Montag, 7. März 2016

Der Schmächtige

Ein warmer Windhauch streifte durch die noch düster wirkenden Straßen, deren Antlitz menschenleer und trostlos erschien. Keine Menschenseele verließ das Haus an diesem kühlen Samstagmorgen zu solchen Zeiten, schon gar nicht in einer noblen Gegend wie dieser, wo jede Hausfassade mit feinen Verzierungen geschmückt war und kein Fenster schwere Vorhänge vermissen ließ  – und obwohl das wilde Treiben der Arbeitstüchtigen am Rande der Außenbezirke bereits begonnen hatte und die Mittagspause schon bald in mächtigen Sirenen eingeläutet werden sollte war hier, im innersten Teil der Innenstadt, keine Mühe zu vermerken. An der Mündung der langen, einsamen Straße verlief eine der größten Einkaufsstraßen der Stadt und so konnte man, wenn man dieses Eck beobachtete, die vorüberrauschenden Massen an chinesischen und arabischen Touristen sehen, die sich mühevoll und voller Erwartungen an den Straßenampeln stauten. Nur wenige Meter entfernt von dieser chaotischen, schon beinahe störenden Atmosphäre des Einkaufswahns und der Besichtigungswut, lag die selige Ruhe der städtischen Noblesse.

Es dauerte noch einige Zeit bis die ersten Geschäftsmänner die prächtigen Hotelpforten verließen und in ihre bereits vorgeparkten, polierten schwarzen Limousinen einstiegen, um zu den wichtigen Weltkongressen chauffiert zu werden. Ein dicker Herr flanierte in gleichgültigem Schritte über den roten Teppich und achtete kaum auf den Mann, der ihm die Tür zur Edelkarosse aufhielt. Mit kaum bemerkbarer aber dankbarer Geste nickte der Dicke dem Chauffeur zu bevor er seinen massigen Körper mit eingeübter Technik in die Limousine verfrachtete.

Just in dem Moment der Abfahrt stolperte ein kleines Männlein vor die Glastür des Nobelhotels. Seine Arme und Beine wirkten in der sommerlichen Kleidung wie Strohhalme, sein gesamter Oberkörper glich dem eines hochgewachsenen aber noch unreifen Kindes, während die spitz zulaufenden schwarzen Lackschuhe von großen Füßen zeugten. Kantige, spitze Backenknochen schossen aus seinem Gesicht hervor und umrahmten den eigenartigen, verwirrt wirkenden Blick des Mannes. Schwarzbraune Locken wirbelten sich über seinem Haupt zu einem hohen Haarknäuel zusammen, dessen Schmäle die stark ausgebildeten Geheimratsecken kundtat. Ratlos blickte er um sich und stieß einen unbeeindruckten Seufzer von sich. Sichtlich enttäuscht schritt er weiter seines Weges. Sein Gang folgte einem unregelmäßigen Takt, in dem er seine Beine quer übereinander schlenkerte während die Arme lotterig von seiner Schulter wie halb abgebrochene Äste herunterbaumelten. Zu seinem Glück waren sie fest an seinen Körper angewachsen, sonst wären sie ihm bei jedem rhythmischen Ruck plump auf den harten Asphalt gefallen. In dieser Art und Weise schritt der Mann seinen Weg. Kaum war er einige hundert Meter gegangen, wurde er plötzlich mit einem harten Ruck nach hinten geworfen. In dem verschreckten Moment des Augenblickes sah er eine Brille an seiner Schulter vorübergleiten während sein Kopf, fest in den Nacken gepresst, dem hellblauen Himmel und seinen kleinen, vereinzelten, schneeweißen Wölkchen entgegenblickte. Sein Rücken prallte ungeschützt auf den harten Beton des Gehsteigs auf und drückte sämtliche Luft aus dem dürren Körper des Mannes. Ein schmerzerfüllter Laut drängte sich durch seinen zusammengebissenen Mund und das schreckhafte Zusammenzucken seiner Arme ließ ihn auf die Seite wälzen.

Als sich seine zusammengepressten Lungen wieder mit frischer, kalter Luft füllten, sah er einen großen Mann mit braunem Aktenkoffer in der Hand vor sich stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis der Angerempelte den kleinen Mann am Boden wahrnahm und sich schließlich in tiefer, brummender Stimme und wutverzogener Grimasse über diesen entrüstete. „Pass auf, Krüppel, du schircher.“, sagte dieser mit erhobener breiten, behaarten Hand, die er zu einer gewaltigen Faust formte und mit drohenden Geste schwenkte. Er hob seine Brille auf und hielt sie gegen die Sonne. Tiefe, weiße Risse waren durch die beiden runden Gläser gezogen. Wortlos stampfte der Mann seinen Weg durch die Fußgängermassen weiter. Immer tiefer tauchte er in die wirren Ströme von Menschen ein und bevor der Schmächtige erneut zu sich kam, konnte jener schon im Trubel des frühen Nachmittages entschwinden.
Krüppel, schircher, klang es immer wieder, in nicht enden wollenden Wortschleifen in seinem Kopf. Der scharfe Ton des Mannes, die drohende, mit Haaren überwucherte Faust und der penetrante Geruch seines Rasierwassers bildeten eine giftige Wolke von Eindrücken in den Gedanken des Schmächtigen und fraßen sich mit ätzenden Schmerzen tief in sein Bewusstsein. Noch immer starrte er wie angewurzelt in den Himmel, wartend auf ein Wunder, eine Zeitverschiebung, die ihm diese Situation ersparte und rückgängig machte und niemals wieder geschehen ließ. Aber sie blieb aus und er blieb auf dem Boden zurück. Inmitten zahlloser Menschen lag er verlassen und einsam am kalten Asphalt, wie eine heruntergefallene Zeitung, deren Wert es nicht erforderte sie noch einmal aufzuheben. Schließlich regte sich etwas in ihm. Ein leichtes Ziehen breitete sich in seinem Kiefer aus, ein kaum merklicher Druck, der seine Zähne aufeinander presste, immer stärker anschwoll bald schon die breiten Kieferknochen aus seinem Gesicht herausragen ließ, die, umspannt von dicken Sehnen, der gewaltigen Kraft des Bisses standhalten mussten. Der Krampf zog in den Hals über den Nacken und den Rücken, wo er schließlich in den Füßen und Händen mündete und schließlich zitterte der Schmächtige mit allen Muskeln seines Körpers. Er spürte alles an sich herabgleiten, fühlte sich schwebend in infernaler Höhe, fliegend, sausend, eilend, jagend durch die Sphären der zersetzenden Bitterkeit, bis er schließlich mit rasender Wucht in einen Zustand des brodelnden Hasses eintauchte. Abscheulicher Groll schwoll aus seinen Augen hervor und breitete sich in seinem Gesicht aus. Noch bevor der dürre Mann seine erste Bewegung gemacht hatte stand ein Gedanke fest verankert, ein Gedanke, ein Verlangen, ein heißer Wunsch, der tief in seinem Kopf brannte und nicht mehr gelöscht werden konnte – Rache. 

