Sonntag, 14. Juni 2015

Junge Liebe

Es war ein edler Altbau in dem er wohnte, mitten im Herzen der Stadt. Sie öffnete die große, weiße Flügeltür und fand sich in einer Wohnung, die mit ihrem prächtigsten Traum nicht mithalten konnte. Der Vorraum war ausgeschmückt mit Portraits von Caravaggio, seinem absoluten Lieblingskünstler, wie er ihr als Erklärung gestand. Sie ging auf dunkelbraunem, feinst geschliffenen Parkettboden, der sanft und leise knarrte und jeden ihrer Schritte einladend begrüßte. Er führte sie in sein Schlafzimmer, das größer war als das Wohnzimmer ihres Elternhauses. Sanfte Küsse spürte sie an ihrem Hals, zarte Hände berührten ihre Taille. Sie fand keinen Grund sich zu wehren, keine Ausrede für eine Flucht, denn er war ihr vertraut und nahe wie kein Mann zuvor. So gab sie sich ihm hin, dem Mann, der ihr Herz erobert hatte, der an einem einzigen sonnigen Nachmittag vollbrachte, was so viele vor ihm Monate und Jahre vergebens versucht hatten. Am nächsten Morgen wurde sie von Sonnenstrahlen geweckt, die sanft und warm auf ihren roten Backen tänzelten. Sie fand sich blütenweißer Bettwäsche, auf einem großen Bett in dem gigantischen Schlafzimmer. Als sie ihn nicht finden konnte, durchwanderte sie die ganze Wohnung. Sie blickte in jede Ecke und hinter jede Tür, doch sie fand nur leere Zimmer, lange Gänge und antike Einrichtungen. Ein Gefühl der Unsicherheit durchbrach ihre innere Ruhe. Was war geschehen und wo war der Mann, der ihr Herz in Windeseile erobert hatte? Sie wurde immer nervöser, spürte ihre Hände zittern suchte nach ihm wie im Wahn aber konnte ihn nicht finden. Angst durchfloss ihren Körper und so packte sie ihren Rucksack und schritt durch das große Vorzimmer, vorbei an den Gemälden, vorbei an der Flügeltür, hinaus ins Treppenhaus.

Als sie in die enge Gasse heraustrat, überfiel sie ein Schwindelanfall. Sie musste sich an der Kalkwand abstützen, um nicht auf die kalten, harten Backsteine zu fallen. Sie atmete tief und schwer. Tränen fielen zu Boden und verfärbten die Steine in dunkelblaue Quadrate. Lautes Schluchzen ertönte in der Gasse, es war ein Schluchzen, das von Verzweiflung, von Hass und von Trauer sprach. Sie war allein gelassen, von dem Mann, dem sie ihre Unschuld schenkte, unbedacht und spontan, wie sie sonst nie gewesen war. Ihr Magen wurde schwer und wäre er nicht leer gewesen, so hätte sie alles herausgebrochen. Nach Momenten der Trauer und Einsamkeit verfiel die junge, zerbrochene Schönheit in Wut. Sie stampfte die Gasse entlang, ging zum Stephansplatz, setzte sich auf die Marmorbank, auf der sie gestern ihren Stolz und ihre Würde verloren hatte. Sie saß, einsam und verlassen, einige Weile auf der Bank und beobachtete die Touristen, die nach billigen Attraktionen Ausschau hielten. Das Geld, das sie zusammengespart hatte würde für einige Tage reichen, also fuhr sie mit der U-Bahn zurück zum Westbahnhof und mietete sich im billigsten Hotel der Stadt ein kleines Zimmer. Hier war sie allein, hier war sie sicher vor Blicken und Sprüchen, vor der Scham, die sie überkam wenn sie an die letzte Nacht dachte. Sie zwang sich ein Sandwich zu essen und betrank sich am Abend mit billigem Rotwein. Es dauerte nicht lange, bis sie vor dem flimmernden Fernseher einschlief.

Die Wohnungstür war nicht ins Schloss gefallen und stand einen Spalt breit offen. Er stellte die Einkaufstasche auf den blanken Eichenholzboden und schloss hinter sich ab. Er ahnte nichts, als er ins Schlafzimmer trat und das verlassene Bett vorfand. Sie hätte es zwar ausschütteln und herrichten können, doch er würde nicht Kritik an ihr üben. Im Supermarkt wurde ihm bewusst, wie viel er bereits von ihr wusste –so hatte er den Schinken wieder zurückgelegt, da sie am Vorabend über ihre fleischlose Ernährung erzählte – also entschloss er sich dazu, ein Frühstücksei mit Käsebrot und Müsli zu servieren. Er begab sich in die Küche und begann damit, die Eier zu kochen, das Müsli in die Schüsseln zu streuen und die Brote zu schmieren. In Gedanken war er bereits bei ihr, kuschelte sich an ihren schönen Körper und flüsterte ihr sanfte, liebevolle Worte ins Ohr. Während er das Tablett mit tanzendem Schritt in das Schlafzimmer brachte, erfreute er sich an der Vorstellung den ganzen Tag mit dieser Schönheit verbringen zu werden. So machte er das Bett und wartete artig auf das reizende Mädchen, das ihm seit der Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Während er unruhig an der Bettwäsche zupfte, dachte er noch einmal an den vorigen Tag nach. Ursprünglich wollte er seinen besten Freund am Flughafen abholen, der von einem dreimonatigen Trip aus Brasilien zurückgekehrt war, doch kurz vor dem Gate an dem er seinen Kumpanen erwarten sollte, machte er kehrt und folgte ihr. Er verpasste ihren Bus um Haaresbreite. Verzweifelt hatte er die Suche bereits aufgegeben und begab sich mit müdem Schritt nach Hause. Am Stephansplatz jedoch erblickte er sie wieder, unübersehbar in der Menge strahlte das Mädchen, das ihm alle Gedanken geraubt hatte. Ein Glück, dass er sie gefunden hatte, dachte er sich nun mit zufriedenem Lächeln. Sie war schon lange im Bad, also wollte er anklopfen, nach ihr fragen und einen schönen, guten Morgen wünschen. Doch seine Worte blieben unbeantwortet. Als er die Türklinke herunterdrückte, bemerkte er, dass auch das Bad leer war.


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