Küsse spürte sie an ihrem Hals, zarte Hände berührten ihre Taille. Sie fand keinen Grund sich zu wehren, keine Ausrede für eine Flucht, denn er war ihr vertraut und nahe wie kein Mann zuvor. So gab sie sich ihm hin, dem Mann, der ihr Herz erobert hatte, der an einem einzigen sonnigen Nachmittag vollbrachte, was so viele vor ihm Monate und Jahre vergebens versucht hatten. Am nächsten Morgen wurde sie von Sonnenstrahlen geweckt, die sanft und warm auf ihren roten Backen tänzelten. Sie fand sich blütenweißer Bettwäsche, auf einem großen Bett in dem gigantischen Schlafzimmer. Als sie ihn nicht finden konnte, durchwanderte sie die ganze Wohnung. Sie blickte in jede Ecke und hinter jede Tür, doch sie fand nur leere Zimmer, lange Gänge und antike Einrichtungen. Ein Gefühl der Unsicherheit durchbrach ihre innere Ruhe. Was war geschehen und wo war der Mann, der ihr Herz in Windeseile erobert hatte? Sie wurde immer nervöser, spürte ihre Hände zittern suchte nach ihm wie im Wahn aber konnte ihn nicht finden. Angst durchfloss ihren Körper und so packte sie ihren Rucksack und schritt durch das große Vorzimmer, vorbei an den Gemälden, vorbei an der Flügeltür, hinaus ins Treppenhaus.

Als sie in die enge Gasse heraustrat, überfiel sie ein Schwindelanfall. Sie musste sich an der Kalkwand abstützen, um nicht auf die kalten, harten Backsteine zu fallen. Sie atmete tief und schwer. Tränen fielen zu Boden und verfärbten die Steine in dunkelblaue Quadrate. Lautes Schluchzen ertönte in der Gasse, es war ein Schluchzen, das von Verzweiflung, von Hass und von Trauer sprach. Sie war allein gelassen, von dem Mann, dem sie ihre Unschuld schenkte, unbedacht und spontan, wie sie sonst nie gewesen war. Ihr Magen wurde schwer und wäre er nicht leer gewesen, so hätte sie alles herausgebrochen. Nach Momenten der Trauer und Einsamkeit verfiel die junge, zerbrochene Schönheit in Wut. Sie stampfte die Gasse entlang, ging zum Stephansplatz, setzte sich auf die Marmorbank, auf der sie gestern ihren Stolz und ihre Würde verloren hatte. Sie saß, einsam und verlassen, einige Weile auf der Bank und beobachtete die Touristen, die nach billigen Attraktionen Ausschau hielten. Das Geld, das sie zusammengespart hatte würde für einige Tage reichen, also fuhr sie mit der U-Bahn zurück zum Westbahnhof und mietete sich im billigsten Hotel der Stadt ein kleines Zimmer. Hier war sie allein, hier war sie sicher vor Blicken und Sprüchen, vor der Scham, die sie überkam wenn sie an die letzte Nacht dachte. Sie zwang sich ein Sandwich zu essen und betrank sich am Abend mit billigem Rotwein. Es dauerte nicht lange, bis sie vor dem flimmernden Fernseher einschlief.

Die Wohnungstür war nicht ins Schloss gefallen und stand einen Spalt breit offen. Er stellte die Einkaufstasche auf den blanken Eichenholzboden und schloss hinter sich ab. Er ahnte nichts, als er ins Schlafzimmer trat und das verlassene Bett vorfand. Sie hätte es zwar ausschütteln und herrichten können, doch er würde nicht Kritik an ihr üben. Im Supermarkt wurde ihm bewusst, wie viel er bereits von ihr wusste –so hatte er den Schinken wieder zurückgelegt, da sie am Vorabend über ihre fleischlose Ernährung erzählte – also entschloss er sich dazu, ein Frühstücksei mit Käsebrot und Müsli zu servieren. Er begab sich in die Küche und begann damit, die Eier zu kochen, das Müsli in die Schüsseln zu streuen und die Brote zu schmieren. In Gedanken war er bereits bei ihr, kuschelte sich an ihren schönen Körper und flüsterte ihr sanfte, liebevolle Worte ins Ohr. Während er das Tablett mit tanzendem Schritt in das Schlafzimmer brachte, erfreute er sich an der Vorstellung den ganzen Tag mit dieser Schönheit verbringen zu werden. So machte er das Bett und wartete artig auf das reizende Mädchen, das ihm seit der Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Während er unruhig an der Bettwäsche zupfte, dachte er noch einmal an den vorigen Tag nach. Ursprünglich wollte er seinen besten Freund am Flughafen abholen, der von einem dreimonatigen Trip aus Brasilien zurückgekehrt war, doch kurz vor dem Gate an dem er seinen Kumpanen erwarten sollte, machte er kehrt und folgte ihr. Er verpasste ihren Bus um Haaresbreite. Verzweifelt hatte er die Suche bereits aufgegeben und begab sich mit müdem Schritt nach Hause. Am Stephansplatz jedoch erblickte er sie wieder, unübersehbar in der Menge strahlte das Mädchen, das ihm alle Gedanken geraubt hatte. Ein Glück, dass er sie gefunden hatte, dachte er sich nun mit zufriedenem Lächeln. Sie war schon lange im Bad, also wollte er anklopfen, nach ihr fragen und einen schönen, guten Morgen wünschen. Doch seine Worte blieben unbeantwortet. Als er die Türklinke herunterdrückte, bemerkte er, dass auch das Bad leer war.


Samstag, 13. Juni 2015

Die dunkle Bar

Das weichgescheuerte Thekenholz fühlte sich beinahe wie Glas an, als Tom mit seiner rechten Hand darüber fuhr. Unzählige Getränke, Münzen, Kreditkarten und Zettelchen mit aufgekritzelter Telefonnummer wurden hier im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgetauscht – die Bar war Zeuge so mancher Ehe, Scheidung und Affäre geworden, und doch schwieg sie, voller Geduld und Verständnis für den Erzählenden. Seit fünf Jahren kam Tom beinahe jeden Abend in diese kleine Cocktailbar im Zentrum der Stadt. Während sich neben der Eingangstür junge Frauen und Männer auf den abgewetzten Sofas niederließen, bevorzugte er den hohen Barhocker und das gleichmütige Gesicht des Barmannes, der zugleich Besitzer des Lokals war. Er hieß Franz und war nur wenige Jahre älter als Tom – sie verstanden sich seit Beginn ihrer Bekanntschaft gut und so sprachen sie zueinander als Freunde und berieten sich in ihren Ehesachen oder in Geschäftsfragen. Tom wusste alles von Franz und Franz wusste alles von Tom. Auch an diesem Abend saß er an der Theke. Sein Knie drückte gegen die rauen, kühlen Ziegelsteine, aus denen die Bar aufgebaut war, und rieb nervös zwischen den beiden Kanten hin und her. Seinen zweiten Drink hatte er bereits getrunken und wie es die Gewohnheit verlangte, spendierte Franz ihm, still und heimlich, um die anderen Gäste mit dieser Unart des Gastgebers nicht zu vertreiben, den dritten und letzten Drink dieses Abends. Wie jeden Abend trank Tom einen Gin Tonic mit einem Schuss Kokosmilch – eine Eigenkreation von Franz, der in jungen Jahren als Barkeeper gearbeitet hatte.

„Dank‘ dir“, sagte Tom. Der Barmann, bereits kahl am Kopf, sah seinen treuen Gast durch die eckige Brille an. „Thomas, du siehst heute etwas mitgenommen aus. Was hat dich denn gebissen?“ Keine Antwort. „Heitert dich ein bisschen Blues auf?“, Franz grinste über seine spärlich behaarten Backen, als weichgespülte Saxophonmusik die dunkle Bar mit heiterer Laune erfüllte. Lachend schüttelte Franz seine Schultern im Rhythmus der bewegten Musik - Toms Antwort war dasselbe, unveränderte Gesicht mit traurigem Blick. „Komm, erzähl jetzt.“, forderte ihn der Barmann auf. Einen Moment lang zögerte er, begann dann aber seine verkrampfte Miene zu lösen und schnaufte in sein Whiskeyglas. Franz merkte, dass sein Gegenüber noch einige Zeit überlegte, um die richtigen Worte zu finden. Nach einer kurzen Pause, die von fröhlicher Bluesmusik aufgefrischt wurde, warf Tom eine Frage in die Luft. „Was würdest du tun-“ er stockte einen Moment, sah nach links und recht und vergewisserte sich, dass niemand lauschte, „Wenn dich jemand verfolgt?“ Der Barmann sah Tom mit verhärteter Miene an. Er schien auf etwas zu warten, einen weiteren Satz, eine Erklärung, einen Abschluss des Satzes, aber als nichts folgte, sagte er schließlich fragend: „Also dich verfolgt wer.“,  und als er zu Ende gesprochen hatte, zuckte Tom zusammen, als hätte ihn etwas im Nacken gestochen. Er packte die Hand von Franz und drückte sie fest. „Nicht so laut.“, flüsterte er ihm mit bedrohlichem Blick zu. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gesunken und standen wie liegende Rufzeichen über die strahlend blauen Augen. „Siehst du den Kerl, der da hinten ganz allein auf der Couch hockt?“, fragte er nervös. Franz ging aus der Theke und begann abzuservieren. Tom sah ihm nicht nach. Er spürte seinen Pulsschlag in jeder Fingerspitze, kalter Angstschweiß befleckte seinen Rücken. Seit Stunden schon fühlte er sich von dem Mann, mit der dunklen Sonnenbrille in den Kragen geklemmt, verfolgt. Er schluckte fest und spürte seinen Kehlkopf gegen die Speiseröhre drücken. Schließlich kam Franz zurück und stellte das schmutzige Geschirr in der kleinen Abwasch hinter der Theke ab. Wortlos blickte er Tom in die Augen, als er ein frisch abgespültes Bierglas aus dem Regal nahm und Weizenbier darin einschenkte. Seine Augen wirkten starr aber beruhigend, als würden sie ihm seine Angst nehmen wollen. Dann zog er seine Augenbrauen kurz und auffällig hoch, um Thomas etwas zu deuten. Während Franz das Bier in geschwindem Gang nach hinten brachte, verfolgten Thomas Augen den Barmann.

