Montag, 15. Juni 2015

Opa Dorsch

An der weißen Veranda saß ein zitternder Mann im Rollstuhl. Seine Augen waren mit dem Alter trüb geworden, seine Haut hing in tiefen Falten herunter und dunkle Flecken breiteten sich über seine Arme und Hände aus. Doch sein Lachen, das war jung und ehrlich geblieben, wie das eines Kindes. Herr Dorsch war bereits 97 Jahre alt, oft aber behauptete er, er wäre erst 57, oder an manchen Tagen, wenn ihm die gute Laune bis in den Kopf stieg und sich in einem breiten Lächeln zeigte, da war er sich sicher, noch keine 30 zu sein. Aber das Alter spielte beim alten Dorsch eine untergeordnete Rolle – wer immer zu ihm kam, der wurde mit Respekt und Charme vom ehemaligen Geschäftsmann empfangen. Er wohnte in einem privaten Pflegeheim, unweit eines großen Waldstückes, wo die Bewohner in den warmen Monaten den Bäumen und seinen Bewohnern zusahen – erst im Alter fing man an, den ewigen Kreislauf des Kommen und Gehens zu verstehen. So saß Herr Dorsch gerne im Grünen, so wie eines Tages auch, als sein Urenkel, Sebastian Dorsch, ihn besuchen kam. Man muss an dieser Stelle wissen, dass Herr Dorsch nur ungern mit seinem Vornamen angesprochen wurde – das hatte persönliche, aber auch gesellschaftliche Gründe. An diesem Frühlingstag also, begrüßte Dorsch seinen Urenkel, den Studenten und schloss ihn in die Arme. „Groß bist du geworden“, sagte Dorsch mit hochgezogenen Brauen. „Ja, 23 werde ich dieses Jahr“. Sebastian lächelte ihn an. Dorsch sah Sebastians Nadelstreifanzug an – „Ach, geschäftlich unterwegs?“ „Nein“, sagte Sebastian, „So geht man einfach ins Studium, heutzutage.“ Der alte Mann betrachtete seinen Urenkel eine kurze Weile, bis er seinen Mund schloss und die Aussage einfach abnickte. „Hast wohl recht, Bursche.“

Eine Pflegerin kam den Waldweg entlang spaziert. Sie war nicht älter als Sebastian und trug eine beige Schürze um die Jeans geschnürt. Mit großen, vorsichtigen Schritten versuchte sie den kleinen Wasserlacken inmitten der weißen Blütenlandschaft auszuweichen. Sie stellte sich sehr tollpatschig an und als Sebastian ihren ausbalancierten Gang sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bianca“, empfängt sie der alte Mann mit freudigem Strahlen im Gesicht. Als er ihr genauer ins Gesicht sah, konnte Sebastian sicher sein, dass sie noch keine 25 war. Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah zu ihm herüber als sie sagte: „Maria, ist mein Name, Herr Dorsch. Was darf ich Ihnen und ihrem Enkel denn bringen?“ – „Urenkel“, unterbrach sie der Dorsch mit Stolz in seiner Stimme. „Also ich hätte gerne einen Apfelsaft, wenn’s sein darf.“ „Für mich bitte das selbe.“, fügte Sebastian schüchtern hinzu. Maria lächelte freudig ihn an, nickte artig und machte sich auf den Weg zurück ins Altenheim. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“ Die dicken Lippen des Greises formten sich zu einem runden Kussmund. „Opa Dorsch!“, ermahnte ihn sein Urenkel lachend. „Nein, nein, ist doch kein Problem“, entgegnete ihm der Greis. „Bin zu deiner Zeit auch allem nachgejagt. Das liegt den Männern einfach im Blut, glaub mir das.“ Doch Sebastian war viel zu schüchtern, um weiter auf das Thema einzugehen und so füllte eine kurze Pause der Stille den Ort. Erst jetzt bemerkte Sebastian die selige Ruhe, die diesen kleinen Fleck inmitten des Waldes umhüllte. Vereinzelt hörte man Vögel zwitschern und von Weitem konnte man das Lachen alter Menschen vernehmen. Der Wind säuselte in einer vertrauten Melodie in Sebastians Ohren und umhüllte die beiden Herren am Tisch der Familie Dorsch.