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Du fehlst.

Brauner Cockerspaniel.
Du fehlst.
Rotes Feuerwehrauto.
Du fehlst.
Fröhliche Kinderlieder.
Du fehlst.
Miniatur-Sammelfiguren.
Du fehlst.
Krautflecken und Eiernockerl.
Du fehlst.
Takt der Pendeluhr inmitten lautloser Stille.
Du fehlst.
Goldenes Kreuz - dahinter ein Buch von Johannes Paul II.
Du fehlst.
Engelfiguren aus Porzellan.
Du fehlst.
Dein seliges Lächeln.
Du fehlst.
Ein Grab. Ein Kreuz. Ein Engel aus Porzellan.
Du fehlst.

Mittwoch, 17. Juni 2015

Der Schriftsteller

In diesen Monaten nannte ich nicht mehr als ein paar Hosen, zwei, drei Hemden und mein abgetragenes Paar Schuhe mein Eigen – aber mehr verlangte ich vom Leben nicht. Ich war glücklich mit dem Zustand dieser absoluten Freiheit – tatsächlich spürte ich die guten und schlechten Seiten und Zeiten dieses Umstandes. Eines Abends, ich saß wie so oft an den Stufen des Burggartens und schrieb die Geschichten meiner Fantasie aufs Papier, da kam eine alte Dame an mir vorbei. Ich sah sie von meinem Augenwinkel aus, beobachtete sie, wie sie mich wohl beobachtete. Interessiert setzte sie sich nach einer Weile zu mir und blickte mir, unverschämt wie sie war, in meine Notizen. „Was schreiben Sie denn da?“, fragte sie höflich aber bestimmt. Mein Blick verriet ihr wohl nicht genug und so fragte sie abermals: „Nun sagen Sie schon, was schreiben Sie denn hier?“ So verrückt ich ihre Frage fand, so bestürzte sie meine Antwort darauf. „Was, Sie schreiben hier Geschichten?“,  quiekte sie vor Entsetzen. Ich musste lachen, bat die edle Dame jedoch sofort um Verzeihung, ich hätte schon viele Reaktionen erlebt, sagte ich ihr, aber solch ein Entsetzen hatte ich mit meinen Geschichten noch nie ausgelöst. Sie fragte mich, wie alt ich denn wäre, als wäre das Schreiben von Geschichten eine Kindesangelegenheit. Die Frage warf ich natürlich zurück, worauf ich eine enttäuschte Mine als Antwort zugewandt bekam. Sie kam regelmäßig vorbei, und so lernten wir uns in diesen sonnigen Tagen kennen. Ich nannte sie Frau Fuchs, aufgrund ihres Fuchsfelles, das sie stets als Schal um ihren faltigen Hals geschwungen hatte. Ihren echten Namen hatte sie mir nie genannt, vielleicht hatte ich ihn jedoch erraten – ich habe es nie erfahren. Frau Fuchs war meine fleißigste Leserin – hätte ich mehr Menschen wie sie begeistert, ich hätte in diesen Wochen ein Obdach gehabt. Nun, Frau Fuchs wusste wahrscheinlich nicht um meine Situation, und so sprach sie stets in guten Tönen von mir, eine positive Kritik inmitten der schweren Zeit, die mich stark aufzubauen wusste. Tatsächlich, unsere Bekanntschaft war etwas ganz besonderes.

An den wärmeren Tagen hatte ich meinen Spaß im Stadtpark, wo ich mich auf abgeschiedene Plätze setzte und den Leuten zusah. Sie taten oft nichts besonderes, meist saßen sie auf einer Parkbank und plauderten über dieses und jenes. Genau daraus bestand der Stoff, der die Menschen entzückte und bewegte, entbrannte und mit sich fortriss. Mit der Zeit lernte ich die Leute kennen, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Ich erfand für jede Person eine Geschichte, die ganz auf meine Vorstellungen von ihr zugeschnitten war. Eine Dame, zum Beispiel, war für mich eine gutverdienende Geschäftsfrau, die mit allerhand wichtigen Staatsmännern telefonierte und konsequenzreiche Entscheidungen zu treffen hatte. Die Vorstellung hatte ich mir natürlich nicht einfach so aus den Fingern gesogen: Wann immer ich sie sah, saß sie nervös auf einer Bank und telefonierte. Mit ihrer rechten Hand fuchtelte sie wild umher und schien damit ihre berufliche Prägnanz zum Ausdruck bringen zu wollen. An manchen Tagen saß ich in akustischer Reichweite  und konnte ihre Stimme vernehmen – sie klang angespannt und hektisch. Für mich war sie eine starke, große Person, die mit beiden Beinen im Leben stand und viel Verantwortung trug. In dieser einen Hinsicht hatte ich schlussendlich recht: Nach einigen Monaten erfuhr ich von einer Passantin nach einem langen Gespräch, dass die imaginierte Geschäftsfrau Mutter von drei Kindern war – die Gespräche fanden mit ihrem heutigen Exmann statt.