Franz kam nach einem kurzen Gespräch mit dem fremden Gast zur Theke zurück. Er begann die Regale zu schlichten, die Gläser einzuräumen und das Geschirr abzuwaschen. Thomas betrachtete währenddessen die Gemälde und Fotografien an der Wand. Sie schienen im Schimmer der alten Glühbirnen, die in Gehäusen aus verschwommenem Milchglas versteckt waren, düster und alt. Bei genauem Betrachten sah Tom eine dicke Staubschicht, die sich an der Oberseite der Rahmen festgesetzt hatte. Als er zurück zu Franz blickte, bemerkte er seine beängstigte Miene. „Darf es noch was sein, der Herr?“, fragte Franz mit blinkendem Auge. Dann spürte er ein gefaltetes Stück Papier unter seine Hände gleiten. Er nahm es unauffällig auf seinen Schoß und öffnete es. Mit Bleistift stand in Blockbuchstaben geschrieben: „DU BLEIBST BESSER HIER.“ Angst überkam Tom wieder und Schweiß rann den Rücken herunter, als er den besorgniserregten Blick des Barmannes verspürte. Also habe ich mir das doch nicht eingebildet, dachte er, während seine Augen starr auf das Bierfass hinter den Gläsern gerichtet waren. Eine ganze Weile verging, in der Thomas still und unbewegt auf seinem harten Barhocker saß und der Musik lauschte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, doch glaubte er den Blick des Unbekannten in seinem Rücken zu spüren, als würde er ihm ein scharfes Messer immer fester und tiefer andrücken. Franz sprach kein Wort mehr zu ihm, als hätte er selbst Angst bekommen – sein angespanntes und untypisches Verhalten beunruhigte Tom noch viel mehr. Seine Blase drückte allmählich und selbst die größte Sorge vor dem Ungewissen konnte das Bedürfnis nicht länger halten. So beschloss er seinem Harndrang zu folgen und ging in raschem Schritt zu den Toiletten.
Die Musik klang dumpf und hohl bis in die Toilettenkabine, in der Thomas stand. Während er, etwas betrunken von Franz Kokos-Gin Tonic, sich im Stehen erleichterte, ging die Tür zum Toilettenraum auf. Der Schall der Musik drang in die Kabine und ließ die unvergleichliche Stimme von John Lee Hooker erklingen. Noch bevor Thomas den Songtitel erraten konnte, schwing die Tür wieder zu und ließ die Musik wieder bleiern klingen. Schwere Stiefelabsätze gingen einen langsamen Gang in seine Richtung. Der Mann, der eintrat, blieb direkt vor Thomas Kabine stehen. Tom weitete seine Augen und schnappte nach Luft. Das ist er, dachte er und versuchte den Druck in seinem Kopf mit einem leichten Schütteln auszugleichen. Er wartete einige Momente, die ihm endlos lange vorkamen. Würde Franz jetzt kommen? Wahrscheinlich war er zu beschäftigt und hatte den Unbekannten nicht aufs stille Örtchen gehen sehen. Die Stiefelabsätze knirschten drohend am Fließenboden. Stille. Thomas hielt den Atem an. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich trat jemand gegen die Kabinentür. Thomas rief laut auf. Er zwängte sich in die hintere Ecke der Kabine. Neben der Kloschüssel kauerte er, warf die Hände über den Kopf und schrie um Hilfe. Ein letzter Tritt, bevor die Tür an der Stelle des Schlosses nachgab und splitterte. Die Gewissheit über den nahenden Tod, die aussichtslose Flucht vor dem Schicksal nahm auf dem kalten, stinkenden Boden der alten Cocktailbar im Zentrum Wiens ihr Ende.


Der Morgen war bereits angebrochen, als Thomas Eckhart die Straße betrat. Er trug seinen dunkelblauen Nadelstreifanzug mit Krawatte in royalem Blau – der Hingucker im Büro. Herr Eckhart war stolz auf seinen Job, stolz auf sein neues Auto, stolz auf das große Haus und seine schöne Frau. Er hatte lang und hart dafür gearbeitet und wenn ihn jemand fragte, welch ein Glückslos er einst gezogen hatte, so entgegnete er stets mit breitem Grinsen: „Das Los der Götter.“ An diesem Morgen also ging Herr Eckhart seinen allmorgendlichen Weg zum Bäcker. Seine Frau schlief noch und so zog er es vor, das Auto nicht unnötig anzustarten – der Bäckerladen war nur 2 Ecken von ihm entfernt. Er war nur einige Schritte gegangen, da kam ihm ein Mann entgegen, dessen Blick schon lange Zeit auf Thomas Eckhart gerichtet war. „Verzeihen Sie“, sagte der Mann mit ausländischem Akzent. Herr Eckhart ignorierte den Mann und ging weiter, schließlich hatte er es eilig und wollte noch ein, zwei Brötchen für seine Frau mitbringen. Der Mann ließ nicht locker und ging dem Eckhart nach, immer wieder bittend um Aufmerksamkeit. Schließlich blieb der Geschäftsmann wütend stehen und starrte dem Mann ins Gesicht. Wütend riss er dem Kerl die große, dunkle Pilotenbrille von den Augen und warf sie zu Boden. „Hast du’s nicht verstanden? Verschwinde, sofort!“ Der Mann richtete seine Frisur zurecht und hob die Sonnenbrille auf. Wortlos trampelte er in Cowboystiefeln davon. Herr Eckhart verschwand in der Bäckerei – bestellte fünf Brötchen und verließ die Filiale sofort wieder. Die Begegnung hatte er schon bald wieder vergessen und auch den Mann, der hinter ihm herging, hatte er nicht bemerkt…

Donnerstag, 11. Juni 2015

Der Wunschautomat

Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein. Unzählige Kinder strömten wie Fischschwärme aus dem Schulgebäude und breiteten sich über das weite Areal aus. In Gruppen standen dicke und dünne, kleine und große, jüngere und ältere Kinder beieinander und scherzten, lachten, riefen, flüsterten oder schrien in sorgenloser Manier. Mitten im Tumult schritt ein kleiner Bursche durch die Menge. Mario war hager, seine Gestalt wirkte zärtlich, beinahe schon zerbrechlich für einen Fünfzehnjährigen. Blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht und glänzten in der warmen Mittagssonne. Während sich die Kollegen aus verschiedensten Schulklassen miteinander unterhielten, ging Mario schweigend weiter. Sein Blick war starr auf den hellgrauen Asphalt gerichtet, der ihm den Weg heim verriet. Stumm zählte er die einzelnen Grasbüschel, die durch den harten Straßenbelag durchgebrochen waren. Neben dem Gehsteig fuhren immer wieder Autos vorbei, die mit brummendem Motor Marios Gedanken durcheinanderbrachten. Immer wieder dachte er an das Gesicht der Lehrerin – sie hatte gelächelt. War es ein böses Lächeln, oder versuchte sie ihm ihr Mitleid zu zeigen? Eine Fünf auf die Deutscharbeit. Das schmerzte. Mario verlangsamte seinen Schritt. Tief atmete er ein – und wieder aus, diesen Rythmus behielt er für einige Momente. Immer wieder malte er sich die Reaktion seiner Eltern aus: entsetztes Geschrei seiner Mutter, Hiobsbotschaften seines Vaters, Drohungen des Schulabbruchs und viele andere Situationen spielten sich wie ein trauriges Theaterstück in Marios Kopf ab, Applaus gab es dafür keinen. Du wirst die Schule nie schaffen – ertönte es in seinen Ohren. Der Bursch setzte sich auf die alte Holzbank, unweit der Hauptstraße. Still lauschte er seinem Herzschlag. Er hatte Angst davor, nach Hause zu gehen denn er wusste was ihn erwartete. Stundenlange Gespräche und böse Mahnungen würden ihm den Rest geben, bis er sich spät abends in sein Bett legen und heimlich zu schluchzen beginnen würde. Sie verstehen mich nicht, dachte Mario.

Es war ganz still gewesen, bevor sein Herzpochen plötzlich von einer eigenartigen Melodie übertönt wurde. Sie klang wie die Musik eines Spielautomaten – mechanisch und impulsiv drang sie in Marios Ohren. Er stand auf und horchte genau hin. Die Melodie wiederholte sich im immergleichen Rhythmus und metallischen Klang. Die Musik kam aus der kleinen, engen Seitengasse, die unweit der Holzbank zu einer alten Fabrik führte. Mario dachte nicht lange nach, denn jeder gewagte Gedanke hätte ihm mit äußerster Dringlichkeit davon abgeraten, dem Geräusch zu folgen. Langsam ging er einige, kleine Schritte. Er stand direkt vor der Ecke, das Geräusch wurde immer klarer – eindeutig kam es aus der Sackgasse. Die Wände waren etwa eineinhalb Meter voneinander entfernt und bestanden aus schmutzigen, alten Ziegelsteinen, deren Ecken und Kanten abgeschlagen und rundgescheuert waren. Es fiel kaum Licht in die Gasse – kurz stockte Marios Atem. Wahrscheinlich wäre er an gewöhnlichen Tagen nicht auf die Idee gekommen, in diese Gasse zu gehen – seit 5 Jahren ging er diesen Weg beinahe täglich. Aber dieser war kein gewöhnlicher Tag. Ein Bein folgte dem Nächsten. Schritt um Schritt wagte Mario sich in die Gasse. Bald schon war er am Ende angelangt: Eine alte Fabrikfassade bildete das Ende dieser Sackgasse, die vor langer Zeit wohl als Einfahrt gedient hatte. Mario sah sich um. Ein großes, rostiges Metalltor verschloss den Zutritt in die alte Halle. Mario wollte kehrtmachen, da ertönte das Geräusch lauter und schriller als zuvor. Der Bursch erschrak so arg, dass er sich ruckartig nach rechts wandte, wo ein alter Spielautomat stand. Verwunderung. Die immergleiche Melodie ertönte aus dem Spielkasten. Bunte Lichter strahlten aus dem Gerät. Rot und Blau und Grün und Gelb ließen einen kleinen Teil der Fassade aufleuchten. Mario ging auf den Automaten zu. Ungläubig sah er sich um: das Gerät war nicht angesteckt. Kein Kabel führte zu einer Steckdose – noch größere Verwunderung machte sich in dem Jungen breit. Plötzlich sprach eine abgehackte Stimme „Drücke Start!“. Nun wiederholte die Maschine diese Aufforderung neben der eintönigen Melodie, immer schneller und immer schriller. Die Lampen blinkten wilder und hörten gar nicht mehr auf. Mario bekam Furcht. Schnell haute er seine geballte Faust auf den dicken, roten Button in der Mitte des Feldes – erst jetzt erkannte er, dass es der einzige Knopf am ganzen Automaten war. Die Lichter erstarrten – die Melodie blieb aus.

