In diesen Monaten nannte
ich nicht mehr als ein paar Hosen, zwei, drei Hemden und mein abgetragenes Paar
Schuhe mein Eigen – aber mehr verlangte ich vom Leben nicht. Ich war glücklich
mit dem Zustand dieser absoluten Freiheit – tatsächlich spürte ich die guten
und schlechten Seiten und Zeiten dieses Umstandes. Eines Abends, ich saß wie so
oft an den Stufen des Burggartens und schrieb die Geschichten meiner Fantasie
aufs Papier, da kam eine alte Dame an mir vorbei. Ich sah sie von meinem
Augenwinkel aus, beobachtete sie, wie sie mich wohl beobachtete. Interessiert
setzte sie sich nach einer Weile zu mir und blickte mir, unverschämt wie sie
war, in meine Notizen. „Was schreiben Sie denn da?“, fragte sie höflich aber
bestimmt. Mein Blick verriet ihr wohl nicht genug und so fragte sie abermals:
„Nun sagen Sie schon, was schreiben Sie denn hier?“ So verrückt ich ihre Frage
fand, so bestürzte sie meine Antwort darauf. „Was, Sie schreiben hier
Geschichten?“, quiekte sie vor Entsetzen. Ich musste lachen, bat die
edle Dame jedoch sofort um Verzeihung, ich hätte schon viele Reaktionen erlebt,
sagte ich ihr, aber solch ein Entsetzen hatte ich mit meinen Geschichten noch
nie ausgelöst. Sie fragte mich, wie alt ich denn wäre, als wäre das Schreiben
von Geschichten eine Kindesangelegenheit. Die Frage warf ich natürlich zurück,
worauf ich eine enttäuschte Mine als Antwort zugewandt bekam. Sie kam
regelmäßig vorbei, und so lernten wir uns in diesen sonnigen Tagen kennen. Ich
nannte sie Frau Fuchs, aufgrund ihres Fuchsfelles, das sie stets als Schal um
ihren faltigen Hals geschwungen hatte. Ihren echten Namen hatte sie mir nie
genannt, vielleicht hatte ich ihn jedoch erraten – ich habe es nie erfahren.
Frau Fuchs war meine fleißigste Leserin – hätte ich mehr Menschen wie sie
begeistert, ich hätte in diesen Wochen ein Obdach gehabt. Nun, Frau Fuchs
wusste wahrscheinlich nicht um meine Situation, und so sprach sie stets in
guten Tönen von mir, eine positive Kritik inmitten der schweren Zeit, die mich
stark aufzubauen wusste. Tatsächlich, unsere Bekanntschaft war etwas ganz
besonderes.
An den wärmeren Tagen
hatte ich meinen Spaß im Stadtpark, wo ich mich auf abgeschiedene Plätze setzte
und den Leuten zusah. Sie taten oft nichts besonderes, meist saßen sie auf
einer Parkbank und plauderten über dieses und jenes. Genau daraus bestand der Stoff,
der die Menschen entzückte und bewegte, entbrannte und mit sich fortriss. Mit
der Zeit lernte ich die Leute kennen, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu
haben. Ich erfand für jede Person eine Geschichte, die ganz auf meine
Vorstellungen von ihr zugeschnitten war. Eine Dame, zum Beispiel, war für mich
eine gutverdienende Geschäftsfrau, die mit allerhand wichtigen Staatsmännern
telefonierte und konsequenzreiche Entscheidungen zu treffen hatte. Die
Vorstellung hatte ich mir natürlich nicht einfach so aus den Fingern gesogen:
Wann immer ich sie sah, saß sie nervös auf einer Bank und telefonierte. Mit
ihrer rechten Hand fuchtelte sie wild umher und schien damit ihre berufliche
Prägnanz zum Ausdruck bringen zu wollen. An manchen Tagen saß ich in akustischer
Reichweite und konnte ihre Stimme vernehmen – sie klang angespannt
und hektisch. Für mich war sie eine starke, große Person, die mit
beiden Beinen im Leben stand und viel Verantwortung trug. In dieser einen
Hinsicht hatte ich schlussendlich recht: Nach einigen Monaten erfuhr ich von
einer Passantin nach einem langen Gespräch, dass die imaginierte Geschäftsfrau
Mutter von drei Kindern war – die Gespräche fanden mit ihrem heutigen Exmann
statt.
Wenn man auf der Straße
lebt, lernt man gezwungenermaßen viele Menschen kennen – es kommt auf das
eigene Geschick an, diese Bekanntschaften zu nutzen. Der eine mag sie für eine
finanzielle Bereicherung gebrauchen, der andere sieht in ihnen neue
Freundschaften und Vertrauenspersonen. Ich hatte stets nach den Geschichten der
Menschen gefragt. Wann immer ich die Möglichkeit hatte mit jemandem zu reden
bat ich ihn mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Man erzählte gern von sich
selbst – manche waren stolz auf ihre Taten, und manche schämten sich gar –
erzählen wollten sie aber alle. Wichtig war es in diesen Situationen offen und
ehrlich zuzuhören. Ich versuchte mich in die Rolle des Erzählenden zu bringen,
so, dass ich die Bilder der Geschichten vor meinem inneren Auge zu sehen bekam.
