An der weißen Veranda saß ein zitternder Mann im
Rollstuhl. Seine Augen waren mit dem Alter trüb geworden, seine Haut hing in
tiefen Falten herunter und dunkle Flecken breiteten sich über seine Arme und
Hände aus. Doch sein Lachen, das war jung und ehrlich geblieben, wie das eines
Kindes. Herr Dorsch war bereits 97 Jahre alt, oft aber behauptete er, er wäre
erst 57, oder an manchen Tagen, wenn ihm die gute Laune bis in den Kopf stieg
und sich in einem breiten Lächeln zeigte, da war er sich sicher, noch keine 30
zu sein. Aber das Alter spielte beim alten Dorsch eine untergeordnete Rolle –
wer immer zu ihm kam, der wurde mit Respekt und Charme vom ehemaligen
Geschäftsmann empfangen. Er wohnte in einem privaten Pflegeheim, unweit eines
großen Waldstückes, wo die Bewohner in den warmen Monaten den Bäumen und seinen
Bewohnern zusahen – erst im Alter fing man an, den ewigen Kreislauf des Kommen
und Gehens zu verstehen. So saß Herr Dorsch gerne im Grünen, so wie eines Tages
auch, als sein Urenkel, Sebastian Dorsch, ihn besuchen kam. Man muss an dieser
Stelle wissen, dass Herr Dorsch nur ungern mit seinem Vornamen angesprochen
wurde – das hatte persönliche, aber auch gesellschaftliche Gründe. An diesem
Frühlingstag also, begrüßte Dorsch seinen Urenkel, den Studenten und schloss
ihn in die Arme. „Groß bist du geworden“, sagte Dorsch mit hochgezogenen
Brauen. „Ja, 23 werde ich dieses Jahr“. Sebastian lächelte ihn an. Dorsch sah
Sebastians Nadelstreifanzug an – „Ach, geschäftlich unterwegs?“ „Nein“, sagte
Sebastian, „So geht man einfach ins Studium, heutzutage.“ Der alte Mann
betrachtete seinen Urenkel eine kurze Weile, bis er seinen Mund schloss und die
Aussage einfach abnickte. „Hast wohl recht, Bursche.“
Eine Pflegerin kam den Waldweg entlang spaziert. Sie war
nicht älter als Sebastian und trug eine beige Schürze um die Jeans geschnürt.
Mit großen, vorsichtigen Schritten versuchte sie den kleinen Wasserlacken
inmitten der weißen Blütenlandschaft auszuweichen. Sie stellte sich sehr
tollpatschig an und als Sebastian ihren ausbalancierten Gang sah, konnte er
sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bianca“, empfängt sie der alte Mann mit
freudigem Strahlen im Gesicht. Als er ihr genauer ins Gesicht sah, konnte
Sebastian sicher sein, dass sie noch keine 25 war. Sie hatte seinen Blick
bemerkt und sah zu ihm herüber als sie sagte: „Maria, ist mein Name, Herr
Dorsch. Was darf ich Ihnen und ihrem Enkel denn bringen?“ – „Urenkel“,
unterbrach sie der Dorsch mit Stolz in seiner Stimme. „Also ich hätte gerne
einen Apfelsaft, wenn’s sein darf.“ „Für mich bitte das selbe.“, fügte
Sebastian schüchtern hinzu. Maria lächelte freudig ihn an, nickte artig und
machte sich auf den Weg zurück ins Altenheim. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“
Die dicken Lippen des Greises formten sich zu einem runden Kussmund. „Opa
Dorsch!“, ermahnte ihn sein Urenkel lachend. „Nein, nein, ist doch kein Problem“,
entgegnete ihm der Greis. „Bin zu deiner Zeit auch allem nachgejagt. Das liegt
den Männern einfach im Blut, glaub mir das.“ Doch Sebastian war viel zu
schüchtern, um weiter auf das Thema einzugehen und so füllte eine kurze Pause
der Stille den Ort. Erst jetzt bemerkte Sebastian die selige Ruhe, die diesen
kleinen Fleck inmitten des Waldes umhüllte. Vereinzelt hörte man Vögel
zwitschern und von Weitem konnte man das Lachen alter Menschen vernehmen. Der
Wind säuselte in einer vertrauten Melodie in Sebastians Ohren und umhüllte die
beiden Herren am Tisch der Familie Dorsch.