Die abgehackte, mechanische Stimme sprach ohne begleitende Melodie. „Heute ist dein Glückstag! Wie ist dein Name?“. Mario hob seine heruntergefallene Kinnlade, schloss den Mund und sah den Bildschirm entsetzt an. „Ma- Mario.“, stammelte der blonde Bursch hervor. „Hallo Mario! Heute ist dein Glückstag!“, sprach die monotone Computerstimme. Mario schluckte. Der Bildschirm wurde schwarz. Die Lichter gingen aus. „Lieber Mario. Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ Das war schließlich zu viel des Guten. Mario, der schon mit 5 hinter das Geheimnis des Osterhasen und des Weihnachtsmannes gekommen war, suchte das Geheimnis dieses Gerätes. Er suchte nach einem Kabel, einer Kamera, einem Mikrofon oder irgendeinem Anzeichen, das diesen Automaten als Streich entpuppte. Doch er fand nichts. Da will sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, dachte er sich. Doch der Computer wiederholte seine Aussage. „Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ „Gut!“, rief Mario verwirrt. „Gut, dann wünsche ich mir – ich wünsche mir den Fleck weg. Ich will eine glatte Eins ins Zeugnis, ich möchte, dass meine Eltern endlich stolz sein können auf mich und mich lieben, weil ich ihnen genüge!“ Als er seinen innigsten Wunsch ausgesprochen hatte, da rumorte es in der Maschine. Rauch stieg aus den Lüftungsschlitzen, ein elektrisches Zirpen und Knistern machte sich bemerkbar. Es stank nach Kabelbrand. Mario seufzte. Wäre auch zu schön gewesen, dachte er sich, als er aus der dunklen Gasse trat und seinen Heimweg fortsetzte.


Wortlos klatschte Mario das Arbeitsheft auf den Küchentisch. Seine Mutter blickte ihn unheilvoll an und auch der Vater hatte einen sorgevollen Blick aufgesetzt. Scham überkam Mario, als er das Heft aufschlug und ohne Kommentar seinen Eltern zuschob. Ein Moment der Stille erfüllte die Küche, in der die Gemüsecremesuppe vor sich hin köchelte. Der sanfte Geruch von gekochtem Brokkoli und Blumenkohl erfüllte die verdampfte Küche. „Bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter. Verwundert hob Mario seine Augenbrauen und blickte sie fragend an. „Sehr gut. Bin sehr stolz auf dich. Hast du gut gemacht.“ Tatsächlich. Unter dem fehlerfreien Text stand eine dicke, rote 1. Von diesem Tag an schrieb Mario nie wieder eine schlechtere Note – er wurde Klassenbester und schloss die Schule mit großartigem Erfolg ab. Den Automaten aber, den fand er nie wieder. Aber manchmal, an einsamen Tagen, da hört Mario noch heute die immergleiche, mechanische Melodie von Weitem erklingen…

Dienstag, 9. Juni 2015

Arm und Reich

Der Linseneintopf schmeckte nach Kokosfett und ranziger Butter. Ein Löffel rührte den kalten, schlammigen Brei um, versuchte ihn zu einer appetitlicheren Masse zu formen – erfolglos. Lukas saß auf der alten Couch mit zerrissenen Stoffüberzügen. An manchen Stellen hielten nurmehr einzelne Fadenstränge das Geflecht der blauen und roten Muster zusammen. „Heut schmeckt‘s besonders scheiße.“, sagte er mit vollem Mund. Das Fett triefte ihm aus dem rechten Mundwinkel heraus und tropfte auf seine hellblau ausgeblichene Jeans, hinterließ dicke, dunkle Flecken auf seinem Hosenbein. Markus kam mit einer halbvollen Schüssel, setzte sich dazu, schaltete die Glotze an und schwieg vor sich hin. Im Fernsehen lief Fußball. Die beiden Brüder, gerade in die Zwanziger geschlittert, lebten in der angemieteten Wohnung, versteckt im dunklen Innenhof einer Wohnanlage. Ein Zimmer teilten sie sich, zusammen mit einer Toilette und einem Badezimmer, das neben einem Waschbecken und einer Badenische räumlich nicht mehr erlaubte. Aber nicht nur mit dem Platz mussten die beiden sparen – auch das Geld war knapp, beide konnten lange keine Arbeit finden. Erst vor wenigen Wochen durfte Lukas, der ältere der beiden Brüder, einen Aushilfsjob an einer Baustelle übernehmen. Die Arbeit war hart und machte dem eins dreiundachtzig großen Kerl nicht sonderlich glücklich – aber ein paar Hunderter mehr im Monat waren ein guter Grund sechsmal die Woche das Bett vor Sonnenaufgang zu verlassen und erst spät nach Sonnenuntergang wieder zurückzukehren.

4:45 Uhr. Der Wecker läutete schrill und unbarmherzig, bis Lukas ihn mit schmerzerfüllter Miene ausschaltete. Er blickte zu seinem jüngeren Bruder –  er schlief tief und fest. Innerhalb einer Stunde machte sich Lukas fertig und verließ das kleine Zimmer kurz vor Sonnenaufgang. Die Straßen waren noch leer. Sein Körper fühlte sich unangenehm angespannt und steif an, jeder Schritt war eine Qual. Lukas wollte diesen Job nicht mehr übernehmen. Seine Kollegen behandelten ihn wie Dreck, sein Chef war ein fauler Sack, der nicht mehr zustande brachte als alle anderen zu kommandieren und sein Lohn wurde stark gekürzt – „Aufgrund fehlender praktischer Arbeitskenntnisse“, wie sein Chef es nannte. Er wusste ganz genau, dass er den armen Jungen so behandeln konnte, Herr Schachenger hatte ein gutes Gespür für junge Leute. Besonders für diese Art, die Lukas vertrat.  Solche Leute schmissen die Schule bevor sie 17 waren, rauchten Gras bis sie 19 wurden und mit 20 werden sie von den Eltern auf die Straße gesetzt – natürlich kamen sie zum Herrn Diplomingenieur um Arbeit zu bekommen und Arbeit bekamen sie auch. In seinen Augen durfte sich Lukas keinen weiteren Fehltritt erlauben, ganz klar, es gab genug andere, die seine Stelle gerne annehmen würden – das Business kennt keine Emotionen und Kompromisse.
Lukas stand an der Busstation. Er hatte den letzte vor zehn Minuten verpasst und so musste er doppelt so lange auf den nächsten warten. Er setzte sich auf die kalte Gittersitzfläche aus Metall. Die Stadt war tatsächlich am Schlafen, nur die Vögel zwitscherten den ankommenden Tag willkommen. Lukas ließ seine Gedanken schweifen – heute würde er sich nichts gefallen lassen. Niemand würde ihn heute stoßen, ohne sich im Nachhinein bei ihm zu entschuldigen. Niemand könnte ihm heute seine Pause streichen. Und niemand, schon gar nicht Herr Schachenger könnte ihm heute weismachen, dass seine Arbeitskenntnisse unzureichend oder fehlerhaft wären. Niemand, würde ihn heute rumschubsen.

Eine Menschengruppe kam ihm entgegen. Es waren junge Leute, etwa in seinem Alter. Sie waren sichtlich betrunken und scherzten und lachten laut. Als sie an ihm vorbeikam, blieb die Gruppe stehen. Zwei Burschen bildeten die Spitze der Gruppe, in der sich noch einige Kerle und ein Mädchen befanden. Einer der beiden deutete auf den jungen Mann auf der kalten Gittersitzfläche. „Na sieh mal einer an.“, sagte der große Kerl mit weinrotem Mantel. Er ging zu Lukas und blieb vor ihm stehen. Er sah ihn an, bemerkte seinen offensichtlich luxuriösen Kleidungsstil, seine blonden, zurückgekämmten Haare, die vor Brillantine trieften, seine Wildlederschuhe, deren Spitzen künstlich aufgerieben wurden, und er wusste, dass dieser große, schlanke Kerl zum anderen Teil der Bevölkerung gehörte. Der Kerl blieb vor ihm stehen und sprach Lukas direkt an. „Wartest auf den Bus, hm? Musst arbeiten, so früh?“ Das Mädchen kicherte hinter all den Burschen, die wild und unverschämt um sie buhlten. Lukas sah ihn an, blickte hinter ihn und spürte den verachtenden Blick der ganzen Gruppe in seinem Gesicht kleben. „Ja.“, sagte er. Die Gruppe lachte laut auf. Das Gelächter wurde immer schriller, und klang nicht ab. Die Situation war schon beinahe lächerlich, als sich die Leute schließlich einkriegten und  der blonde Typ sich groß und breit machte. „Schön zu sehen, dass das Volk arbeitet.“, er drehte sich mit seinem Oberkörper nun zu seinem Gefolge aus Studenten, „Dann hat unser Kontrollgang ja gefruchtet.“ Lautes Gelächter. Lukas fühlte sich allmählich unwohl. Er blickte nur mehr gerade aus, starrte auf die Gehsteigkante, die wenige Meter vor ihm lag. „Na schau, jetzt ignoriert uns der Bub. Komm, wir laden dich auf was ein – erzähl uns von deinem harten, schweren Leben.“ Lukas stand auf. Er wollte sich nichts sagen lassen, schon gar nicht von Leuten, die keinen Finger rühren mussten, um zu überleben. „Hör mal zu, du reiches Stück Scheiße.“, zischte es aus seinen Lippen hervor. Der Blonde verstummte und mit ihm die ganze Gruppe. Seine Miene verfinsterte sich. „Du hast keine Ahnung vom Leben“, fuhr Lukas fort, „Bist stolz auf den Reichtum deiner Eltern, rennst hier herum als wärst du der Fürst des Ortes.“ Schüchternes Gelächter machte sich in den Reihen der Unbeteiligten breit, starb jedoch nach fehlender Reaktion des Rudelanführers. „Hast schon richtig gehört, Arschloch. Sieh dich doch einmal an. Du lebst auf Kosten anderer, hast nicht das Zeug etwas zu vollbringen und musst anderen Leuten mit deinem Reichtum imponieren. Tatsächlich aber, und das wissen wir beide, hast du keine Leistung vollbracht, die deinen Wohlstand rechtfertigt. Jetzt verpiss dich, bevor ich dir mit meinen Bauarbeiterhänden Eine auflege.“ Sichtlich irritiert zwinkerte der Kerl mehrere Male hintereinander – wie vom Blitz getroffen stand er regungslos da. Der Lockenkopf hinter ihm nahm ihn am Arm und zog ihn weg. Der Rest der Gruppe folgte ihm, nicht ohne Lukas einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.