Wenn man auf der Straße lebt, lernt man gezwungenermaßen viele Menschen kennen – es kommt auf das eigene Geschick an, diese Bekanntschaften zu nutzen. Der eine mag sie für eine finanzielle Bereicherung gebrauchen, der andere sieht in ihnen neue Freundschaften und Vertrauenspersonen. Ich hatte stets nach den Geschichten der Menschen gefragt. Wann immer ich die Möglichkeit hatte mit jemandem zu reden bat ich ihn mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Man erzählte gern von sich selbst – manche waren stolz auf ihre Taten, und manche schämten sich gar – erzählen wollten sie aber alle. Wichtig war es in diesen Situationen offen und ehrlich zuzuhören. Ich versuchte mich in die Rolle des Erzählenden zu bringen, so, dass ich die Bilder der Geschichten vor meinem inneren Auge zu sehen bekam. Jedes Mal fühlte ich mit den Menschen und lachte oder weinte mit ihnen. Es war selbstverständlich, mich bei ihnen zu bedanken und ihnen mit Rat zur Seite zu stehen. Oft entstanden längere Bekanntschaften und bald schon war ich eine Art Sensation des Stadtparks, der Stadtparkschreiber. Aber nicht nur die Besucher des Parks beanspruchten meine Aufmerksamkeit, auch die Bewohner weckten mein Interesse. Vögel, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Enten und ab und zu kam sogar eine Hauskatze auf Nachtbesuch. Wahrscheinlich wusste ihr Besitzer nichts vom Ausreißen des getigerten Freundes und so machte sie sich gelegentlich auf die Suche nach Mäusen und Vögel. Das Geheimnis dieser Katze mit ihr zu teilen bereitete mir ein großes Vergnügen und so beobachtete ich sie oft beim Jagen und Spielen. Eine meiner lebhaftesten und lustigsten Geschichten handelt von genau dieser Katze.

Oft fragten mich die Leute, warum ich das Dasein als Obdachloser einem normalen, geregelten Leben vorziehen würde. Ich musste ihnen immer wieder erklären, dass es nicht meine Entscheidung gewesen war, im Freien zu leben – viel mehr fehlte mir die finanzielle Unabhängigkeit, um mir einen Wohnplatz anmieten zu können. Manche Menschen baten mir daraufhin einen Schlafplatz bei ihnen  an – ich lehnte ihre Angebote stets ab. Das lag nicht etwa an Furcht oder Unsicherheit – viel mehr wollte ich meinen anspruchslosen Lebensstil nicht verlieren. Spätestens an dieser Stelle schüttelten alle Menschen ihren Kopf: Wieso ich ihr Angebot ablehnte, einen freien Wohnplatz zu bekommen, wenn ich doch gerne ein Heim hätte, das konnten sie nicht nachvollziehen. Sie wollten nie verstehen, dass ich mich hier wohl fühlte, und meinen Schlafplatz als einen gerechten Platz empfand. Mehr brauchte ich hier nicht zum Leben – ein paar Euros bekam ich täglich, nicht durchs Betteln, ich schrieb kurze Geschichten und bat sie zum Verkauf an. Die Leute dankten es mir mit milden Gaben – bis zu fünf Euro bekam ich für eine zehnseitige Geschichte. Mein Leben war gut und ich erinnere mich gerne an diese Tage zurück, die ein fester Teil meines Lebens gewesen waren.

Dann, als der Winter einbrach, musste ich mir eine Bleibe suchen. Das Schicksal wollte mir einen rechten Haken verpassen, also fand ich keine Verdienstmöglichkeit und musste, beinahe mittellos, in ein Obdachlosenwohnheim ziehen. Die Betten wurden jeden Tag neu vergeben, ich musste mich bereits früh anstellen – viel Zeit ging in diesen Wochen verloren. Ich lernte wieder viele neue Leute kennen: Herr Gabriel, beispielsweise. Er war in etwa so alt wie ich und dem Alkohol verfallen, aber kein Mann auf dieser Erde konnte sich eines besseren Humors behaupten. Wenn jemand im Zimmer schlechte Laune hatte, wusste er sie ihm sofort auszutreiben, vorausgesetzt der Alkoholpegel entsprach seinen Mindestanforderungen. Der Herr Gabriel war eine gute Seele, die viel zu früh von uns ging. Aber so ist das, Leute gehen, Leute kommen. Eines Morgens, ich war bereits wach uns schrieb an einer Kurzgeschichte, wachte Herr Gabriel neben seiner Flasche Wodka auf und fragte mich, warum ich erfundene Geschichten auf leeres Papier schreibe; immerhin wäre es um die Tinte schade, weil das nie jemand zu Gesicht bekommen würde. Als ich ihm dann entgegnete, dass es mein Wunsch wäre, Menschen mit meinen Geschichten zum Lachen zu bringen, schnappte er sich eine meiner Geschichten und fing an zu lesen. Als ich ihm beim Lesen beobachtete, konnte ich sein seliges Lächeln sehen – es war ein ehrliches, erfreutes Lächeln. Dieser kurze Augenblick hatte all den Strapazen in dieser Zeit einen hohen Wert gegeben.

Mittlerweile lebe ich ganz gut von meinen Geschichten – ich kann mir eine regelmäßige Miete leisten und muss keinen Hunger leiden. Ehrlich gesagt ist dieser Lebensstil für mich purer Luxus und ich finde es schade, ihn mit niemandem teilen zu können. In den wärmeren Monaten setze ich mich fast täglich in den Burggarten, direkt auf die Stiegen, wo ich schon in früheren Zeiten gesessen bin. Ich sehe den Leuten zu und schreibe ihre Geschichten nieder. Frau Fuchs ist gestorben und so auch Herr Gabriel, aber sie spiegeln sich in meinen Texten wider und bringen so dem einen oder anderen Leser ein weiches Lächeln auf die Lippen. Ich habe kein großes Lebensziel, keine Visionen oder Friedensträume. Ich bin und bleibe stets der arme Schriftsteller mit zwei, drei Hemden, einer alten Militärjacke und meinem abgetragenen Paar Schuhe. Wenn Sie mich einmal auf der Straße sehen, sitzend oder stehend, schreibend oder denkend, seien Sie so nett und erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich werd’s Ihnen danken. 

