Mittwoch, 17. Juni 2015

Der Schriftsteller

In diesen Monaten nannte ich nicht mehr als ein paar Hosen, zwei, drei Hemden und mein abgetragenes Paar Schuhe mein Eigen – aber mehr verlangte ich vom Leben nicht. Ich war glücklich mit dem Zustand dieser absoluten Freiheit – tatsächlich spürte ich die guten und schlechten Seiten und Zeiten dieses Umstandes. Eines Abends, ich saß wie so oft an den Stufen des Burggartens und schrieb die Geschichten meiner Fantasie aufs Papier, da kam eine alte Dame an mir vorbei. Ich sah sie von meinem Augenwinkel aus, beobachtete sie, wie sie mich wohl beobachtete. Interessiert setzte sie sich nach einer Weile zu mir und blickte mir, unverschämt wie sie war, in meine Notizen. „Was schreiben Sie denn da?“, fragte sie höflich aber bestimmt. Mein Blick verriet ihr wohl nicht genug und so fragte sie abermals: „Nun sagen Sie schon, was schreiben Sie denn hier?“ So verrückt ich ihre Frage fand, so bestürzte sie meine Antwort darauf. „Was, Sie schreiben hier Geschichten?“,  quiekte sie vor Entsetzen. Ich musste lachen, bat die edle Dame jedoch sofort um Verzeihung, ich hätte schon viele Reaktionen erlebt, sagte ich ihr, aber solch ein Entsetzen hatte ich mit meinen Geschichten noch nie ausgelöst. Sie fragte mich, wie alt ich denn wäre, als wäre das Schreiben von Geschichten eine Kindesangelegenheit. Die Frage warf ich natürlich zurück, worauf ich eine enttäuschte Mine als Antwort zugewandt bekam. Sie kam regelmäßig vorbei, und so lernten wir uns in diesen sonnigen Tagen kennen. Ich nannte sie Frau Fuchs, aufgrund ihres Fuchsfelles, das sie stets als Schal um ihren faltigen Hals geschwungen hatte. Ihren echten Namen hatte sie mir nie genannt, vielleicht hatte ich ihn jedoch erraten – ich habe es nie erfahren. Frau Fuchs war meine fleißigste Leserin – hätte ich mehr Menschen wie sie begeistert, ich hätte in diesen Wochen ein Obdach gehabt. Nun, Frau Fuchs wusste wahrscheinlich nicht um meine Situation, und so sprach sie stets in guten Tönen von mir, eine positive Kritik inmitten der schweren Zeit, die mich stark aufzubauen wusste. Tatsächlich, unsere Bekanntschaft war etwas ganz besonderes.

An den wärmeren Tagen hatte ich meinen Spaß im Stadtpark, wo ich mich auf abgeschiedene Plätze setzte und den Leuten zusah. Sie taten oft nichts besonderes, meist saßen sie auf einer Parkbank und plauderten über dieses und jenes. Genau daraus bestand der Stoff, der die Menschen entzückte und bewegte, entbrannte und mit sich fortriss. Mit der Zeit lernte ich die Leute kennen, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Ich erfand für jede Person eine Geschichte, die ganz auf meine Vorstellungen von ihr zugeschnitten war. Eine Dame, zum Beispiel, war für mich eine gutverdienende Geschäftsfrau, die mit allerhand wichtigen Staatsmännern telefonierte und konsequenzreiche Entscheidungen zu treffen hatte. Die Vorstellung hatte ich mir natürlich nicht einfach so aus den Fingern gesogen: Wann immer ich sie sah, saß sie nervös auf einer Bank und telefonierte. Mit ihrer rechten Hand fuchtelte sie wild umher und schien damit ihre berufliche Prägnanz zum Ausdruck bringen zu wollen. An manchen Tagen saß ich in akustischer Reichweite  und konnte ihre Stimme vernehmen – sie klang angespannt und hektisch. Für mich war sie eine starke, große Person, die mit beiden Beinen im Leben stand und viel Verantwortung trug. In dieser einen Hinsicht hatte ich schlussendlich recht: Nach einigen Monaten erfuhr ich von einer Passantin nach einem langen Gespräch, dass die imaginierte Geschäftsfrau Mutter von drei Kindern war – die Gespräche fanden mit ihrem heutigen Exmann statt.

Wenn man auf der Straße lebt, lernt man gezwungenermaßen viele Menschen kennen – es kommt auf das eigene Geschick an, diese Bekanntschaften zu nutzen. Der eine mag sie für eine finanzielle Bereicherung gebrauchen, der andere sieht in ihnen neue Freundschaften und Vertrauenspersonen. Ich hatte stets nach den Geschichten der Menschen gefragt. Wann immer ich die Möglichkeit hatte mit jemandem zu reden bat ich ihn mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Man erzählte gern von sich selbst – manche waren stolz auf ihre Taten, und manche schämten sich gar – erzählen wollten sie aber alle. Wichtig war es in diesen Situationen offen und ehrlich zuzuhören. Ich versuchte mich in die Rolle des Erzählenden zu bringen, so, dass ich die Bilder der Geschichten vor meinem inneren Auge zu sehen bekam. Jedes Mal fühlte ich mit den Menschen und lachte oder weinte mit ihnen. Es war selbstverständlich, mich bei ihnen zu bedanken und ihnen mit Rat zur Seite zu stehen. Oft entstanden längere Bekanntschaften und bald schon war ich eine Art Sensation des Stadtparks, der Stadtparkschreiber. Aber nicht nur die Besucher des Parks beanspruchten meine Aufmerksamkeit, auch die Bewohner weckten mein Interesse. Vögel, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Enten und ab und zu kam sogar eine Hauskatze auf Nachtbesuch. Wahrscheinlich wusste ihr Besitzer nichts vom Ausreißen des getigerten Freundes und so machte sie sich gelegentlich auf die Suche nach Mäusen und Vögel. Das Geheimnis dieser Katze mit ihr zu teilen bereitete mir ein großes Vergnügen und so beobachtete ich sie oft beim Jagen und Spielen. Eine meiner lebhaftesten und lustigsten Geschichten handelt von genau dieser Katze.