Der Arbeitstag verlief problemlos – Lukas setzte sich nicht nur durch, er bekam eine Beförderung vom Ingenieur Schachenger. „Endlich können wir dich hier gebrauchen, Bursche.“, sagte er. Doch er meinte das nicht böse. Es war eben seine Art, so mit dieser Art umzugehen. Die Art, die Lukas vertrat.



Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Albert Brecht.

Sonntag, 7. Juni 2015

In Trümmern - Teil 3

Es war nicht die strahlende Sonne, die Michael weckte. Auch sein Durst hielt ihn nicht vom Schlaf ab. Was ihn zum Aufwachen drängte war der schaukelnde Jeep, in dem er sich befand. Noch bevor er wusste, wo er war, hatte er schon das erste ihm bekannte Gesicht gesehen: Freddy, der Konstruktionsleiter des Lagers im Stephansdom, saß neben dem vermummten Fahrer und blickte aus dem Fenster. Ein leises Stöhnen, in dem sich Erschöpfung und Verwirrung zu bitterer Verzweiflung mischten, machte den breiten Norddeutschen auf Michael aufmerksam. Es folgten ein kurzer Blick und ein unverständliches Wort zum Fahrer, der das Auto abrupt zum Anhalten brachte.

Als die Männer eingerückt waren, wurde es still in den Straßen Europas. Mit jedem Tag wurde die Angst größer bis schließlich die ersten Todesmeldungen ins Land kamen - erst war es ein Onkel, ein Vetter und ein Neffe - bald folgte der Bruder, der Vater und der Sohn. Jeder Bürger hatte Familienmitglieder verloren und jeden Tag konnte es eines mehr sein. Mit dem Einsatz der atomaren Sprengköpfe wurden ganze Heeresgruppen in wenigen Momenten ausradiert und von den militärischen Landkarten gestrichen. Eine Schreckensnachricht jagte die nächste und so dauerte es nicht lange bis die Frauen und Kinder in den Städten rebellierten: Erst in Madrid, dann in London und schließlich auch in Wien gingen Millionen Frauen auf die Straßen - für ihre Männer, für ihre Söhne, für ihre Freiheit. 

Der Fahrer sprach einen örtlichen Dialekt – er erklärte Michael, dass er aufgrund seiner illegalen Aktivitäten gegen das Solidaritätsgesetz verstoßen hatte. „Verzeihen Sie vielmals“, sprach Michael und blickte dem Mann, der seine Maskierung bereits abgelegt hatte, ins Gesicht. Ein dicker Schnauzbart lag über seinen dünnen Lippen, sein Kopf war flach und lang gezogen und die Augen schielten leicht auseinander. Ehe Michael es kommen sah, versetzte der Kerl ihm einen Hieb auf die Brust. „Gusch!“, schrie ihn der Mann an. „Jemand, der gegen das Gesetz verstößt und sich der Höchststrafe auszusetzen hat, hält das Maul. Und wenn du noch ein Wort sagst, kann ich dir nicht versprechen, dass du lebend aus diesem Auto steigst.“ Die Worte klangen bedrohlich und ernst. Michael nickte entsetzt. Nicht einmal ein „Verstanden“ brachte er heraus. Eine stechende Kälte überkam ihn, er bekam Angst. Angst um sein Leben.

Der Tag nach dem Abwurf würde als Tag X in die Geschichte des Landes eingehen. Die Straßen waren bis tief in die Nacht leer, keine Menschenseele traute sich heraus. In der Stille des Abends hörte man vereinzelte Schreie, deren Qualen die Ohren der Überlebenden folterten. Aber keiner half. Am zweiten Tag fassten einige Menschen wieder Mut - wer nicht verletzt war, kletterte zwischen den Gesteinsbrocken und Straßengruben, um nach Überlebenden zu suchen. Nur wenige konnten gerettet werden. In den darauf folgenden Tagen bildeten sich Gruppen, um gemeinsam helfen zu können. Ehemalige Nachbarschaften taten sich zusammen und bauten ihre Häuser auf, um wieder darin schlafen zu können. Niemand verweigerte den Dienst, und wenn auch vereinzelt einige murrten, so war die Stadt selten so sozial gewesen.

Sie fuhren noch etwa eine halbe Stunde über Waldwege und Trampelpfade, bis sie ihr Ziel erreichten. Michael konnte nicht sagen, durch welches Dorf sie fuhren und doch kam ihm die idyllische Landschaft vertraut vor: prächtige Bauernhäuser mit ausgeschmückten Balkonen und Efeuranken, die die gelb und grün gestrichenen Fassaden zierten, bildeten das Bild dieses Ortes. Hier hatte der Krieg nicht hergefunden. Das Auto blieb an einem abgelegenen Parkplatz stehen. Freddy und der Mann mit Schnauzer stiegen aus. Einige Männer standen in einer kleinen Gruppe zusammen am Platz – sie hatten Militäruniformen an und Gewehre um ihre Schultern geschnallt. Durch die zerkratzte Scheibe konnte Michael erkennen, dass der Fahrer und sein falscher Freund den Leuten die Hände schüttelten. Sie tauschten einige kaum wahrnehmbare Worte aus, bis sich die Gruppe auflöste und sich in Richtung des Dorfes bewegte. Der Fahrer aber kam als einziger zurück. Wortlos öffnete er die Tür, griff Michaels Arm und führte ihn in einen abgelegen Stall. „Hier verbringst du deine letzten Stunden.“ Die Tür wurde abgesperrt. Michael war hier nicht allein.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Menschen wieder auf das Nötigste zusammengerafft hatten und ihr Leben außer Gefahr bringen konnten. Man wartete nicht lange auf Hilfe, denn das Ende des Krieges und die Niederlage der Union und all seiner Staaten war gewiss und in baldiger Aussicht. Die Menschen hofften auf eine milde Behandlung und erwarteten die Kapitulation mit jedem Tag aufs Neue. Doch sie blieb aus und so bildeten sich im Laufe der Zeit Interessensgruppen verschiedenster Art. Männer und Frauen, sprachgewandt und rhetorisch geschult, brachten erste Freiheitsverbände und Organisationen zum Vorschein. Viele waren friedlich, einige waren militant und revolutionär. Je mehr Gewalt in den vollen Sälen der Gruppen gepriesen wurde, desto lauter und fanatischer jubelten die Leute ihrem unaufhaltbaren Schicksal entgegen.

Michael kannte niemanden der zwanzig Menschen, die mit ihm im Stall eingesperrt waren. Einige kamen aus Wien, andere aus dem Umland, einer aus Horn und eine Frau kam aus Tulln. Sie waren alle verschieden alt, zum Teil hatten einige studiert, andere aber waren einfache Arbeiter gewesen. In nur einem Punkt hatten sie alle eine Gemeinsamkeit: Sie hatten in ihrem Heimatsort für den Fortschritt gearbeitet. Michael fand sich schnell einen Mann zum Reden in gleichem Alter – er hieß Kevin und war einst Koch gewesen, bevor er in Rumänien stationiert und wenige Tage vor einem Massenbombenabwurf auf seine Heeresgruppe wegen einem gebrochenen Bein nach Hause beordert wurde. Die Verletzung hatte ihm sein Leben gerettet und so hatte er sich dazu entschlossen, andere Menschenleben zu retten. In Simmering, seinem Heimatbezirk in Wien, bekochte er die Alten und Schwachen, baute ihnen die Wände neu auf und besorgte ihnen Wasser aus den umliegenden Besorgungsstätten. Er war ein guter Mann gewesen, der jede Sekunde des Krieges für den Frieden und das Wohlergehen der Menschen gekämpft hatte. Michael unterhielt sich eine Weile mit Kevin, und bald fanden sie einige Gemeinsamkeiten. Sie beide wurden von einem Kollegen verraten, bei beiden Fällen schlug er sich auf die andere Seite. Beide waren aus Wien und halfen der Allgemeinheit der Stadt. Plötzlich schlug die Tür auf und ein Mann in Uniform hielt eine Liste in seinen Händen. Die Sonne hinter ihm ließ nur die Konturen seiner Gestalt erkennen. Er las einige Namen vor. Darunter auch Michaels. „Mitkommen.“

Während die Mehrheit der Wiener Bevölkerung auf baldigen Frieden hoffte und mit täglichen Demonstrationen gegen den Krieg ein Zeichen setzte, fanden einige wenige Leute deutlichen Gefallen an militärisch organisierten Gruppierungen. Die Macht dieser Uniformträger wurde durch die stetig wachsenden Probleme der Bevölkerung und das Ausbleiben einer hoffnungsvollen Lösung immer größer. Bald schon organisierten sie sich in Zirkeln, um Waffen und Munition zu stehlen und zu rauben. Mit jedem Tag traten mehr Mitglieder bei - die Menschen fühlten sich hinter Gewehr und Orden sicher aufgehoben. Nach wenigen Wochen kollektivierte ein Mann alle diese militanten Gruppierungen zum „Bataillon Wien“.

