Bruder, was haben sie dir angetan?
Vor langer Zeit, da haben wir uns unter einem Lindenbaum
geschworen immer füreinander da zu sein. Es war im Frühling und die gelben
Lindenblüten fielen uns ins Gesicht. Für
immer, sagtest du als du meine Hand genommen hast. Fest war dein Druck, entschlossen
dein Blick, dessen Erinnerung mir heute noch das Gefühl der jugendlichen
Unendlichkeit schenkt. Ja, wir waren füreinander geschaffen, zwei Rabauken und
Piraten, Sheriffs und Gangster. Wenn deine Mutter uns nicht ins Haus ließ,
waren wir zu mir gegangen – wir schwammen einige Runden im Pool, bevor wir aßen.
Deine Mutter – sie war eine arme Frau. Aber die Götter haben’s ihr nie leicht
gemacht, und so wurde sie stark, unzerbrechlich und hart. Wie eine alte Eiche
sehe ich sie noch in deiner kleinen Küchenzeile stehen, mit dem Kochtopf in der
Linken, einem Bierglas in der Rechten. Mir tat sie nie leid, denn ich wusste,
dass ihr das Leben genug war. Deine Schwester sah ihr aus dem Gesicht
geschnitten ähnlich – mit 15 verliebte ich mich das erste Mal – in sie. Ich
hatte dir das nie gesagt, denn was hätte mein bester Freund, dessen Blutstropfen
durch meine Adern flossen, von einem solchen Geständnis gehalten? Ich habe mich
geschämt – und doch schielte ich die freien Augenblicke zu ihr. Bald hatte sie
ihren Mann gefunden, heiratete, du wurdest Onkel. Die Zeit, sie lief.
So kamen wir dann auf die Universität – wir studierten Tage
und Nächte, wussten, dass wir eines Tages die Welt verändern würden. Ich
bezahlte deine Gebühren, du bist mich täglich in die Bibliothek gefahren. Nicht
nur die Getränke teilten wir uns auf den nächtlichen Partys, kaum jemand hätte
an unserer Verwandtschaft gezweifelt.
Bruder, bleib bei mir, verlass mich nicht. Du sagtest für immer, ich habe es nicht vergessen.
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