Montag, 15. Juni 2015

Opa Dorsch

An der weißen Veranda saß ein zitternder Mann im Rollstuhl. Seine Augen waren mit dem Alter trüb geworden, seine Haut hing in tiefen Falten herunter und dunkle Flecken breiteten sich über seine Arme und Hände aus. Doch sein Lachen, das war jung und ehrlich geblieben, wie das eines Kindes. Herr Dorsch war bereits 97 Jahre alt, oft aber behauptete er, er wäre erst 57, oder an manchen Tagen, wenn ihm die gute Laune bis in den Kopf stieg und sich in einem breiten Lächeln zeigte, da war er sich sicher, noch keine 30 zu sein. Aber das Alter spielte beim alten Dorsch eine untergeordnete Rolle – wer immer zu ihm kam, der wurde mit Respekt und Charme vom ehemaligen Geschäftsmann empfangen. Er wohnte in einem privaten Pflegeheim, unweit eines großen Waldstückes, wo die Bewohner in den warmen Monaten den Bäumen und seinen Bewohnern zusahen – erst im Alter fing man an, den ewigen Kreislauf des Kommen und Gehens zu verstehen. So saß Herr Dorsch gerne im Grünen, so wie eines Tages auch, als sein Urenkel, Sebastian Dorsch, ihn besuchen kam. Man muss an dieser Stelle wissen, dass Herr Dorsch nur ungern mit seinem Vornamen angesprochen wurde – das hatte persönliche, aber auch gesellschaftliche Gründe. An diesem Frühlingstag also, begrüßte Dorsch seinen Urenkel, den Studenten und schloss ihn in die Arme. „Groß bist du geworden“, sagte Dorsch mit hochgezogenen Brauen. „Ja, 23 werde ich dieses Jahr“. Sebastian lächelte ihn an. Dorsch sah Sebastians Nadelstreifanzug an – „Ach, geschäftlich unterwegs?“ „Nein“, sagte Sebastian, „So geht man einfach ins Studium, heutzutage.“ Der alte Mann betrachtete seinen Urenkel eine kurze Weile, bis er seinen Mund schloss und die Aussage einfach abnickte. „Hast wohl recht, Bursche.“

Eine Pflegerin kam den Waldweg entlang spaziert. Sie war nicht älter als Sebastian und trug eine beige Schürze um die Jeans geschnürt. Mit großen, vorsichtigen Schritten versuchte sie den kleinen Wasserlacken inmitten der weißen Blütenlandschaft auszuweichen. Sie stellte sich sehr tollpatschig an und als Sebastian ihren ausbalancierten Gang sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bianca“, empfängt sie der alte Mann mit freudigem Strahlen im Gesicht. Als er ihr genauer ins Gesicht sah, konnte Sebastian sicher sein, dass sie noch keine 25 war. Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah zu ihm herüber als sie sagte: „Maria, ist mein Name, Herr Dorsch. Was darf ich Ihnen und ihrem Enkel denn bringen?“ – „Urenkel“, unterbrach sie der Dorsch mit Stolz in seiner Stimme. „Also ich hätte gerne einen Apfelsaft, wenn’s sein darf.“ „Für mich bitte das selbe.“, fügte Sebastian schüchtern hinzu. Maria lächelte freudig ihn an, nickte artig und machte sich auf den Weg zurück ins Altenheim. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“ Die dicken Lippen des Greises formten sich zu einem runden Kussmund. „Opa Dorsch!“, ermahnte ihn sein Urenkel lachend. „Nein, nein, ist doch kein Problem“, entgegnete ihm der Greis. „Bin zu deiner Zeit auch allem nachgejagt. Das liegt den Männern einfach im Blut, glaub mir das.“ Doch Sebastian war viel zu schüchtern, um weiter auf das Thema einzugehen und so füllte eine kurze Pause der Stille den Ort. Erst jetzt bemerkte Sebastian die selige Ruhe, die diesen kleinen Fleck inmitten des Waldes umhüllte. Vereinzelt hörte man Vögel zwitschern und von Weitem konnte man das Lachen alter Menschen vernehmen. Der Wind säuselte in einer vertrauten Melodie in Sebastians Ohren und umhüllte die beiden Herren am Tisch der Familie Dorsch.

Maria kam bald wieder und stellte den Apfelsaft auf den Tisch. „Darf ich sonst noch etwas tun?“, fragte sie die beiden Herren, ohne dabei Sebastians Blick zu beachten. „Naja, also wenn Sie so fragen, Gnäd’s Fräulein“, begann der alte Mann zu lächeln, „Mein Enkel, der Sebastian, ist ein aufgeweckter Bursche, müssen Sie wissen. Ich glaub, dass er ein wenig Gefallen an Ihnen findet, Sie verstehen?“. Sebastian sah verkrampft zum Boden und spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anstieg. Maria aber, schien mit der Situation besser umgehen zu können. „Er scheint ganz nach seinem Opa zu kommen, zuvorkommend und herzlich.“, entgegnete sie ihm schmunzelnd. „Uropa.“, verbesserte sie der alte Dorsch mit erhobenem Zeigefinger. Sebastian fing Marias Blick auf und verlor sich in ihren großen, braunen Augen – Gefühle der Glückseligkeit schossen ihm vom Bauchnabel in den Kopf. Er sah ihr Lächeln, er wusste, dass es ihm galt, doch sein Gesicht war wie gelähmt und so blickte er sie mit erstarrter Mine an. „Also mir tut der Rücken schon wieder weh, ich sollte mich etwas hinlegen.“, sagte Dorsch mit zugezwinkertem Auge zu Sebastian. „Was du willst schon gehen?“, fragte ihn sein Urenkel geschockt. „Mach dir um mich keine Sorgen.“, sagte der Mann mit herzlicher Mine. „Hast doch eine gute Bekanntschaft gemacht. Am besten setzt ihr euch zusammen und lernt euch erst einmal kennen. Ich finde sie nett!“ Sebastian sah Maria schüchtern an und spürte ihr Lächeln in seinem Herzen. Herr Dorsch verabschiedete sich mit einer festen Umarmung. „Wünsch dir was,“ seine Worte klangen ehrlich und warm. Während Opa Dorsch über den Waldweg zurück ins Heim geschoben wurde und weiße Apfelblüten in seinen Schoß fielen, setzte sich Maria zum weißen Tisch, wo sie sich dem gutaussehenden Sebastian noch einmal vorstellte.


Herr Dorsch starb die Woche darauf – er hatte Sebastian nicht wieder gesehen. Die Beerdigung war düster und traurig. Während die engsten Familienangehörigen weinten, standen Freunde, Bekannte und mögliche Erben abseits und blickten bekümmert auf den großen, dunklen Eichensarg. Sebastian ergriff Marias Hand, als der Sarg in die Erde herunterfuhr. Die Trauerrede seines Onkel Konstantin trieb ihm und auch seiner Freundin warme Tränen über die Backen. Als alle gegangen waren und auch der Priester Abschied genommen hatte, stand Sebastian noch einmal vor Opa Dorschs Grabstein. Bedacht fuhr er die eingravierten Buchstaben nach. Erinnerungen spiegelten sich in seinen Gedanken wieder und so sah er in den Himmel und schickte ihm einen stillen, dankbaren Gruß. Maria stand auf dem hellen Kiesweg und ergriff seine Hand, als er auf sie zukam. „Eines hätte er nicht gewollt“, sagte Sebastian, und warf einen letzten Blick auf den Marmorstein. Als Maria ihm einen fragenden Blick zuwarf, da fügte er hinzu: „Dass man seinen Vornamen dran schreibt. Ich glaube Opa Dorsch hätte er lieber gehabt.“ Beide lächelten kurz, und dann verließen sie das Grab des 97 jährigen Adolf Dorsch, das von Apfelbäumen umgeben war. 