Die Gruppe fand sich in einem Gemeinschaftssaal wieder. Einige Tische waren zu einem eckigen U geformt, in dessen Mitte ein kleiner Tisch seinen Platz gefunden hatte. Nach kurzem Schaudern erkannte Michael, wo er gelandet war: Dieser Raum diente als Gerichtsort. Einige Herren, jeder trug dieselbe olivgrüne Uniform, nahmen an der Seite Platz. Sie wirkten fit und gut gelaunt, bestimmt hatten sie kurz zuvor gut gegessen, dachte Michael. Er stand mit den anderen Menschen aus dem Stall an der Seite des großen Raumes, gleich neben der Tür, umringt von 3 Soldaten, die ihre Zeigefinger am Abzug ihrer Gewehre bereithielten. Eine Flucht war aussichtslos – sie hätte nichts gebracht: Am Weg im Jeep hierher hatte Michael nur Wald und weite Weiden gesehen, hier würde ihm niemand helfen. Da standen sie, wie Angeklagte, schmutzig, in zerrissener Kleidung, wie Sklaven in einem Stall gehalten. Die Stimmung war getrübt, sie wirkte irreal vernebelt. Er hatte recht: Bald schon trat ein Richter in schwarzer, langer Amtstracht in den Raum. Michael war einer der Angeklagten. Alle nahmen Platz. Es wurde still im Saal. Der Richter blickte kein einziges Mal in die Gesichter der Menschen, die wie Tiere gehalten wurden. Er rief eine junge Frau auf, Maria, 24 Jahre alt, bildhübsch. Er fragte kaum, sprach in kurzen Sätzen und blickte nicht hoch. Seine Augen starrten auf das Blatt Papier, das auf seinem Tisch lag.

Das „Bataillon“ agierte nicht in Wien. Viel zu auffällig wären all die Männer gewesen, die mit Gewalt und Drohung für Ordnung sorgen wollten. Auf dem umliegenden Land, wo die Bomben nur vom Hörensagen bekannt waren, da fanden sie viel Zuspruch. Sie versprachen, was die Verzweiflung und der Hunger verlangte: Beendigung des Krieges, reichliche Rationen für alle, ein Leben wie vor 10 Jahren. Bald schon konnte sich das „Bataillon Wien“ in vielen Dörfern behaupten und stellten den jeweiligen Bürgermeister – eine demokratische Politik war durch die zerstörte Infrastruktur nicht möglich. Die bewaffneten Männer ersetzten die damalige Polizei – sie sorgten für Frieden und unterdrückten jede Art von Widerstand. Bald schon wurde klar, dass das Bataillon die Macht der Region erlangt hatte und Wien das nächste Ziel darstellte.

„Michael Gschwindel“, ertönte die kalte Stimme des Richters und rief ihn als letzten an der Reihe auf. Die schrillen Worte versetzten ihm einen kalten Hieb in die Magengrube. Er stand auf und ging vor zum Tisch, auf dem er jedem Blick, jedem Wort und aller Aufmerksamkeit in dem Saal ausgeliefert war. „Sie sind 23.“ – „Stimmt.“, erwiderte er rasch. „Was hat Sie dazu gebracht, gegen das Solidaritätsgesetz zu handeln?“. Stille. Michael sah den Mann mit erstaunter Miene an. „Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht.“, sagte er. Mit gleichmütiger, fast schon freundlicher Stimme antwortete ihm der Richter. „Sie haben sich in den letzten Wochen an dem Bau eines Fluchtmittels, namentlich einem Fluggerät, welches jedoch nie zum Einsatz kam, beteiligt. So bescheinigt dies der Zeuge Frederick Christher.“ Blankes Entsetzen machte sich in Michaels Gesicht breit. „Nein, das- Nein das ist nicht wahr! Das ist nicht- Wir wollten damit Hilfe holen, um aus der Stadt zu gelangen, warum sollten wir denn-„ – „Dankeschön, die Sitzung ist geschlossen.“, unterbrach ihn der Richter. Michael schrie: „Nein, hören Sie!“ Er wurde von hinten gepackt und von einem der Soldaten zu den anderen gezerrt. Die Herren an dem Richtertisch standen auf und gingen aus dem Raum. In den Augen der Angeklagten fand sich keine Spur der Hoffnung. Die Hoffnung, die sie die letzten Monate, Tag für Tag, mit aller Mühe hervorgebracht hatten war gestorben. Die meisten Leute standen still da und starrten in die Leere, wo sich die Vergangenheit in ihren Erinnerungen spiegelte. Dann kamen die Herren in Uniformen wieder in den Raum. Sie nahmen Platz. Der Richter las alle Namen vor. „Milhonik, Precht, Lehn, Gülyür, Abrahm, Felzel, Stock, Fischbauer, Hintermayer und Gschwindel werden als Angeklagte in dem Strafvorsatz des Verstoßes gegen Solidaritätsgesetzes, welches besagt, dass jegliche Handlung wider das vorläufig provisorische Regierungsprogramm mit harter Strafe, jedoch nach eigenem Ermessen des zu handelnden Richters, zu belangen sei, schuldig gesprochen und zum Tod durch Erschießung verurteilt. Das Urteil ist sofort durchzuführen.“

75 Tage nach dem Abwurf der detonierten Massenvernichtungswaffe marschierten 12.000 bewaffnete Männer und Frauen durch Wien. Sie kamen in der Nacht und mussten kaum Verluste vermerken – die meisten Bewohner bemerkten sie nicht, und wer sich trotz aller Einschüchterung wehrte, wurde gnadenlos zur Strecke gebracht. Bis auf wenige Festnahmen, die in aller Stille durchgeführt wurden, um sogenannte Widerstandskämpfer zu beseitigen, wurde die Bevölkerung verschont. Das „Bataillon Wien“ hatte sein Ziel erreicht.

Michael ließ den Soldaten widerstandslos die Arme hinter seinen Rücken festbinden. Nun sollte auch er eines der zahllosen Opfer des dritten Weltkrieges werden. Ein komisches Gefühl, dachte er. Während alle Verurteilten sich wehrten, schrien oder flehten, war er vollkommen still und ließ sich alles gefallen, was von ihm erwartet wurde. Er wartete in einer Zweierreihe vor einer verschlossenen Tür. Neben ihm stand Kevin, der junge Bursch aus Wien, der die Armen und Alten bekocht hatte. Michael sah ihn an und lächelte ihm zu. Das Lächeln war quälend, beinahe schon sardonisch. „Wer hätte sich das gedacht.“, sagte Kevin und biss sich auf die Lippen. „Ich wollte den Menschen ihren Hunger nehmen und ihnen den Tag erleichtern. Nun muss ich deswegen sterben.“ Michael sah ihm tief in die Augen. „Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Bist ein guter Mann.“ – „Danke dir! Du auch!“, sagte Kevin, während ihm eine Träne an der Wange herunter rann. Die Tür öffnete sich. „Die Guten sterben jung.“, sagte er. Dann lachte er laut. Das war das letzte, was Kevin zu ihm gesagt hatte.

Der Krieg dauerte noch einige Wochen, bis die Union nicht mehr genug Soldaten stellen konnte und die Ostfront rasant einbrach. Fisher, der Oberbefehlshaber des Unionsheeres kapitulierte und stellte keine Friedensbedingungen. Wer nach diesem Teufelskrieg noch sein Leben besaß, durfte sich dessen nicht mehr sicher sein. Alle europäischen Staaten waren auf Gedeih und Verderb den Siegermächten unterstellt. In Wien wurde, wenige Jahre nach Kriegsende eine große Tafel an den Stephansplatz angebracht. An ihr stand: „Hier gedenken wir den armen Seelen derjenigen, die durch das Militärkollektiv des Wiener Bataillons ihr Leben lassen mussten. Mögen sie auf ewig ruhen.“

Die Gewehre waren auf ihn gerichtet. Der Moment stand still. Die Gesichter der Schützen waren ausdruckslos. Sie taten ihre Arbeit um am Abend zu ihren Familien zurückzukehren und das gekochte Essen ihrer Frau zu genießen, ihren Kindern in die Wange zu kneifen und ihnen vorm Schlafengehen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Sie ließen keine Emotion zu und bedachten nicht, was sie taten. Neben Michael stand Maria, das schöne Mädchen, das vor ihm verhört wurde. Sie hob die Faust und schrie „Tod dem Faschismus!“. Schuss. Michael sackte zusammen. Eine warme Träne kullerte seine Backe herunter und kühlte allmählich aus. 

Die Guten starben jung.









Freitag, 5. Juni 2015

In Trümmern - Teil 2

Michael betrat den Dom. Im Inneren schien es wie in alten Zeiten – das große Gitter versperrte den Weg zu den Betbänken, Jesus betrachtete die arbeitenden Männer vom Kreuz aus, und Friedrich III. schlummerte in seinem kaiserlichen Sarg auf vergessene Zeiten. Bis auf die zersprungenen und zum Teil völlig zerstörten Glasfenster brachte der Anblick im Inneren des Domes beinahe Hoffnung in die Augen der Betrachtenden. Michael begrüßte Frederick, den Baumeister des neuesten Projekts. Von allen nur Freddy genannt, war er der älteste von allen, die am Projekt im Dom arbeiteten. Ursprünglich aus Norddeutschland, hat sich Frederick an der technischen Universität für Maschinenbautechnik eingeschrieben – zum tatsächlichen Studium kam es dann jedoch nie."Na, gut geschlafen?" fragte er mit festem Handdruck. "Wunderbar, hatte eine Nachtdusche." sprach Michael grinsend. "Ah verstehe." sagte Freddy und blickte auf seine durchnässte Hose. "Also hör zu", fuhr er fort, "Heute müssen wir das Gerüst fertig haben. Die Männer haben 47 Metallstäbe gleicher Art gefunden und hierher gebracht. Die bearbeiten der Hans und der Max gerade. Wenn die zurechtgebogen sind, bauen wir den Vogel zusammen." Michael blickte zu Hans und Max, die die Eisenstangen am Amboss bearbeiteten und winkte ihnen einen schönen Tag. Sie blickten auf und winkten ihm lächelnd zurück, bevor sie weiterarbeiteten.

