Sonntag, 31. Mai 2015

Der Mann ohne Obdach


"Obdach" bedeutet Unterkunft oder Wohnung. Obdachlosigkeit wird definiert als Zustand, in dem Menschen über keinen festen Wohnsitz verfügen und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten.


Martin wacht gleich neben Plastikmülltonne mit rotem Deckel auf – wie das danebengeworfenes Altpapier um ihn herum liegt er da, greift sich auf die Schläfe, um den Druck in seinem Kopf auszugleichen. Doch es hilft alles nichts, und so steht er auf, um sich die Laubblätter und die Papierfuseln vom Leibe zu streichen. Mit den Gedanken noch bei letzter Nacht verlässt er die dunkle Seitengasse, aus der er getorkelt kam. Die Straßen sind voll von Menschen, die zur Arbeit laufen oder einkaufen oder anderen Erledigungen nachgehen – es ist Samstag. In vielen Sachen ist Martin entgegen der Meinung der Bevölkerung ein guter Mann. Auch wenn er keinen Wert auf sein Äußeres legt, weil Obdachlose sowieso stinken, wie er sagt, so hat er ein Herz für alles und jeden – ganz besonders für Hunde. Wann immer Martin einen Hund sieht, geht er auf ihn zu. Sofern der anvisierte Hund nicht fortrennt, entwickelt sich eine oft lang andauernde Freundschaft zwischen Hund und Mensch. Oft teilt Martin seinen Schlafplatz und sein Abendmahl mit den Hunden der Umgebung. Das richtige Verhältnis an Straßenkötern und halbfrischem Essen in den umliegenden Containern und Mülleimern ist gegeben und so sind alle glücklich: Die Hunde freuen sich über das festlich hergerichtete Abendmahl und einen gesicherten Schlafplatz in der dunklen Seitengasse, während der alte Martin sich über die Gesellschaft seiner Gäste freut.

Der alte Martin war vor langer Zeit mal jung gewesen – studiert hatte er sogar, in seiner Heimatstadt. Das Schicksal hatte sich ihm in großzügiger Manier anvertraut und so lebte er als Waise einer Arbeiterfamilie entsprungen, in der wundervollen Villa seiner Adoptiveltern. Sein echter Vater war ein Schläger und Säufer gewesen. Eines Nachts kam er sturzbetrunken nach Hause und schlug seine Frau halbtot, weil sie ihm das falsche Bier kaltgestellt hatte. Es dauerte nicht lange, bis die Nachbarn das Jugendamt einschalteten und Martin aus dieser Hölle befreiten. Seine neuen Eltern kamen aus Amerika – George und Natalia waren zwei wohlhabende Textilfabrikanten, deren Neugier und Unternehmungslust sie nach Europa führte. Sie nahmen den kleinen Martin auf – und erzogen ihn wie ein eigenes Kind. Es dauerte nicht lange, da entwickelte Martin ein äußerst feines Gespür für seine Umwelt. Wenn jemand traurig war, so konnte er es der Person ablesen, egal wie sie sich gab. Er war ein guter und ehrlicher Freund, der seinen Kumpanen immer Rat gab, wenn sie zu ihm kamen. Sie kamen oft zu ihm und so nannten sie ihn bald Weiser Martin. Er studierte auf einer Privatuniversität und lernte neue Menschen kennen. Die meisten von ihnen waren verlogen und falsch, stets an ihrem eigenen Profit, den sie aus jeder Sache schlagen konnten, interessiert. Martin fand nicht viel Gefallen an den wöchentlichen Discobesuchen und so schottete er sich bald ab, las in seinen Büchern und spielte Musik. Die Jahre vergingen und nach dem Studium machte sich Martin, ganz gegen den Wunsch seines Ziehvaters, auf den Weg nach Südafrika, um dem Leben auf den Grund zu gehen. Es dauerte nicht lange, bis er im Umland von Kapstadt einen jungen Mann traf, der in etwa im selben Alter war. Sie unterhielten sich eine Weile und er fand heraus, dass der junge Mann Jacob hieß. Jacob wohnte in den Slums vor Kapstadt. Obwohl er bitterarm war und nur eine schäbige Papphütte mit einem Dach aus Plastikfolien sein Eigen nannte, bot er Martin an, ihn zu besuchen. Der weiße Martin fiel im südafrikanischen Ghetto schnell auf – beinahe alle Bewohner hier waren schwarz. Der Großteil freute sich über den europäischen Besuch und Martin kündigte bald sein Hotelzimmer, um bei Jacob und seinen Freunden zu wohnen. Die Nächte waren von Musik, Rum und herzlichen Menschen begleitet. Fast jeden Abend fand irgendwo in der Hüttenstadt ein Fest, ein Peace-and-Freedom Evening, statt. Martin war bald so beliebt wie bekannt in der Gegend – er war herzlich und das exakte Gegenteil der zuvor gefürchteten und gehassten weißen Minderheit im Lande. Er ließ sich Zeit – mit den Monaten verfilzten seine Haare zu dicken Dreadlocks und seine Haut wurde unter der Sonne karamellbraun. Er begann den örtlichen Dialekt zu sprechen und wurde von allen nurmehr Mart genannt. Er fühlte sich wohl und dachte kaum mehr an Zuhause, an seine Eltern oder die Kollegen, die er zurückgelassen hatte.

Heute denkt Martin gerne an die Zeit in Afrika zurück – sie war eine der lehrreichsten Epochen seines Lebens. Als er zurückkehrte, scherte er sich die Haare kurz und trug wieder lange Hosen. Bald erkannte er, dass er im Geiste noch bei seinen Freunden war. Martin bemühte sich einige Jahre lang, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Einige Zeit arbeitete er als Redakteur einer Zeitung, doch wegen der Unzuverlässigkeit, wie sein Chef Martins fehlendes Gefühl für Pünktlichkeit bezeichnete, wurde er aber bald gekündigt. Es folgten schwere Zeiten als Milchmann, Fabrikarbeiter und schließlich Arbeitssuchender. Martin begann mit dem Trinken, verlor rasch seine Wohnung und landete auf der Straße. Seit 3 Jahren nun wohnt er, wie Jacob und seine alten Freunde, in einem selbstgebauten Häuschen, mit einem Dach aus Plastikfolien. Die örtliche Polizei drückt beide Augen zu – er tut niemandem was, heißt es aus inoffizieller Sicht der Polizisten. Doch der Mann mit zerzaustem Bart und zerfledderter Kleidung ist noch nicht am Ende angelangt! Vielleicht schafft er es, eines Tages eine Bleibe zu finden, in der er willkommen ist – dann hat er bessere Jobaussichten und kann als Akademiker einem geregelten Leben nachgehen.



Die fiktive Figur des Martin basiert auf Erzählungen eines Obdachlosen. Sie inspirierten die niedergeschriebene Geschichte.

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