Sonntag, 14. Juni 2015

Junge Liebe

Es war ein edler Altbau in dem er wohnte, mitten im Herzen der Stadt. Sie öffnete die große, weiße Flügeltür und fand sich in einer Wohnung, die mit ihrem prächtigsten Traum nicht mithalten konnte. Der Vorraum war ausgeschmückt mit Portraits von Caravaggio, seinem absoluten Lieblingskünstler, wie er ihr als Erklärung gestand. Sie ging auf dunkelbraunem, feinst geschliffenen Parkettboden, der sanft und leise knarrte und jeden ihrer Schritte einladend begrüßte. Er führte sie in sein Schlafzimmer, das größer war als das Wohnzimmer ihres Elternhauses. Sanfte Küsse spürte sie an ihrem Hals, zarte Hände berührten ihre Taille. Sie fand keinen Grund sich zu wehren, keine Ausrede für eine Flucht, denn er war ihr vertraut und nahe wie kein Mann zuvor. So gab sie sich ihm hin, dem Mann, der ihr Herz erobert hatte, der an einem einzigen sonnigen Nachmittag vollbrachte, was so viele vor ihm Monate und Jahre vergebens versucht hatten. Am nächsten Morgen wurde sie von Sonnenstrahlen geweckt, die sanft und warm auf ihren roten Backen tänzelten. Sie fand sich blütenweißer Bettwäsche, auf einem großen Bett in dem gigantischen Schlafzimmer. Als sie ihn nicht finden konnte, durchwanderte sie die ganze Wohnung. Sie blickte in jede Ecke und hinter jede Tür, doch sie fand nur leere Zimmer, lange Gänge und antike Einrichtungen. Ein Gefühl der Unsicherheit durchbrach ihre innere Ruhe. Was war geschehen und wo war der Mann, der ihr Herz in Windeseile erobert hatte? Sie wurde immer nervöser, spürte ihre Hände zittern suchte nach ihm wie im Wahn aber konnte ihn nicht finden. Angst durchfloss ihren Körper und so packte sie ihren Rucksack und schritt durch das große Vorzimmer, vorbei an den Gemälden, vorbei an der Flügeltür, hinaus ins Treppenhaus.

Als sie in die enge Gasse heraustrat, überfiel sie ein Schwindelanfall. Sie musste sich an der Kalkwand abstützen, um nicht auf die kalten, harten Backsteine zu fallen. Sie atmete tief und schwer. Tränen fielen zu Boden und verfärbten die Steine in dunkelblaue Quadrate. Lautes Schluchzen ertönte in der Gasse, es war ein Schluchzen, das von Verzweiflung, von Hass und von Trauer sprach. Sie war allein gelassen, von dem Mann, dem sie ihre Unschuld schenkte, unbedacht und spontan, wie sie sonst nie gewesen war. Ihr Magen wurde schwer und wäre er nicht leer gewesen, so hätte sie alles herausgebrochen. Nach Momenten der Trauer und Einsamkeit verfiel die junge, zerbrochene Schönheit in Wut. Sie stampfte die Gasse entlang, ging zum Stephansplatz, setzte sich auf die Marmorbank, auf der sie gestern ihren Stolz und ihre Würde verloren hatte. Sie saß, einsam und verlassen, einige Weile auf der Bank und beobachtete die Touristen, die nach billigen Attraktionen Ausschau hielten. Das Geld, das sie zusammengespart hatte würde für einige Tage reichen, also fuhr sie mit der U-Bahn zurück zum Westbahnhof und mietete sich im billigsten Hotel der Stadt ein kleines Zimmer. Hier war sie allein, hier war sie sicher vor Blicken und Sprüchen, vor der Scham, die sie überkam wenn sie an die letzte Nacht dachte. Sie zwang sich ein Sandwich zu essen und betrank sich am Abend mit billigem Rotwein. Es dauerte nicht lange, bis sie vor dem flimmernden Fernseher einschlief.

Die Wohnungstür war nicht ins Schloss gefallen und stand einen Spalt breit offen. Er stellte die Einkaufstasche auf den blanken Eichenholzboden und schloss hinter sich ab. Er ahnte nichts, als er ins Schlafzimmer trat und das verlassene Bett vorfand. Sie hätte es zwar ausschütteln und herrichten können, doch er würde nicht Kritik an ihr üben. Im Supermarkt wurde ihm bewusst, wie viel er bereits von ihr wusste –so hatte er den Schinken wieder zurückgelegt, da sie am Vorabend über ihre fleischlose Ernährung erzählte – also entschloss er sich dazu, ein Frühstücksei mit Käsebrot und Müsli zu servieren. Er begab sich in die Küche und begann damit, die Eier zu kochen, das Müsli in die Schüsseln zu streuen und die Brote zu schmieren. In Gedanken war er bereits bei ihr, kuschelte sich an ihren schönen Körper und flüsterte ihr sanfte, liebevolle Worte ins Ohr. Während er das Tablett mit tanzendem Schritt in das Schlafzimmer brachte, erfreute er sich an der Vorstellung den ganzen Tag mit dieser Schönheit verbringen zu werden. So machte er das Bett und wartete artig auf das reizende Mädchen, das ihm seit der Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Während er unruhig an der Bettwäsche zupfte, dachte er noch einmal an den vorigen Tag nach. Ursprünglich wollte er seinen besten Freund am Flughafen abholen, der von einem dreimonatigen Trip aus Brasilien zurückgekehrt war, doch kurz vor dem Gate an dem er seinen Kumpanen erwarten sollte, machte er kehrt und folgte ihr. Er verpasste ihren Bus um Haaresbreite. Verzweifelt hatte er die Suche bereits aufgegeben und begab sich mit müdem Schritt nach Hause. Am Stephansplatz jedoch erblickte er sie wieder, unübersehbar in der Menge strahlte das Mädchen, das ihm alle Gedanken geraubt hatte. Ein Glück, dass er sie gefunden hatte, dachte er sich nun mit zufriedenem Lächeln. Sie war schon lange im Bad, also wollte er anklopfen, nach ihr fragen und einen schönen, guten Morgen wünschen. Doch seine Worte blieben unbeantwortet. Als er die Türklinke herunterdrückte, bemerkte er, dass auch das Bad leer war.