In einem Krieg wie diesem existierte Neutralität nicht mehr. Die Klauseln und kleingedruckten Absätze verschiedenster Verträge, die in Friedenszeiten halbherzig, ja wenn nicht ungelesen unterzeichnet wurden, zwangen das Land bei der internationalen Aufrüstung teilzunehmen. Friedliche Proteste der Bevölkerung wurden durch Propaganda und Einschüchterung, Medien und Politiker als aussichtslos und reine Zeitverschwendung abgetan. Nachdem die Fronten geklärt waren, wurden zunächst wehrpflichtige Väter und Söhne nach Rumänien, Polen, Spanien und Schweden beordert. Der traurige Abschied auf ewig schien anfangs noch als "reine Sicherheitsmaßnahme" in den Zeitungen auf.

Im Dom herrschten angenehme Temperaturen, während auf den Straßen immer mehr Menschen durch Kreislaufprobleme und Unterernährung unter der glühenden Sonne zusammenbrachen. Wasser war rar, denn seitdem die Hochquellwasserleitungen zerbombt wurden, ließ die Regierung in der Hauptstadt alte Brunnen neu ausheben, die seit über 300 Jahren verschlossen waren. Dementsprechend war das Wasser unrein und verursachte Durchfall, Brechreiz und Kopfschmerzen. Einen halben Liter sauberes Wasser bekam jedoch jeder Bürger der Stadt bei der täglichen Essensvergabe. Diese eisernen Reserven gingen jedoch schön langsam aus und so wurden die Menschen immer verzweifelter und wütender.
Michael ging zu Hans, der sich neben dem Amboss eine kurze Verschnaufpause gönnte und schlug ihm einen freundschaftlichen Stoß auf den Rücken,: „Na, wie sieht’s aus, schaffen wir es bis zum Adlerhaus?" Hans rauchte den letzten Zentimeter seiner Zigarette in einem Zug, zuckte mit den Achseln und blies den Rauch aus seinen Lungen. "Michi, ich habe keine Ahnung. So wie das hier aussieht, kommen wir keine 50 Meter mit dem Vogel. Das Material ist zu steif, für einen Gleitflug sind die Flügel falsch konstruiert. Aber der Frederick sitzt lieber auf seinem fetten Arsch, als dass er sich an dem Projekt beteiligt. Das Problem an der ganzen Sache ist, dass wir keine ausgebildeten Fachkräfte hier haben. Ich war Gärtner, der Freddy hat gerade mal Abitur und Max war Langzeitalkoholiker. Michael erwiderte mit einem Lächeln, während Hans seine Zigarette auf den Fließen ausdrückte. "Mathematiker, Physiker, Piloten, solche Leute brauchen wir. Aber die sind ja alle im Osten verreckt. Uns bleibt nur der Rest, der für den Krieg nicht gut genug war. Traurige Wahrheit." Michael biss sich auf seine Unterlippe, blickte durch den Raum und stimmte nickend zu. "Ich kann euch bei Berechnungen der Flugbahnen auch nicht helfen, aber ich habe zwei Hände. Ich hab‘s euch versprochen, ich komm und helfe euch. Also, was kann ich tun?" Hans deutete ihm zu Max. "Er braucht Hilfe beim Löten. Erklär einem Trinker doch einmal wie man lötet. Nachdem er sich die Hand dreimal verbrannt hat, bin ich erst einmal eine rauchen gegangen. Der Typ hat hier nichts zu suchen, wenn du mich fragst." Michael sah ihn an, zwinkerte ihm zu und sagte: "Wer hat das schon? Ich probiere mein Bestes."

Krakau, Kiew, Bukarest, Stockholm und Helsinki waren die militärischen Starkstützpunkte der Union. Von hier aus wurden Lang- und Kurzstreckenraketen geschossen, verteidigt und angegriffen. Das erste Kriegsjahr verlief nach Brüssels Plänen. Der Westen wurde stabilisiert, der Süden bis Kairo erweitert und der Osten in einen internationalen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Soldaten wurden gut behandelt, Ingenieure und Mathematiker vor Ort verdienten ein Vermögen. Der Feind schien bis nach Moskau zurückgedrängt und hatte mit den Vereinigten Staaten und Japan zu kämpfen. Ein gewonnenes Kriegsende wurde in allen Hauptstädten der Union vorbereitet, und die Straßen füllten sich mit glücklichen Frauen und Kindern, die ihre Väter, Söhne, Brüder und Onkels bereits sehnsüchtig erwarteten.

Max war bereits am Ende seiner Geduld als Michael sich zu ihm stellte. Zittrig hielt er den Stahlstab in der linken Hand, um ihn mit dem Lötkolben in der rechten zu bearbeiten. "Max, was hältst du von einer kurzen Pause? Ich weiß, wir haben Zeitdruck, alles scheint aussichtslos und eigentlich sollten wir alle nach Hause gehen und auf unser Ende warten. Aber eine kurze Zigarettenpause würde doch genügen, oder?" versuchte Michael den sichtlich überforderten Mann zu beruhigen. Nachdem er ihn mit bösem Blick ansah, sein Kinn nach vor schob und seinen Kopf ungläubig schüttelte, stand Max auf, holte sich eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie sich an. "Willst auch?" fragte er Michael entnervt. "Nein, danke. Hab aufgehört." erwiderte er. "Auch gut", sagte Max und blieb wortlos sitzen.

Als Japan nach knapp 8 Monaten kapitulierte, blickte die Großmacht aus dem Osten in Richtung Europas. Während die siegesberauschte Bevölkerung der Union einen Angriff verlangte, wandten sich die Politiker und Generäle verschreckt an die Vereinigten Staaten, um militärische Unterstützung zu erbitten. Dass die Armee solche Gewinne verzeichnen konnte, wurde nicht ihren militärischen Leistungen, eher aber ihrer diplomatischen Teilnahmslosigkeit gutgeschrieben.

Es war bereits dunkel geworden. Michael ging die Kärntner Straße entlang, an der er bereits am frühen Morgen zum Dom marschiert war. Die Familien waren in die freien Geschoße zurückgekehrt und aßen gemeinsam oder erzählten sich Geschichten an einem kleinen Lagerfeuer, um sich das Essen gar zu machen. Es lag eine ruhige, entspannte Stimmung in der Luft und beinahe konnte man meinen, eine neue Zeit würde anbrechen. Doch Michael wusste, dass die Arbeit die sich die Bürger der Stadt antaten mehr Schein als Sein bedeutete. Denn ohne ausreichend Nahrung, Kraft und Männer in Wien würde die Arbeit noch Jahre dauern. Verbindungen zum nächsten Bezirk waren nur persönlich möglich, da das Telefonnetz komplett zerstört wurde. Somit war Kontakt zur Außenwelt ausgeschlossen und selbst in ferner Zukunft noch weit entfernt.

Nachdem Kiew verloren war und Helsinki unter massiven Beschuss eingenommen wurde, erblickte die Bevölkerung der Union das erste Mal die wahren Gesichter des Krieges. Kinder wurden verschleppt und vergewaltigt, Frauen auf Bäumen aufgehängt oder zu Tode geprügelt. Von dem Gefühl der Überlegenheit war in den Augen der Opfer nichts mehr zu sehen. Ein grauer Nebel der Trauer und der Angst machte sich über Europa breit – und gerade im Herzen des Kontinents war die Panik ausgebrochen. Der Großteil der eingerückten Männer war in den Brennpunkten der Gefechte stationiert und eine Chance auf ihre Heimkehr aussichtslos gering.

Michael schlug die Augen weit auf. Eine Hand packte ihn an seiner Schulter, während eine andere ihm den Mund zuhielt.

Am 28. September unterschrieb der Präsident das Dokument, welches das Genick seines Volkes brechen sollte. Die Union zwang jedes Mitglied seine Nationalarmee und sämtliche Reservisten an die Unionsarmee zu überstellen - auf Gedeih und Verderb der Bevölkerung. Mit 39 Millionen Mann war genügend Kanonenfutter gefunden, um die ohnehin schon verlorenen Städte und den Krieg für einige Monate zu halten. Während die Propagandamaschine auf Hochtouren lief, ließen der Präsident und sein Kabinett die Koffer packen, um im Falle des Schlimmsten möglichst schnell aus dem Lande fliehen zu können.



Mittwoch, 3. Juni 2015

In Trümmern - Teil 1

Zwei Jahre waren nun seit dem Vergeltungsschlag vergangen. Im Panorama der Stadt stachen spitze Gebäuderuinen in den Horizont. Dunkler Rauch hing wie der ewig lauernde Tod über den zerstörten Fabriken, Häusern, Schulen und Kirchen. Die einst lebenswerteste Stadt der Welt ist zum Mittelpunkt der Grausamkeit, Unbarmherzigkeit und Gier der Menschheit geworden.

Michael lag in seinem Schlafsack als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht erfassten. Wärme und Licht waren lange Zeit verschwunden geblieben und fanden nun erst sehr scheu und schüchtern in die Gesichter der Verschreckten zurück. Die ersten Bagger waren auf der Straße zu hören und Menschen schrien durch die Gassen. Michael öffnete seine Augen, rieb sich seine Stirn und betrachtete die aufgehende Frühlingsonne. Seine Jeans hatten sich im feinen Nieselregen nassgesogen. Es war das wohl einzige freistehende Haus in der Stadt seitdem die Anarchie anfing. Der Grund war wohl schwer zu übersehen, denn durch das fehlende Obergeschoss bot es kaum Schutz. Doch einen Schlafplatz mit Fremden zu teilen war in diesen Zeit höchst riskant, weshalb man niemanden trauen wollte.