Oft fragten mich die Leute, warum ich das Dasein als Obdachloser einem normalen, geregelten Leben vorziehen würde. Ich musste ihnen immer wieder erklären, dass es nicht meine Entscheidung gewesen war, im Freien zu leben – viel mehr fehlte mir die finanzielle Unabhängigkeit, um mir einen Wohnplatz anmieten zu können. Manche Menschen baten mir daraufhin einen Schlafplatz bei ihnen  an – ich lehnte ihre Angebote stets ab. Das lag nicht etwa an Furcht oder Unsicherheit – viel mehr wollte ich meinen anspruchslosen Lebensstil nicht verlieren. Spätestens an dieser Stelle schüttelten alle Menschen ihren Kopf: Wieso ich ihr Angebot ablehnte, einen freien Wohnplatz zu bekommen, wenn ich doch gerne ein Heim hätte, das konnten sie nicht nachvollziehen. Sie wollten nie verstehen, dass ich mich hier wohl fühlte, und meinen Schlafplatz als einen gerechten Platz empfand. Mehr brauchte ich hier nicht zum Leben – ein paar Euros bekam ich täglich, nicht durchs Betteln, ich schrieb kurze Geschichten und bat sie zum Verkauf an. Die Leute dankten es mir mit milden Gaben – bis zu fünf Euro bekam ich für eine zehnseitige Geschichte. Mein Leben war gut und ich erinnere mich gerne an diese Tage zurück, die ein fester Teil meines Lebens gewesen waren.

Dann, als der Winter einbrach, musste ich mir eine Bleibe suchen. Das Schicksal wollte mir einen rechten Haken verpassen, also fand ich keine Verdienstmöglichkeit und musste, beinahe mittellos, in ein Obdachlosenwohnheim ziehen. Die Betten wurden jeden Tag neu vergeben, ich musste mich bereits früh anstellen – viel Zeit ging in diesen Wochen verloren. Ich lernte wieder viele neue Leute kennen: Herr Gabriel, beispielsweise. Er war in etwa so alt wie ich und dem Alkohol verfallen, aber kein Mann auf dieser Erde konnte sich eines besseren Humors behaupten. Wenn jemand im Zimmer schlechte Laune hatte, wusste er sie ihm sofort auszutreiben, vorausgesetzt der Alkoholpegel entsprach seinen Mindestanforderungen. Der Herr Gabriel war eine gute Seele, die viel zu früh von uns ging. Aber so ist das, Leute gehen, Leute kommen. Eines Morgens, ich war bereits wach uns schrieb an einer Kurzgeschichte, wachte Herr Gabriel neben seiner Flasche Wodka auf und fragte mich, warum ich erfundene Geschichten auf leeres Papier schreibe; immerhin wäre es um die Tinte schade, weil das nie jemand zu Gesicht bekommen würde. Als ich ihm dann entgegnete, dass es mein Wunsch wäre, Menschen mit meinen Geschichten zum Lachen zu bringen, schnappte er sich eine meiner Geschichten und fing an zu lesen. Als ich ihm beim Lesen beobachtete, konnte ich sein seliges Lächeln sehen – es war ein ehrliches, erfreutes Lächeln. Dieser kurze Augenblick hatte all den Strapazen in dieser Zeit einen hohen Wert gegeben.

Mittlerweile lebe ich ganz gut von meinen Geschichten – ich kann mir eine regelmäßige Miete leisten und muss keinen Hunger leiden. Ehrlich gesagt ist dieser Lebensstil für mich purer Luxus und ich finde es schade, ihn mit niemandem teilen zu können. In den wärmeren Monaten setze ich mich fast täglich in den Burggarten, direkt auf die Stiegen, wo ich schon in früheren Zeiten gesessen bin. Ich sehe den Leuten zu und schreibe ihre Geschichten nieder. Frau Fuchs ist gestorben und so auch Herr Gabriel, aber sie spiegeln sich in meinen Texten wider und bringen so dem einen oder anderen Leser ein weiches Lächeln auf die Lippen. Ich habe kein großes Lebensziel, keine Visionen oder Friedensträume. Ich bin und bleibe stets der arme Schriftsteller mit zwei, drei Hemden, einer alten Militärjacke und meinem abgetragenen Paar Schuhe. Wenn Sie mich einmal auf der Straße sehen, sitzend oder stehend, schreibend oder denkend, seien Sie so nett und erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich werd’s Ihnen danken. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen