Montag, 25. Mai 2015

Bruder

Bruder, was haben sie dir angetan?
Vor langer Zeit, da haben wir uns unter einem Lindenbaum geschworen immer füreinander da zu sein. Es war im Frühling und die gelben Lindenblüten fielen uns ins Gesicht. Für immer, sagtest du als du meine Hand genommen hast. Fest war dein Druck, entschlossen dein Blick, dessen Erinnerung mir heute noch das Gefühl der jugendlichen Unendlichkeit schenkt. Ja, wir waren füreinander geschaffen, zwei Rabauken und Piraten, Sheriffs und Gangster. Wenn deine Mutter uns nicht ins Haus ließ, waren wir zu mir gegangen – wir schwammen einige Runden im Pool, bevor wir aßen. Deine Mutter – sie war eine arme Frau. Aber die Götter haben’s ihr nie leicht gemacht, und so wurde sie stark, unzerbrechlich und hart. Wie eine alte Eiche sehe ich sie noch in deiner kleinen Küchenzeile stehen, mit dem Kochtopf in der Linken, einem Bierglas in der Rechten. Mir tat sie nie leid, denn ich wusste, dass ihr das Leben genug war. Deine Schwester sah ihr aus dem Gesicht geschnitten ähnlich – mit 15 verliebte ich mich das erste Mal – in sie. Ich hatte dir das nie gesagt, denn was hätte mein bester Freund, dessen Blutstropfen durch meine Adern flossen, von einem solchen Geständnis gehalten? Ich habe mich geschämt – und doch schielte ich die freien Augenblicke zu ihr. Bald hatte sie ihren Mann gefunden, heiratete, du wurdest Onkel. Die Zeit, sie lief.
So kamen wir dann auf die Universität – wir studierten Tage und Nächte, wussten, dass wir eines Tages die Welt verändern würden. Ich bezahlte deine Gebühren, du bist mich täglich in die Bibliothek gefahren. Nicht nur die Getränke teilten wir uns auf den nächtlichen Partys, kaum jemand hätte an unserer Verwandtschaft gezweifelt.



Bruder, bleib bei mir, verlass mich nicht. Du sagtest für immer, ich habe es nicht vergessen. 

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