Auf der Straße schuftete man bereits. Starke Männer, deren Oberkörper in der Morgensonne glänzten, schoben Gesteinsbrocken, hebten Gruben aus, bauten Ziegelwände in die zerrissenen Fassaden, überzogen verbrannte oder vom Wind verwehte Dächer und fuhren Schubkarren Zement durch die Gegend. Die ganze Stadt war am Aufbau beteiligt und an diesem Tag, den 73. nach der katastrophalen Zerstörung der Stadt, sah man bereits erste Fortschritte auf den Straßen. Das Parlament wurde komplett mit Ziegelwänden saniert und die Staatsoper vollkommen überdacht. In diesen Gebäuden fanden bis zu 300 Familien ihren Schlafplatz, auch wenn durch Sicherheitsmaßnahmen kaum Platz gespart wurde.

Michael ging in die Oper um seine tägliche warme Mahlzeit zu ergattern. Es war bereits 9.27 Uhr geworden, und in diesen Zeiten hieß es: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. In der Empfangshalle warteten bereits weit über 100 Menschen vor ihm, obwohl die Ausgabe erst Punkt 10 begann. Viele Menschen waren von dieser Mahlzeit abhängig. Da sind eine Schüssel Kartoffeleintopf und 4 Brotscheiben bereits der weite Weg wert.

Die Menschen tuschelten und nuschelten in kleinen Gruppen. Sicher fühlte sich niemand in Gesellschaft anderer seitdem die Gesetzregelung außer Kraft getreten war. In Familienklans, die oft nicht mehr als 5 Personen betrugen, regelten sich die Menschen ihre Gesetze selbst. In der Not schreibt der Hunger die Gesetze. Geplündert und geraubt wurde nicht, allein aus zwei Gründen. Der erste war wohl, dass es gar nichts mehr zu plündern gab, der zweite, dass nach den schrecklichen Zeiten niemand mehr sein Leben aufs Spiel setzen wollte und schönere Zeiten erhoffte. Dazu trug jeder aus Gründen der Selbstliebe bei; Männer halfen beim Aufbau der Gebäude, versuchten Essen im Wald um der Stadt zu jagen oder zu sammeln, Frauen halfen bei der Nahrungsbesorgung, verteilten sie, kümmerten sich um Waisenkinder, erzogen ihre eigenen, und planten die nahe Zukunft der Stadt; junge Männer halfen ihren Vätern oder gingen Holz sammeln, putzten und schliffen Steine, junge Frauen webten Kleidung, spielten Musik, um der Depression entgegenzuwirken oder malten der Bevölkerung Bilder aus Kreide und Kohle. In diesem Leichnam einer Gesellschaft, in der der Fortschritt einst nicht schnell genug vorangetrieben werden konnte, erhofften die Menschen nun den nächsten Tag des nächsten zu überleben.

Jetzt war Michael an der Reihe. Er nahm die Plastikschale Eintopf und einen Becher kaltes, sauberes Wasser dankend an, ging damit zu einer der freien Holzbänke, die überall in den Saal der Oper gestellt wurden. Hastig aß er seinen überwürzten Gulascheintopf mit den harten Brotscheiben und trank den halben Liter klares Wasser herunter, um sich seiner Arbeit zu widmen. Er stellte das schmutzige Geschirr mit einem dankenden Gruß zu den anderen und verließ das mächtige Gebäude. Sein Weg führte über die Kärntner Straße, deren Gebäude von allen Seite aufgerissen waren. Beim Vorbeigehen konnte man die Schlafsäcke und einfach kostruierten Zelte innerhalb der Stockwerke betrachten, Kinder und deren Eltern, die sich ihren Tee über offenem Feuer erwärmten. Welch trauriges Leben die Generation der Zukunft zu erleiden habe, wollte sich Michael bei diesem Anblick nicht fragen. Mit den Händen in seinen Jeanstaschen ging er weiter, bis er bei dem verfallenen Stephandsom ankam. Die Spitzen waren weggesprengt und jede Art der auffällig konstruierten Kunstwerke an dem Gebäude mit ihnen. Übrig blieb ein armseliges, verbranntes Gebäude, welches ein Opfer von vielen war.


Nachdem die erste Bombe detonierte verspürte man ein starkes Beben in der Stadt. Sie verfehlte ihr Ziel um einige Kilometer und brachte nicht die erwünschte Wirkung mit sich. Die zweite Bombe erfüllte ihre Aufgabe mit vollstem Erfolg. Ein Druck, der aus der Höhe von 250 Metern Höhe auf die Erde stieß, ließ Häuser im Umkreis seiner Hauptwirkung zersträuben. Der große Rest der Stadt wurde von einem Windhauch des Teufels in verschiedenste Neigungen verdreht. Ein Drittel der Bevölkerung starb unmittelbar dabei; mit ihr die Bezirke und Ämter, die Demokratie und der Rechtsstaat. Ein Land dahingerafft – in 15 Sekunden. 

Montag, 1. Juni 2015

Vierzeiler

Lass' sie kommen, lass' sie gehen;
ihre Liebe sei dein Lohn;
kannst sie anschrei'n, kannst du flehen;
sie flüstert Worte morgen schon.

Wird dich mitnehmen, lässt dich steh'n;
deine Zukunft ist ihr gewiss;
nach Freiheit wirst dich sehnen;
jeder Kuss von ihr ein Biss.

Deine Werke sind Arbeit ihres Geistes;
ein Spiegel ihres Wunders nun;
der Lohn, nicht Lohn deines Fleißes;
sondern ihres liebstes Tun.

Doch nicht einer vermag zu wissen;
wann sie dich verlässt;
die Muse, war noch heut' am Küssen;
morgen schon im nächsten Nest.


Sonntag, 31. Mai 2015

Der Mann ohne Obdach


"Obdach" bedeutet Unterkunft oder Wohnung. Obdachlosigkeit wird definiert als Zustand, in dem Menschen über keinen festen Wohnsitz verfügen und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten.


Martin wacht gleich neben Plastikmülltonne mit rotem Deckel auf – wie das danebengeworfenes Altpapier um ihn herum liegt er da, greift sich auf die Schläfe, um den Druck in seinem Kopf auszugleichen. Doch es hilft alles nichts, und so steht er auf, um sich die Laubblätter und die Papierfuseln vom Leibe zu streichen. Mit den Gedanken noch bei letzter Nacht verlässt er die dunkle Seitengasse, aus der er getorkelt kam. Die Straßen sind voll von Menschen, die zur Arbeit laufen oder einkaufen oder anderen Erledigungen nachgehen – es ist Samstag. In vielen Sachen ist Martin entgegen der Meinung der Bevölkerung ein guter Mann. Auch wenn er keinen Wert auf sein Äußeres legt, weil Obdachlose sowieso stinken, wie er sagt, so hat er ein Herz für alles und jeden – ganz besonders für Hunde. Wann immer Martin einen Hund sieht, geht er auf ihn zu. Sofern der anvisierte Hund nicht fortrennt, entwickelt sich eine oft lang andauernde Freundschaft zwischen Hund und Mensch. Oft teilt Martin seinen Schlafplatz und sein Abendmahl mit den Hunden der Umgebung. Das richtige Verhältnis an Straßenkötern und halbfrischem Essen in den umliegenden Containern und Mülleimern ist gegeben und so sind alle glücklich: Die Hunde freuen sich über das festlich hergerichtete Abendmahl und einen gesicherten Schlafplatz in der dunklen Seitengasse, während der alte Martin sich über die Gesellschaft seiner Gäste freut.

Der alte Martin war vor langer Zeit mal jung gewesen – studiert hatte er sogar, in seiner Heimatstadt. Das Schicksal hatte sich ihm in großzügiger Manier anvertraut und so lebte er als Waise einer Arbeiterfamilie entsprungen, in der wundervollen Villa seiner Adoptiveltern. Sein echter Vater war ein Schläger und Säufer gewesen. Eines Nachts kam er sturzbetrunken nach Hause und schlug seine Frau halbtot, weil sie ihm das falsche Bier kaltgestellt hatte. Es dauerte nicht lange, bis die Nachbarn das Jugendamt einschalteten und Martin aus dieser Hölle befreiten. Seine neuen Eltern kamen aus Amerika – George und Natalia waren zwei wohlhabende Textilfabrikanten, deren Neugier und Unternehmungslust sie nach Europa führte. Sie nahmen den kleinen Martin auf – und erzogen ihn wie ein eigenes Kind. Es dauerte nicht lange, da entwickelte Martin ein äußerst feines Gespür für seine Umwelt. Wenn jemand traurig war, so konnte er es der Person ablesen, egal wie sie sich gab. Er war ein guter und ehrlicher Freund, der seinen Kumpanen immer Rat gab, wenn sie zu ihm kamen. Sie kamen oft zu ihm und so nannten sie ihn bald Weiser Martin. Er studierte auf einer Privatuniversität und lernte neue Menschen kennen. Die meisten von ihnen waren verlogen und falsch, stets an ihrem eigenen Profit, den sie aus jeder Sache schlagen konnten, interessiert. Martin fand nicht viel Gefallen an den wöchentlichen Discobesuchen und so schottete er sich bald ab, las in seinen Büchern und spielte Musik. Die Jahre vergingen und nach dem Studium machte sich Martin, ganz gegen den Wunsch seines Ziehvaters, auf den Weg nach Südafrika, um dem Leben auf den Grund zu gehen. Es dauerte nicht lange, bis er im Umland von Kapstadt einen jungen Mann traf, der in etwa im selben Alter war. Sie unterhielten sich eine Weile und er fand heraus, dass der junge Mann Jacob hieß. Jacob wohnte in den Slums vor Kapstadt. Obwohl er bitterarm war und nur eine schäbige Papphütte mit einem Dach aus Plastikfolien sein Eigen nannte, bot er Martin an, ihn zu besuchen. Der weiße Martin fiel im südafrikanischen Ghetto schnell auf – beinahe alle Bewohner hier waren schwarz. Der Großteil freute sich über den europäischen Besuch und Martin kündigte bald sein Hotelzimmer, um bei Jacob und seinen Freunden zu wohnen. Die Nächte waren von Musik, Rum und herzlichen Menschen begleitet. Fast jeden Abend fand irgendwo in der Hüttenstadt ein Fest, ein Peace-and-Freedom Evening, statt. Martin war bald so beliebt wie bekannt in der Gegend – er war herzlich und das exakte Gegenteil der zuvor gefürchteten und gehassten weißen Minderheit im Lande. Er ließ sich Zeit – mit den Monaten verfilzten seine Haare zu dicken Dreadlocks und seine Haut wurde unter der Sonne karamellbraun. Er begann den örtlichen Dialekt zu sprechen und wurde von allen nurmehr Mart genannt. Er fühlte sich wohl und dachte kaum mehr an Zuhause, an seine Eltern oder die Kollegen, die er zurückgelassen hatte.

