Samstag, 13. Juni 2015

Die dunkle Bar

Das weichgescheuerte Thekenholz fühlte sich beinahe wie Glas an, als Tom mit seiner rechten Hand darüber fuhr. Unzählige Getränke, Münzen, Kreditkarten und Zettelchen mit aufgekritzelter Telefonnummer wurden hier im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgetauscht – die Bar war Zeuge so mancher Ehe, Scheidung und Affäre geworden, und doch schwieg sie, voller Geduld und Verständnis für den Erzählenden. Seit fünf Jahren kam Tom beinahe jeden Abend in diese kleine Cocktailbar im Zentrum der Stadt. Während sich neben der Eingangstür junge Frauen und Männer auf den abgewetzten Sofas niederließen, bevorzugte er den hohen Barhocker und das gleichmütige Gesicht des Barmannes, der zugleich Besitzer des Lokals war. Er hieß Franz und war nur wenige Jahre älter als Tom – sie verstanden sich seit Beginn ihrer Bekanntschaft gut und so sprachen sie zueinander als Freunde und berieten sich in ihren Ehesachen oder in Geschäftsfragen. Tom wusste alles von Franz und Franz wusste alles von Tom. Auch an diesem Abend saß er an der Theke. Sein Knie drückte gegen die rauen, kühlen Ziegelsteine, aus denen die Bar aufgebaut war, und rieb nervös zwischen den beiden Kanten hin und her. Seinen zweiten Drink hatte er bereits getrunken und wie es die Gewohnheit verlangte, spendierte Franz ihm, still und heimlich, um die anderen Gäste mit dieser Unart des Gastgebers nicht zu vertreiben, den dritten und letzten Drink dieses Abends. Wie jeden Abend trank Tom einen Gin Tonic mit einem Schuss Kokosmilch – eine Eigenkreation von Franz, der in jungen Jahren als Barkeeper gearbeitet hatte.

„Dank‘ dir“, sagte Tom. Der Barmann, bereits kahl am Kopf, sah seinen treuen Gast durch die eckige Brille an. „Thomas, du siehst heute etwas mitgenommen aus. Was hat dich denn gebissen?“ Keine Antwort. „Heitert dich ein bisschen Blues auf?“, Franz grinste über seine spärlich behaarten Backen, als weichgespülte Saxophonmusik die dunkle Bar mit heiterer Laune erfüllte. Lachend schüttelte Franz seine Schultern im Rhythmus der bewegten Musik - Toms Antwort war dasselbe, unveränderte Gesicht mit traurigem Blick. „Komm, erzähl jetzt.“, forderte ihn der Barmann auf. Einen Moment lang zögerte er, begann dann aber seine verkrampfte Miene zu lösen und schnaufte in sein Whiskeyglas. Franz merkte, dass sein Gegenüber noch einige Zeit überlegte, um die richtigen Worte zu finden. Nach einer kurzen Pause, die von fröhlicher Bluesmusik aufgefrischt wurde, warf Tom eine Frage in die Luft. „Was würdest du tun-“ er stockte einen Moment, sah nach links und recht und vergewisserte sich, dass niemand lauschte, „Wenn dich jemand verfolgt?“ Der Barmann sah Tom mit verhärteter Miene an. Er schien auf etwas zu warten, einen weiteren Satz, eine Erklärung, einen Abschluss des Satzes, aber als nichts folgte, sagte er schließlich fragend: „Also dich verfolgt wer.“,  und als er zu Ende gesprochen hatte, zuckte Tom zusammen, als hätte ihn etwas im Nacken gestochen. Er packte die Hand von Franz und drückte sie fest. „Nicht so laut.“, flüsterte er ihm mit bedrohlichem Blick zu. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gesunken und standen wie liegende Rufzeichen über die strahlend blauen Augen. „Siehst du den Kerl, der da hinten ganz allein auf der Couch hockt?“, fragte er nervös. Franz ging aus der Theke und begann abzuservieren. Tom sah ihm nicht nach. Er spürte seinen Pulsschlag in jeder Fingerspitze, kalter Angstschweiß befleckte seinen Rücken. Seit Stunden schon fühlte er sich von dem Mann, mit der dunklen Sonnenbrille in den Kragen geklemmt, verfolgt. Er schluckte fest und spürte seinen Kehlkopf gegen die Speiseröhre drücken. Schließlich kam Franz zurück und stellte das schmutzige Geschirr in der kleinen Abwasch hinter der Theke ab. Wortlos blickte er Tom in die Augen, als er ein frisch abgespültes Bierglas aus dem Regal nahm und Weizenbier darin einschenkte. Seine Augen wirkten starr aber beruhigend, als würden sie ihm seine Angst nehmen wollen. Dann zog er seine Augenbrauen kurz und auffällig hoch, um Thomas etwas zu deuten. Während Franz das Bier in geschwindem Gang nach hinten brachte, verfolgten Thomas Augen den Barmann.