Samstag, 13. Juni 2015

Die dunkle Bar

Das weichgescheuerte Thekenholz fühlte sich beinahe wie Glas an, als Tom mit seiner rechten Hand darüber fuhr. Unzählige Getränke, Münzen, Kreditkarten und Zettelchen mit aufgekritzelter Telefonnummer wurden hier im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgetauscht – die Bar war Zeuge so mancher Ehe, Scheidung und Affäre geworden, und doch schwieg sie, voller Geduld und Verständnis für den Erzählenden. Seit fünf Jahren kam Tom beinahe jeden Abend in diese kleine Cocktailbar im Zentrum der Stadt. Während sich neben der Eingangstür junge Frauen und Männer auf den abgewetzten Sofas niederließen, bevorzugte er den hohen Barhocker und das gleichmütige Gesicht des Barmannes, der zugleich Besitzer des Lokals war. Er hieß Franz und war nur wenige Jahre älter als Tom – sie verstanden sich seit Beginn ihrer Bekanntschaft gut und so sprachen sie zueinander als Freunde und berieten sich in ihren Ehesachen oder in Geschäftsfragen. Tom wusste alles von Franz und Franz wusste alles von Tom. Auch an diesem Abend saß er an der Theke. Sein Knie drückte gegen die rauen, kühlen Ziegelsteine, aus denen die Bar aufgebaut war, und rieb nervös zwischen den beiden Kanten hin und her. Seinen zweiten Drink hatte er bereits getrunken und wie es die Gewohnheit verlangte, spendierte Franz ihm, still und heimlich, um die anderen Gäste mit dieser Unart des Gastgebers nicht zu vertreiben, den dritten und letzten Drink dieses Abends. Wie jeden Abend trank Tom einen Gin Tonic mit einem Schuss Kokosmilch – eine Eigenkreation von Franz, der in jungen Jahren als Barkeeper gearbeitet hatte.

„Dank‘ dir“, sagte Tom. Der Barmann, bereits kahl am Kopf, sah seinen treuen Gast durch die eckige Brille an. „Thomas, du siehst heute etwas mitgenommen aus. Was hat dich denn gebissen?“ Keine Antwort. „Heitert dich ein bisschen Blues auf?“, Franz grinste über seine spärlich behaarten Backen, als weichgespülte Saxophonmusik die dunkle Bar mit heiterer Laune erfüllte. Lachend schüttelte Franz seine Schultern im Rhythmus der bewegten Musik - Toms Antwort war dasselbe, unveränderte Gesicht mit traurigem Blick. „Komm, erzähl jetzt.“, forderte ihn der Barmann auf. Einen Moment lang zögerte er, begann dann aber seine verkrampfte Miene zu lösen und schnaufte in sein Whiskeyglas. Franz merkte, dass sein Gegenüber noch einige Zeit überlegte, um die richtigen Worte zu finden. Nach einer kurzen Pause, die von fröhlicher Bluesmusik aufgefrischt wurde, warf Tom eine Frage in die Luft. „Was würdest du tun-“ er stockte einen Moment, sah nach links und recht und vergewisserte sich, dass niemand lauschte, „Wenn dich jemand verfolgt?“ Der Barmann sah Tom mit verhärteter Miene an. Er schien auf etwas zu warten, einen weiteren Satz, eine Erklärung, einen Abschluss des Satzes, aber als nichts folgte, sagte er schließlich fragend: „Also dich verfolgt wer.“,  und als er zu Ende gesprochen hatte, zuckte Tom zusammen, als hätte ihn etwas im Nacken gestochen. Er packte die Hand von Franz und drückte sie fest. „Nicht so laut.“, flüsterte er ihm mit bedrohlichem Blick zu. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gesunken und standen wie liegende Rufzeichen über die strahlend blauen Augen. „Siehst du den Kerl, der da hinten ganz allein auf der Couch hockt?“, fragte er nervös. Franz ging aus der Theke und begann abzuservieren. Tom sah ihm nicht nach. Er spürte seinen Pulsschlag in jeder Fingerspitze, kalter Angstschweiß befleckte seinen Rücken. Seit Stunden schon fühlte er sich von dem Mann, mit der dunklen Sonnenbrille in den Kragen geklemmt, verfolgt. Er schluckte fest und spürte seinen Kehlkopf gegen die Speiseröhre drücken. Schließlich kam Franz zurück und stellte das schmutzige Geschirr in der kleinen Abwasch hinter der Theke ab. Wortlos blickte er Tom in die Augen, als er ein frisch abgespültes Bierglas aus dem Regal nahm und Weizenbier darin einschenkte. Seine Augen wirkten starr aber beruhigend, als würden sie ihm seine Angst nehmen wollen. Dann zog er seine Augenbrauen kurz und auffällig hoch, um Thomas etwas zu deuten. Während Franz das Bier in geschwindem Gang nach hinten brachte, verfolgten Thomas Augen den Barmann.