Jedes Mal fühlte ich mit den Menschen und lachte oder weinte mit ihnen. Es war
selbstverständlich, mich bei ihnen zu bedanken und ihnen mit Rat zur Seite zu
stehen. Oft entstanden längere Bekanntschaften und bald schon war ich eine Art
Sensation des Stadtparks, der Stadtparkschreiber. Aber nicht nur die Besucher
des Parks beanspruchten meine Aufmerksamkeit, auch die Bewohner weckten mein
Interesse. Vögel, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Enten und ab und zu kam sogar
eine Hauskatze auf Nachtbesuch. Wahrscheinlich wusste ihr Besitzer nichts vom
Ausreißen des getigerten Freundes und so machte sie sich gelegentlich auf die
Suche nach Mäusen und Vögel. Das Geheimnis dieser Katze mit ihr zu teilen
bereitete mir ein großes Vergnügen und so beobachtete ich sie oft beim Jagen
und Spielen. Eine meiner lebhaftesten und lustigsten Geschichten handelt von
genau dieser Katze.
Oft fragten mich die
Leute, warum ich das Dasein als Obdachloser einem normalen, geregelten Leben
vorziehen würde. Ich musste ihnen immer wieder erklären, dass es nicht meine
Entscheidung gewesen war, im Freien zu leben – viel mehr fehlte mir die
finanzielle Unabhängigkeit, um mir einen Wohnplatz anmieten zu können. Manche
Menschen baten mir daraufhin einen Schlafplatz bei ihnen an – ich
lehnte ihre Angebote stets ab. Das lag nicht etwa an Furcht oder Unsicherheit –
viel mehr wollte ich meinen anspruchslosen Lebensstil nicht verlieren.
Spätestens an dieser Stelle schüttelten alle Menschen ihren Kopf: Wieso ich ihr
Angebot ablehnte, einen freien Wohnplatz zu bekommen, wenn ich doch gerne ein
Heim hätte, das konnten sie nicht nachvollziehen. Sie wollten nie verstehen,
dass ich mich hier wohl fühlte, und meinen Schlafplatz als einen gerechten
Platz empfand. Mehr brauchte ich hier nicht zum Leben – ein paar Euros bekam
ich täglich, nicht durchs Betteln, ich schrieb kurze Geschichten und bat sie
zum Verkauf an. Die Leute dankten es mir mit milden Gaben – bis zu fünf Euro
bekam ich für eine zehnseitige Geschichte. Mein Leben war gut und ich erinnere
mich gerne an diese Tage zurück, die ein fester Teil meines Lebens gewesen
waren.
Dann, als der Winter
einbrach, musste ich mir eine Bleibe suchen. Das Schicksal wollte mir einen
rechten Haken verpassen, also fand ich keine Verdienstmöglichkeit und musste,
beinahe mittellos, in ein Obdachlosenwohnheim ziehen. Die Betten wurden jeden
Tag neu vergeben, ich musste mich bereits früh anstellen – viel Zeit ging in
diesen Wochen verloren. Ich lernte wieder viele neue Leute kennen: Herr
Gabriel, beispielsweise. Er war in etwa so alt wie ich und dem Alkohol verfallen,
aber kein Mann auf dieser Erde konnte sich eines besseren Humors behaupten.
Wenn jemand im Zimmer schlechte Laune hatte, wusste er sie ihm sofort
auszutreiben, vorausgesetzt der Alkoholpegel entsprach seinen
Mindestanforderungen. Der Herr Gabriel war eine gute Seele, die viel zu früh
von uns ging. Aber so ist das, Leute gehen, Leute kommen. Eines Morgens, ich
war bereits wach uns schrieb an einer Kurzgeschichte, wachte Herr Gabriel neben
seiner Flasche Wodka auf und fragte mich, warum ich erfundene Geschichten auf
leeres Papier schreibe; immerhin wäre es um die Tinte schade, weil das nie
jemand zu Gesicht bekommen würde. Als ich ihm dann entgegnete, dass es mein
Wunsch wäre, Menschen mit meinen Geschichten zum Lachen zu bringen, schnappte
er sich eine meiner Geschichten und fing an zu lesen. Als ich ihm beim Lesen
beobachtete, konnte ich sein seliges Lächeln sehen – es war ein ehrliches,
erfreutes Lächeln. Dieser kurze Augenblick hatte all den Strapazen in dieser
Zeit einen hohen Wert gegeben.
Mittlerweile lebe ich
ganz gut von meinen Geschichten – ich kann mir eine regelmäßige Miete leisten
und muss keinen Hunger leiden. Ehrlich gesagt ist dieser Lebensstil für mich
purer Luxus und ich finde es schade, ihn mit niemandem teilen zu können. In den
wärmeren Monaten setze ich mich fast täglich in den Burggarten, direkt auf die
Stiegen, wo ich schon in früheren Zeiten gesessen bin. Ich sehe den Leuten zu
und schreibe ihre Geschichten nieder. Frau Fuchs ist gestorben und so auch Herr
Gabriel, aber sie spiegeln sich in meinen Texten wider und bringen so dem einen
oder anderen Leser ein weiches Lächeln auf die Lippen. Ich habe kein großes
Lebensziel, keine Visionen oder Friedensträume. Ich bin und bleibe stets der
arme Schriftsteller mit zwei, drei Hemden, einer alten Militärjacke und meinem
abgetragenen Paar Schuhe. Wenn Sie mich einmal auf der Straße sehen, sitzend
oder stehend, schreibend oder denkend, seien Sie so nett und erzählen Sie mir
Ihre Geschichte. Ich werd’s Ihnen danken.
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