Franz kam nach einem kurzen Gespräch mit dem fremden Gast zur Theke zurück. Er begann die Regale zu schlichten, die Gläser einzuräumen und das Geschirr abzuwaschen. Thomas betrachtete währenddessen die Gemälde und Fotografien an der Wand. Sie schienen im Schimmer der alten Glühbirnen, die in Gehäusen aus verschwommenem Milchglas versteckt waren, düster und alt. Bei genauem Betrachten sah Tom eine dicke Staubschicht, die sich an der Oberseite der Rahmen festgesetzt hatte. Als er zurück zu Franz blickte, bemerkte er seine beängstigte Miene. „Darf es noch was sein, der Herr?“, fragte Franz mit blinkendem Auge. Dann spürte er ein gefaltetes Stück Papier unter seine Hände gleiten. Er nahm es unauffällig auf seinen Schoß und öffnete es. Mit Bleistift stand in Blockbuchstaben geschrieben: „DU BLEIBST BESSER HIER.“ Angst überkam Tom wieder und Schweiß rann den Rücken herunter, als er den besorgniserregten Blick des Barmannes verspürte. Also habe ich mir das doch nicht eingebildet, dachte er, während seine Augen starr auf das Bierfass hinter den Gläsern gerichtet waren. Eine ganze Weile verging, in der Thomas still und unbewegt auf seinem harten Barhocker saß und der Musik lauschte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, doch glaubte er den Blick des Unbekannten in seinem Rücken zu spüren, als würde er ihm ein scharfes Messer immer fester und tiefer andrücken. Franz sprach kein Wort mehr zu ihm, als hätte er selbst Angst bekommen – sein angespanntes und untypisches Verhalten beunruhigte Tom noch viel mehr. Seine Blase drückte allmählich und selbst die größte Sorge vor dem Ungewissen konnte das Bedürfnis nicht länger halten. So beschloss er seinem Harndrang zu folgen und ging in raschem Schritt zu den Toiletten.
Die Musik klang dumpf und hohl bis in die Toilettenkabine, in der Thomas stand. Während er, etwas betrunken von Franz Kokos-Gin Tonic, sich im Stehen erleichterte, ging die Tür zum Toilettenraum auf. Der Schall der Musik drang in die Kabine und ließ die unvergleichliche Stimme von John Lee Hooker erklingen. Noch bevor Thomas den Songtitel erraten konnte, schwing die Tür wieder zu und ließ die Musik wieder bleiern klingen. Schwere Stiefelabsätze gingen einen langsamen Gang in seine Richtung. Der Mann, der eintrat, blieb direkt vor Thomas Kabine stehen. Tom weitete seine Augen und schnappte nach Luft. Das ist er, dachte er und versuchte den Druck in seinem Kopf mit einem leichten Schütteln auszugleichen. Er wartete einige Momente, die ihm endlos lange vorkamen. Würde Franz jetzt kommen? Wahrscheinlich war er zu beschäftigt und hatte den Unbekannten nicht aufs stille Örtchen gehen sehen. Die Stiefelabsätze knirschten drohend am Fließenboden. Stille. Thomas hielt den Atem an. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich trat jemand gegen die Kabinentür. Thomas rief laut auf. Er zwängte sich in die hintere Ecke der Kabine. Neben der Kloschüssel kauerte er, warf die Hände über den Kopf und schrie um Hilfe. Ein letzter Tritt, bevor die Tür an der Stelle des Schlosses nachgab und splitterte. Die Gewissheit über den nahenden Tod, die aussichtslose Flucht vor dem Schicksal nahm auf dem kalten, stinkenden Boden der alten Cocktailbar im Zentrum Wiens ihr Ende.


Der Morgen war bereits angebrochen, als Thomas Eckhart die Straße betrat. Er trug seinen dunkelblauen Nadelstreifanzug mit Krawatte in royalem Blau – der Hingucker im Büro. Herr Eckhart war stolz auf seinen Job, stolz auf sein neues Auto, stolz auf das große Haus und seine schöne Frau. Er hatte lang und hart dafür gearbeitet und wenn ihn jemand fragte, welch ein Glückslos er einst gezogen hatte, so entgegnete er stets mit breitem Grinsen: „Das Los der Götter.“ An diesem Morgen also ging Herr Eckhart seinen allmorgendlichen Weg zum Bäcker. Seine Frau schlief noch und so zog er es vor, das Auto nicht unnötig anzustarten – der Bäckerladen war nur 2 Ecken von ihm entfernt. Er war nur einige Schritte gegangen, da kam ihm ein Mann entgegen, dessen Blick schon lange Zeit auf Thomas Eckhart gerichtet war. „Verzeihen Sie“, sagte der Mann mit ausländischem Akzent. Herr Eckhart ignorierte den Mann und ging weiter, schließlich hatte er es eilig und wollte noch ein, zwei Brötchen für seine Frau mitbringen. Der Mann ließ nicht locker und ging dem Eckhart nach, immer wieder bittend um Aufmerksamkeit. Schließlich blieb der Geschäftsmann wütend stehen und starrte dem Mann ins Gesicht. Wütend riss er dem Kerl die große, dunkle Pilotenbrille von den Augen und warf sie zu Boden. „Hast du’s nicht verstanden? Verschwinde, sofort!“ Der Mann richtete seine Frisur zurecht und hob die Sonnenbrille auf. Wortlos trampelte er in Cowboystiefeln davon. Herr Eckhart verschwand in der Bäckerei – bestellte fünf Brötchen und verließ die Filiale sofort wieder. Die Begegnung hatte er schon bald wieder vergessen und auch den Mann, der hinter ihm herging, hatte er nicht bemerkt…

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