Franz kam nach einem kurzen Gespräch mit dem fremden Gast zur Theke zurück. Er begann die Regale zu schlichten, die Gläser einzuräumen und das Geschirr abzuwaschen. Thomas betrachtete währenddessen die Gemälde und Fotografien an der Wand. Sie schienen im Schimmer der alten Glühbirnen, die in Gehäusen aus verschwommenem Milchglas versteckt waren, düster und alt. Bei genauem Betrachten sah Tom eine dicke Staubschicht, die sich an der Oberseite der Rahmen festgesetzt hatte. Als er zurück zu Franz blickte, bemerkte er seine beängstigte Miene. „Darf es noch was sein, der Herr?“, fragte Franz mit blinkendem Auge. Dann spürte er ein gefaltetes Stück Papier unter seine Hände gleiten. Er nahm es unauffällig auf seinen Schoß und öffnete es. Mit Bleistift stand in Blockbuchstaben geschrieben: „DU BLEIBST BESSER HIER.“ Angst überkam Tom wieder und Schweiß rann den Rücken herunter, als er den besorgniserregten Blick des Barmannes verspürte. Also habe ich mir das doch nicht eingebildet, dachte er, während seine Augen starr auf das Bierfass hinter den Gläsern gerichtet waren. Eine ganze Weile verging, in der Thomas still und unbewegt auf seinem harten Barhocker saß und der Musik lauschte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, doch glaubte er den Blick des Unbekannten in seinem Rücken zu spüren, als würde er ihm ein scharfes Messer immer fester und tiefer andrücken. Franz sprach kein Wort mehr zu ihm, als hätte er selbst Angst bekommen – sein angespanntes und untypisches Verhalten beunruhigte Tom noch viel mehr. Seine Blase drückte allmählich und selbst die größte Sorge vor dem Ungewissen konnte das Bedürfnis nicht länger halten. So beschloss er seinem Harndrang zu folgen und ging in raschem Schritt zu den Toiletten.
Die Musik klang dumpf und hohl bis in die Toilettenkabine, in der Thomas stand. Während er, etwas betrunken von Franz Kokos-Gin Tonic, sich im Stehen erleichterte, ging die Tür zum Toilettenraum auf. Der Schall der Musik drang in die Kabine und ließ die unvergleichliche Stimme von John Lee Hooker erklingen. Noch bevor Thomas den Songtitel erraten konnte, schwing die Tür wieder zu und ließ die Musik wieder bleiern klingen. Schwere Stiefelabsätze gingen einen langsamen Gang in seine Richtung. Der Mann, der eintrat, blieb direkt vor Thomas Kabine stehen. Tom weitete seine Augen und schnappte nach Luft. Das ist er, dachte er und versuchte den Druck in seinem Kopf mit einem leichten Schütteln auszugleichen. Er wartete einige Momente, die ihm endlos lange vorkamen. Würde Franz jetzt kommen? Wahrscheinlich war er zu beschäftigt und hatte den Unbekannten nicht aufs stille Örtchen gehen sehen. Die Stiefelabsätze knirschten drohend am Fließenboden. Stille. Thomas hielt den Atem an. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich trat jemand gegen die Kabinentür. Thomas rief laut auf. Er zwängte sich in die hintere Ecke der Kabine. Neben der Kloschüssel kauerte er, warf die Hände über den Kopf und schrie um Hilfe. Ein letzter Tritt, bevor die Tür an der Stelle des Schlosses nachgab und splitterte. Die Gewissheit über den nahenden Tod, die aussichtslose Flucht vor dem Schicksal nahm auf dem kalten, stinkenden Boden der alten Cocktailbar im Zentrum Wiens ihr Ende.


Der Morgen war bereits angebrochen, als Thomas Eckhart die Straße betrat. Er trug seinen dunkelblauen Nadelstreifanzug mit Krawatte in royalem Blau – der Hingucker im Büro. Herr Eckhart war stolz auf seinen Job, stolz auf sein neues Auto, stolz auf das große Haus und seine schöne Frau. Er hatte lang und hart dafür gearbeitet und wenn ihn jemand fragte, welch ein Glückslos er einst gezogen hatte, so entgegnete er stets mit breitem Grinsen: „Das Los der Götter.“ An diesem Morgen also ging Herr Eckhart seinen allmorgendlichen Weg zum Bäcker. Seine Frau schlief noch und so zog er es vor, das Auto nicht unnötig anzustarten – der Bäckerladen war nur 2 Ecken von ihm entfernt. Er war nur einige Schritte gegangen, da kam ihm ein Mann entgegen, dessen Blick schon lange Zeit auf Thomas Eckhart gerichtet war. „Verzeihen Sie“, sagte der Mann mit ausländischem Akzent. Herr Eckhart ignorierte den Mann und ging weiter, schließlich hatte er es eilig und wollte noch ein, zwei Brötchen für seine Frau mitbringen. Der Mann ließ nicht locker und ging dem Eckhart nach, immer wieder bittend um Aufmerksamkeit. Schließlich blieb der Geschäftsmann wütend stehen und starrte dem Mann ins Gesicht. Wütend riss er dem Kerl die große, dunkle Pilotenbrille von den Augen und warf sie zu Boden. „Hast du’s nicht verstanden? Verschwinde, sofort!“ Der Mann richtete seine Frisur zurecht und hob die Sonnenbrille auf. Wortlos trampelte er in Cowboystiefeln davon. Herr Eckhart verschwand in der Bäckerei – bestellte fünf Brötchen und verließ die Filiale sofort wieder. Die Begegnung hatte er schon bald wieder vergessen und auch den Mann, der hinter ihm herging, hatte er nicht bemerkt…

Donnerstag, 11. Juni 2015

Der Wunschautomat

Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein. Unzählige Kinder strömten wie Fischschwärme aus dem Schulgebäude und breiteten sich über das weite Areal aus. In Gruppen standen dicke und dünne, kleine und große, jüngere und ältere Kinder beieinander und scherzten, lachten, riefen, flüsterten oder schrien in sorgenloser Manier. Mitten im Tumult schritt ein kleiner Bursche durch die Menge. Mario war hager, seine Gestalt wirkte zärtlich, beinahe schon zerbrechlich für einen Fünfzehnjährigen. Blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht und glänzten in der warmen Mittagssonne. Während sich die Kollegen aus verschiedensten Schulklassen miteinander unterhielten, ging Mario schweigend weiter. Sein Blick war starr auf den hellgrauen Asphalt gerichtet, der ihm den Weg heim verriet. Stumm zählte er die einzelnen Grasbüschel, die durch den harten Straßenbelag durchgebrochen waren. Neben dem Gehsteig fuhren immer wieder Autos vorbei, die mit brummendem Motor Marios Gedanken durcheinanderbrachten. Immer wieder dachte er an das Gesicht der Lehrerin – sie hatte gelächelt. War es ein böses Lächeln, oder versuchte sie ihm ihr Mitleid zu zeigen? Eine Fünf auf die Deutscharbeit. Das schmerzte. Mario verlangsamte seinen Schritt. Tief atmete er ein – und wieder aus, diesen Rythmus behielt er für einige Momente. Immer wieder malte er sich die Reaktion seiner Eltern aus: entsetztes Geschrei seiner Mutter, Hiobsbotschaften seines Vaters, Drohungen des Schulabbruchs und viele andere Situationen spielten sich wie ein trauriges Theaterstück in Marios Kopf ab, Applaus gab es dafür keinen. Du wirst die Schule nie schaffen – ertönte es in seinen Ohren. Der Bursch setzte sich auf die alte Holzbank, unweit der Hauptstraße. Still lauschte er seinem Herzschlag. Er hatte Angst davor, nach Hause zu gehen denn er wusste was ihn erwartete. Stundenlange Gespräche und böse Mahnungen würden ihm den Rest geben, bis er sich spät abends in sein Bett legen und heimlich zu schluchzen beginnen würde. Sie verstehen mich nicht, dachte Mario.