Maria kam bald wieder und stellte den Apfelsaft auf den
Tisch. „Darf ich sonst noch etwas tun?“, fragte sie die beiden Herren, ohne
dabei Sebastians Blick zu beachten. „Naja, also wenn Sie so fragen, Gnäd’s Fräulein“,
begann der alte Mann zu lächeln, „Mein Enkel, der Sebastian, ist ein
aufgeweckter Bursche, müssen Sie wissen. Ich glaub, dass er ein wenig Gefallen
an Ihnen findet, Sie verstehen?“. Sebastian sah verkrampft zum Boden und
spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anstieg. Maria aber, schien mit der
Situation besser umgehen zu können. „Er scheint ganz nach seinem Opa zu kommen,
zuvorkommend und herzlich.“, entgegnete sie ihm schmunzelnd. „Uropa.“,
verbesserte sie der alte Dorsch mit erhobenem Zeigefinger. Sebastian fing
Marias Blick auf und verlor sich in ihren großen, braunen Augen – Gefühle der
Glückseligkeit schossen ihm vom Bauchnabel in den Kopf. Er sah ihr Lächeln, er
wusste, dass es ihm galt, doch sein Gesicht war wie gelähmt und so blickte er sie
mit erstarrter Mine an. „Also mir tut der Rücken schon wieder weh, ich sollte
mich etwas hinlegen.“, sagte Dorsch mit zugezwinkertem Auge zu Sebastian. „Was
du willst schon gehen?“, fragte ihn sein Urenkel geschockt. „Mach dir um mich
keine Sorgen.“, sagte der Mann mit herzlicher Mine. „Hast doch eine gute
Bekanntschaft gemacht. Am besten setzt ihr euch zusammen und lernt euch erst
einmal kennen. Ich finde sie nett!“ Sebastian sah Maria schüchtern an und
spürte ihr Lächeln in seinem Herzen. Herr Dorsch verabschiedete sich mit einer
festen Umarmung. „Wünsch dir was,“ seine Worte klangen ehrlich und warm. Während
Opa Dorsch über den Waldweg zurück ins Heim geschoben wurde und weiße
Apfelblüten in seinen Schoß fielen, setzte sich Maria zum weißen Tisch, wo sie
sich dem gutaussehenden Sebastian noch einmal vorstellte.
Herr Dorsch starb die Woche darauf – er hatte Sebastian
nicht wieder gesehen. Die Beerdigung war düster und traurig. Während die
engsten Familienangehörigen weinten, standen Freunde, Bekannte und mögliche
Erben abseits und blickten bekümmert auf den großen, dunklen Eichensarg.
Sebastian ergriff Marias Hand, als der Sarg in die Erde herunterfuhr. Die
Trauerrede seines Onkel Konstantin trieb ihm und auch seiner Freundin warme
Tränen über die Backen. Als alle gegangen waren und auch der Priester Abschied
genommen hatte, stand Sebastian noch einmal vor Opa Dorschs Grabstein. Bedacht
fuhr er die eingravierten Buchstaben nach. Erinnerungen spiegelten sich in
seinen Gedanken wieder und so sah er in den Himmel und schickte ihm einen
stillen, dankbaren Gruß. Maria stand auf dem hellen Kiesweg und ergriff seine
Hand, als er auf sie zukam. „Eines hätte er nicht gewollt“, sagte Sebastian, und
warf einen letzten Blick auf den Marmorstein. Als Maria ihm einen fragenden
Blick zuwarf, da fügte er hinzu: „Dass man seinen Vornamen dran schreibt. Ich
glaube Opa Dorsch hätte er lieber gehabt.“ Beide lächelten kurz, und dann
verließen sie das Grab des 97 jährigen Adolf Dorsch, das von Apfelbäumen
umgeben war.
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