Heute denkt Martin gerne an die Zeit in Afrika zurück – sie war eine der lehrreichsten Epochen seines Lebens. Als er zurückkehrte, scherte er sich die Haare kurz und trug wieder lange Hosen. Bald erkannte er, dass er im Geiste noch bei seinen Freunden war. Martin bemühte sich einige Jahre lang, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Einige Zeit arbeitete er als Redakteur einer Zeitung, doch wegen der Unzuverlässigkeit, wie sein Chef Martins fehlendes Gefühl für Pünktlichkeit bezeichnete, wurde er aber bald gekündigt. Es folgten schwere Zeiten als Milchmann, Fabrikarbeiter und schließlich Arbeitssuchender. Martin begann mit dem Trinken, verlor rasch seine Wohnung und landete auf der Straße. Seit 3 Jahren nun wohnt er, wie Jacob und seine alten Freunde, in einem selbstgebauten Häuschen, mit einem Dach aus Plastikfolien. Die örtliche Polizei drückt beide Augen zu – er tut niemandem was, heißt es aus inoffizieller Sicht der Polizisten. Doch der Mann mit zerzaustem Bart und zerfledderter Kleidung ist noch nicht am Ende angelangt! Vielleicht schafft er es, eines Tages eine Bleibe zu finden, in der er willkommen ist – dann hat er bessere Jobaussichten und kann als Akademiker einem geregelten Leben nachgehen.



Die fiktive Figur des Martin basiert auf Erzählungen eines Obdachlosen. Sie inspirierten die niedergeschriebene Geschichte.

Freitag, 29. Mai 2015

Die silberne Taschenuhr

"Gefällt dir, nicht wahr?", sagte die Frau mit einem breiten Grinsen. Sie sah Jakob mit großer Entzückung zu, der sich in diesem Moment erst dem fehlenden Geld bewusst wurde, das diese Uhr kosten würde. Er zuckte etwas zurück und sagte mit unbeholfener, beinahe unterwürfiger Stimme: "Verzeihen Sie mir vielmals, gute Frau, aber dieses Stück kann ich mir sicherlich nicht leisten." Das breite Lächeln der Frau veränderte sich nicht als sie Jakob tief in die Augen sah und schließlich sagte: "Ich schenke sie dir. Bin mir sicher, dass mein Bruder sie für jemanden wie dich aufgehoben hat. So einiges Abenteuer wirst du mit dem alten Stück erleben, mein Junge." Jakob wusste nicht recht, wie er seine Freude zum Ausdruck bringen sollte, streckte der Alten seine Hand entgegen und bedankte sich in freudefüllender Rede. Nachdem sie ihm noch einmal das Beste gewunschen hatte und sagte, er solle mit dem Geschenk vorsichtig umgehen, bejahte er ihre Anweisung und begab sich auf den Heimweg.
                                                       
Gute Laune führte Jakobs Beine an und so melodisierten seine Stiefelabsätze fröhlich auf den Backsteingassen. Die Sonne war bereits hinter die Dächer der wiener Altstadt gewandert und warf nurmehr einen hellroten Schein über den Häuserhorizont. Zu Hause angekommen warf Jakob seinen schwarzen Wollmantel auf den Tisch, zog seine Schuhe im Gehen aus und landete nach einem gekonnten Sprung sicher und sanft auf seiner Ledercouch. Pfeifend nahm er die Fernbedienung seiner Musikanlage in die Hand und startete die Liederliste – Mozarts Violinkonzerte. An der Wand hangen ziervoll umrahmte Kunstdrucke von Caravaggio und Poussin, deren dunkle, kräftige Schattierungen das sonst spärlich eingerichtete Zimmer mit Leben und Pulsierung füllten. Die schwarze Ledercouch, die Jakob von seinem Vater beim Umzug in die Wohnung geschenkt bekam, war das einzig teure Möbelstück in der gesamten Wohnung. Auf farbliche oder stilistische Harmonie achtete Jakob nicht und schätzte sowohl den weißen Fernsehtisch, als auch den kirschholzbraunen Kleiderkasten und den scharlachroten Schreibtisch. Sein liebstes Stück jedoch war der Bücherschrank, der Jakobs größten Stolz darstellte. Seit er das Lesen erlernt hatte, wurden allerlei Bücher von ihm gesammelt, allem voran aber Geschichtsbücher. Wann immer Jakob Zeit fand, stellte er sich vor das gefächerte Regal, wählte einen Band, setzte sich auf die schwarze Ledercouch und schmöckerte bis er einschlief, was oft noch auf dieser passierte. Dass er seine Musiksonaten in hohen Lautstärken genießen konnte, verdankte er seinen schwerhörigen Nachbarn, die in ihm einen besonders reifen, attraktiven, jungen Mann sahen, der sich für Kunst und Kultur und "all die schönen Dinge im Leben" interessiere, wie es die Dame immer wieder sagte.

Jakob hielt die silberne Taschenuhr in seiner Hand. Diese Gravierungen waren ein handgemachtes Meisterwerk, das konnten selbst seine Laienaugen erkennen. Langsam öffnete er die Uhr und strich über das kratzerfreie Glas. Es war keine Marke vermerkt, auch kein Jahrgang oder ein anderes Indiz, das das Geheimnis dieser Uhr zu lüften vermochte. Ein leises Quietschen war zu vernehmen, als er das Werk aufzog. Mit jeder Umdrehung spürte Jakob einen etwas größeren Widerstand, bis sich der Kopf gar nicht mehr drehen ließ. Kaum hatte er die Uhr beiseite gelegt, überfiel ihn eine unaussprechliche Müdigkeit, die an seinen Gliedern zu zerren begann, sich die Wirbelsäule hochschlang, schließlich seinen Kopf in ihren Besitz nahm und ihm somit jeden Gedanken raubte. Obwohl sich Jakob darüber bewusst war, dass diese Müdigkeit etwas Unnatürliches an sich hatte, fiel es ihm immer schwerer, die Augen offen zu halten, so sehr, dass der Kampf bald verloren war und er auf seiner weichen Couch zusammensackte. Während Wolfgang Amadé Mozart die Violinen spielen ließ, fiel Jakob in einen tiefen, unruhigen Schlaf.


Der Morgen wurde von tiefen Nebelschwaden begleitet. In den engen Backsteingassen hallte das Knarren der Fiakerkutschen, deren Räder die ausgestreuten Kieselsteinchen sprengten. Ein lauter Peitschenschlag, dessen Knall die friedliche Morgenstille durchschnitt, fuhr durch Jakobs Ohren und ließ ihn aufschrecken. Auf seiner Stirn zeichnete sich im Glanz seines Schweißes das drückende Wetter der vergangenen Nacht ab. Jakob schnaufte kurz, setzte sich auf und spürte, dass sein Gesäß auf einem harten Untergrund landete. Als seine Hand auf eine hölzerne Bank griff, deren Oberfläche abgenutzt und weichgeschliffen war, weiteten sich seine Augen, während er seinen Mund weit aufriss. Wo war die Ledercouch verschwunden, wohin war die gesamte Einrichtung von Jakobs Wohnung gewandert? Immer wieder wendete er sich, im Kreis drehend, suchte er einen Sinn, denn das Zimmer war dasselbe, das wusste er mit Sicherheit. Fassungslos bewegte er sich langsam zur kalkweißen Wand, berührte sie mit allen Fingern. An genau jener Stelle befand sich am vorherigen Abend noch Caravaggios Medusa Kunstdruck, dessen furchterfüllte Mine sich nun in Jakobs Gesicht wiederspiegelte. Er befand sich in seinem leeren Zimmer, in dessen Mitte einzig die hölzerne Bank stand, auf der Jakob aufwachte. Weder der Schreibtisch, noch der Bücherschrank, auch nicht sein Einzelbett oder Kleiderkasten standen im Raum. Erst jetzt bemerkte Jakob, dass er nicht einmal mehr seine Kleidung vom gestrigen Tag anhatte – stattdessen fand er sich in brauner Kordhose und weißem Hemd, über dem schwarze Hosenträger gespannt waren, wieder. Der Kragen war steif und ungetragen, wie auch die Hose und die schwarzen Lederschuhe. Jakob ging aus dem Zimmer und stand nun vor der Eingangstüre, die viel älter aussah als noch am Tag zuvor. Im Badezimmer war keine Duschkabine mehr und auch die Waschmaschine war verschwunden. In der Küche befand sich kein Herd und keine Teller, ja nicht einmal der Kühlschrank stand noch in der Ecke, wo er sonst immer stand. Verwirrt und kopfschüttelnd ging Jakob zurück ins Zimmer und setzte sich auf die Holzbank. In sich zusammengesackt saß er da, faltete die Hände zusammen und legte seinen glühend heißen Kopf darin. Er holte tief Luft. Dann, als er die Augen nach einer kurzen Weile wieder aufschlug, bemerkte er ein kleines, glitzerndes Stück Silber unter seinem Fenstersims. Jakob stand auf, eilte zum Fenster und hob die kleine Taschenuhr auf. Sie tickte nicht mehr. Als er auf das Ziffernblatt sah, bemerkte er, dass die Uhr um 5:41 stehengeblieben war. Hastig steckte er die Uhr ein und verließ seine Wohnung.