Es war ganz still gewesen, bevor sein Herzpochen plötzlich von einer eigenartigen Melodie übertönt wurde. Sie klang wie die Musik eines Spielautomaten – mechanisch und impulsiv drang sie in Marios Ohren. Er stand auf und horchte genau hin. Die Melodie wiederholte sich im immergleichen Rhythmus und metallischen Klang. Die Musik kam aus der kleinen, engen Seitengasse, die unweit der Holzbank zu einer alten Fabrik führte. Mario dachte nicht lange nach, denn jeder gewagte Gedanke hätte ihm mit äußerster Dringlichkeit davon abgeraten, dem Geräusch zu folgen. Langsam ging er einige, kleine Schritte. Er stand direkt vor der Ecke, das Geräusch wurde immer klarer – eindeutig kam es aus der Sackgasse. Die Wände waren etwa eineinhalb Meter voneinander entfernt und bestanden aus schmutzigen, alten Ziegelsteinen, deren Ecken und Kanten abgeschlagen und rundgescheuert waren. Es fiel kaum Licht in die Gasse – kurz stockte Marios Atem. Wahrscheinlich wäre er an gewöhnlichen Tagen nicht auf die Idee gekommen, in diese Gasse zu gehen – seit 5 Jahren ging er diesen Weg beinahe täglich. Aber dieser war kein gewöhnlicher Tag. Ein Bein folgte dem Nächsten. Schritt um Schritt wagte Mario sich in die Gasse. Bald schon war er am Ende angelangt: Eine alte Fabrikfassade bildete das Ende dieser Sackgasse, die vor langer Zeit wohl als Einfahrt gedient hatte. Mario sah sich um. Ein großes, rostiges Metalltor verschloss den Zutritt in die alte Halle. Mario wollte kehrtmachen, da ertönte das Geräusch lauter und schriller als zuvor. Der Bursch erschrak so arg, dass er sich ruckartig nach rechts wandte, wo ein alter Spielautomat stand. Verwunderung. Die immergleiche Melodie ertönte aus dem Spielkasten. Bunte Lichter strahlten aus dem Gerät. Rot und Blau und Grün und Gelb ließen einen kleinen Teil der Fassade aufleuchten. Mario ging auf den Automaten zu. Ungläubig sah er sich um: das Gerät war nicht angesteckt. Kein Kabel führte zu einer Steckdose – noch größere Verwunderung machte sich in dem Jungen breit. Plötzlich sprach eine abgehackte Stimme „Drücke Start!“. Nun wiederholte die Maschine diese Aufforderung neben der eintönigen Melodie, immer schneller und immer schriller. Die Lampen blinkten wilder und hörten gar nicht mehr auf. Mario bekam Furcht. Schnell haute er seine geballte Faust auf den dicken, roten Button in der Mitte des Feldes – erst jetzt erkannte er, dass es der einzige Knopf am ganzen Automaten war. Die Lichter erstarrten – die Melodie blieb aus.

Die abgehackte, mechanische Stimme sprach ohne begleitende Melodie. „Heute ist dein Glückstag! Wie ist dein Name?“. Mario hob seine heruntergefallene Kinnlade, schloss den Mund und sah den Bildschirm entsetzt an. „Ma- Mario.“, stammelte der blonde Bursch hervor. „Hallo Mario! Heute ist dein Glückstag!“, sprach die monotone Computerstimme. Mario schluckte. Der Bildschirm wurde schwarz. Die Lichter gingen aus. „Lieber Mario. Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ Das war schließlich zu viel des Guten. Mario, der schon mit 5 hinter das Geheimnis des Osterhasen und des Weihnachtsmannes gekommen war, suchte das Geheimnis dieses Gerätes. Er suchte nach einem Kabel, einer Kamera, einem Mikrofon oder irgendeinem Anzeichen, das diesen Automaten als Streich entpuppte. Doch er fand nichts. Da will sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, dachte er sich. Doch der Computer wiederholte seine Aussage. „Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ „Gut!“, rief Mario verwirrt. „Gut, dann wünsche ich mir – ich wünsche mir den Fleck weg. Ich will eine glatte Eins ins Zeugnis, ich möchte, dass meine Eltern endlich stolz sein können auf mich und mich lieben, weil ich ihnen genüge!“ Als er seinen innigsten Wunsch ausgesprochen hatte, da rumorte es in der Maschine. Rauch stieg aus den Lüftungsschlitzen, ein elektrisches Zirpen und Knistern machte sich bemerkbar. Es stank nach Kabelbrand. Mario seufzte. Wäre auch zu schön gewesen, dachte er sich, als er aus der dunklen Gasse trat und seinen Heimweg fortsetzte.


Wortlos klatschte Mario das Arbeitsheft auf den Küchentisch. Seine Mutter blickte ihn unheilvoll an und auch der Vater hatte einen sorgevollen Blick aufgesetzt. Scham überkam Mario, als er das Heft aufschlug und ohne Kommentar seinen Eltern zuschob. Ein Moment der Stille erfüllte die Küche, in der die Gemüsecremesuppe vor sich hin köchelte. Der sanfte Geruch von gekochtem Brokkoli und Blumenkohl erfüllte die verdampfte Küche. „Bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter. Verwundert hob Mario seine Augenbrauen und blickte sie fragend an. „Sehr gut. Bin sehr stolz auf dich. Hast du gut gemacht.“ Tatsächlich. Unter dem fehlerfreien Text stand eine dicke, rote 1. Von diesem Tag an schrieb Mario nie wieder eine schlechtere Note – er wurde Klassenbester und schloss die Schule mit großartigem Erfolg ab. Den Automaten aber, den fand er nie wieder. Aber manchmal, an einsamen Tagen, da hört Mario noch heute die immergleiche, mechanische Melodie von Weitem erklingen…