Maria kam bald wieder und stellte den Apfelsaft auf den Tisch. „Darf ich sonst noch etwas tun?“, fragte sie die beiden Herren, ohne dabei Sebastians Blick zu beachten. „Naja, also wenn Sie so fragen, Gnäd’s Fräulein“, begann der alte Mann zu lächeln, „Mein Enkel, der Sebastian, ist ein aufgeweckter Bursche, müssen Sie wissen. Ich glaub, dass er ein wenig Gefallen an Ihnen findet, Sie verstehen?“. Sebastian sah verkrampft zum Boden und spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anstieg. Maria aber, schien mit der Situation besser umgehen zu können. „Er scheint ganz nach seinem Opa zu kommen, zuvorkommend und herzlich.“, entgegnete sie ihm schmunzelnd. „Uropa.“, verbesserte sie der alte Dorsch mit erhobenem Zeigefinger. Sebastian fing Marias Blick auf und verlor sich in ihren großen, braunen Augen – Gefühle der Glückseligkeit schossen ihm vom Bauchnabel in den Kopf. Er sah ihr Lächeln, er wusste, dass es ihm galt, doch sein Gesicht war wie gelähmt und so blickte er sie mit erstarrter Mine an. „Also mir tut der Rücken schon wieder weh, ich sollte mich etwas hinlegen.“, sagte Dorsch mit zugezwinkertem Auge zu Sebastian. „Was du willst schon gehen?“, fragte ihn sein Urenkel geschockt. „Mach dir um mich keine Sorgen.“, sagte der Mann mit herzlicher Mine. „Hast doch eine gute Bekanntschaft gemacht. Am besten setzt ihr euch zusammen und lernt euch erst einmal kennen. Ich finde sie nett!“ Sebastian sah Maria schüchtern an und spürte ihr Lächeln in seinem Herzen. Herr Dorsch verabschiedete sich mit einer festen Umarmung. „Wünsch dir was,“ seine Worte klangen ehrlich und warm. Während Opa Dorsch über den Waldweg zurück ins Heim geschoben wurde und weiße Apfelblüten in seinen Schoß fielen, setzte sich Maria zum weißen Tisch, wo sie sich dem gutaussehenden Sebastian noch einmal vorstellte.


Herr Dorsch starb die Woche darauf – er hatte Sebastian nicht wieder gesehen. Die Beerdigung war düster und traurig. Während die engsten Familienangehörigen weinten, standen Freunde, Bekannte und mögliche Erben abseits und blickten bekümmert auf den großen, dunklen Eichensarg. Sebastian ergriff Marias Hand, als der Sarg in die Erde herunterfuhr. Die Trauerrede seines Onkel Konstantin trieb ihm und auch seiner Freundin warme Tränen über die Backen. Als alle gegangen waren und auch der Priester Abschied genommen hatte, stand Sebastian noch einmal vor Opa Dorschs Grabstein. Bedacht fuhr er die eingravierten Buchstaben nach. Erinnerungen spiegelten sich in seinen Gedanken wieder und so sah er in den Himmel und schickte ihm einen stillen, dankbaren Gruß. Maria stand auf dem hellen Kiesweg und ergriff seine Hand, als er auf sie zukam. „Eines hätte er nicht gewollt“, sagte Sebastian, und warf einen letzten Blick auf den Marmorstein. Als Maria ihm einen fragenden Blick zuwarf, da fügte er hinzu: „Dass man seinen Vornamen dran schreibt. Ich glaube Opa Dorsch hätte er lieber gehabt.“ Beide lächelten kurz, und dann verließen sie das Grab des 97 jährigen Adolf Dorsch, das von Apfelbäumen umgeben war. 

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