Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein. Unzählige
Kinder strömten wie Fischschwärme aus dem Schulgebäude und breiteten sich über
das weite Areal aus. In Gruppen standen dicke und dünne, kleine und große, jüngere
und ältere Kinder beieinander und scherzten, lachten, riefen, flüsterten oder
schrien in sorgenloser Manier. Mitten im Tumult schritt ein kleiner Bursche
durch die Menge. Mario war hager, seine Gestalt wirkte zärtlich, beinahe schon
zerbrechlich für einen Fünfzehnjährigen. Blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht
und glänzten in der warmen Mittagssonne. Während sich die Kollegen aus
verschiedensten Schulklassen miteinander unterhielten, ging Mario schweigend
weiter. Sein Blick war starr auf den hellgrauen Asphalt gerichtet, der ihm den
Weg heim verriet. Stumm zählte er die einzelnen Grasbüschel, die durch den
harten Straßenbelag durchgebrochen waren. Neben dem Gehsteig fuhren immer
wieder Autos vorbei, die mit brummendem Motor Marios Gedanken
durcheinanderbrachten. Immer wieder dachte er an das Gesicht der Lehrerin – sie
hatte gelächelt. War es ein böses Lächeln, oder versuchte sie ihm ihr Mitleid
zu zeigen? Eine Fünf auf die Deutscharbeit.
Das schmerzte. Mario verlangsamte seinen Schritt. Tief atmete er ein – und
wieder aus, diesen Rythmus behielt er für einige Momente. Immer wieder malte er
sich die Reaktion seiner Eltern aus: entsetztes Geschrei seiner Mutter,
Hiobsbotschaften seines Vaters, Drohungen des Schulabbruchs und viele andere
Situationen spielten sich wie ein trauriges Theaterstück in Marios Kopf ab,
Applaus gab es dafür keinen. Du wirst die
Schule nie schaffen – ertönte es in seinen Ohren. Der Bursch setzte sich
auf die alte Holzbank, unweit der Hauptstraße. Still lauschte er seinem
Herzschlag. Er hatte Angst davor, nach Hause zu gehen denn er wusste was ihn
erwartete. Stundenlange Gespräche und böse Mahnungen würden ihm den Rest geben,
bis er sich spät abends in sein Bett legen und heimlich zu schluchzen beginnen
würde. Sie verstehen mich nicht, dachte
Mario.
Es war ganz still gewesen, bevor sein Herzpochen plötzlich von
einer eigenartigen Melodie übertönt wurde. Sie klang wie die Musik eines
Spielautomaten – mechanisch und impulsiv drang sie in Marios Ohren. Er stand
auf und horchte genau hin. Die Melodie wiederholte sich im immergleichen
Rhythmus und metallischen Klang. Die Musik kam aus der kleinen, engen
Seitengasse, die unweit der Holzbank zu einer alten Fabrik führte. Mario dachte
nicht lange nach, denn jeder gewagte Gedanke hätte ihm mit äußerster
Dringlichkeit davon abgeraten, dem Geräusch zu folgen. Langsam ging er einige,
kleine Schritte. Er stand direkt vor der Ecke, das Geräusch wurde immer klarer
– eindeutig kam es aus der Sackgasse. Die Wände waren etwa eineinhalb Meter
voneinander entfernt und bestanden aus schmutzigen, alten Ziegelsteinen, deren
Ecken und Kanten abgeschlagen und rundgescheuert waren. Es fiel kaum Licht in
die Gasse – kurz stockte Marios Atem. Wahrscheinlich wäre er an gewöhnlichen
Tagen nicht auf die Idee gekommen, in diese Gasse zu gehen – seit 5 Jahren ging
er diesen Weg beinahe täglich. Aber dieser war kein gewöhnlicher Tag. Ein Bein
folgte dem Nächsten. Schritt um Schritt wagte Mario sich in die Gasse. Bald
schon war er am Ende angelangt: Eine alte Fabrikfassade bildete das Ende dieser
Sackgasse, die vor langer Zeit wohl als Einfahrt gedient hatte. Mario sah sich
um. Ein großes, rostiges Metalltor verschloss den Zutritt in die alte Halle.
Mario wollte kehrtmachen, da ertönte das Geräusch lauter und schriller als
zuvor. Der Bursch erschrak so arg, dass er sich ruckartig nach rechts wandte,
wo ein alter Spielautomat stand. Verwunderung. Die immergleiche Melodie ertönte
aus dem Spielkasten. Bunte Lichter strahlten aus dem Gerät. Rot und Blau und
Grün und Gelb ließen einen kleinen Teil der Fassade aufleuchten. Mario ging auf
den Automaten zu. Ungläubig sah er sich um: das Gerät war nicht angesteckt.
Kein Kabel führte zu einer Steckdose – noch größere Verwunderung machte sich in
dem Jungen breit. Plötzlich sprach eine abgehackte Stimme „Drücke Start!“. Nun
wiederholte die Maschine diese Aufforderung neben der eintönigen Melodie, immer
schneller und immer schriller. Die Lampen blinkten wilder und hörten gar nicht
mehr auf. Mario bekam Furcht. Schnell haute er seine geballte Faust auf den
dicken, roten Button in der Mitte des Feldes – erst jetzt erkannte er, dass es
der einzige Knopf am ganzen Automaten war. Die Lichter erstarrten – die Melodie
blieb aus.
Die abgehackte, mechanische Stimme sprach ohne begleitende
Melodie. „Heute ist dein Glückstag! Wie ist dein Name?“. Mario hob seine
heruntergefallene Kinnlade, schloss den Mund und sah den Bildschirm entsetzt
an. „Ma- Mario.“, stammelte der blonde Bursch hervor. „Hallo Mario! Heute ist
dein Glückstag!“, sprach die monotone Computerstimme. Mario schluckte. Der
Bildschirm wurde schwarz. Die Lichter gingen aus. „Lieber Mario. Heute hast du
einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ Das war schließlich zu viel des Guten.
Mario, der schon mit 5 hinter das Geheimnis des Osterhasen und des
Weihnachtsmannes gekommen war, suchte das Geheimnis dieses Gerätes. Er suchte nach einem Kabel, einer Kamera, einem
Mikrofon oder irgendeinem Anzeichen, das diesen Automaten als Streich
entpuppte. Doch er fand nichts. Da will
sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, dachte er sich. Doch der
Computer wiederholte seine Aussage. „Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn
bedacht.“ „Gut!“, rief Mario verwirrt. „Gut, dann wünsche ich mir – ich wünsche
mir den Fleck weg. Ich will eine glatte Eins ins Zeugnis, ich möchte, dass
meine Eltern endlich stolz sein können auf mich und mich lieben, weil ich ihnen
genüge!“ Als er seinen innigsten Wunsch ausgesprochen hatte, da rumorte es in
der Maschine. Rauch stieg aus den Lüftungsschlitzen, ein elektrisches Zirpen
und Knistern machte sich bemerkbar. Es stank nach Kabelbrand. Mario seufzte. Wäre auch zu schön gewesen, dachte er
sich, als er aus der dunklen Gasse trat und seinen Heimweg fortsetzte.
Wortlos klatschte Mario das Arbeitsheft auf den Küchentisch.
Seine Mutter blickte ihn unheilvoll an und auch der Vater hatte einen
sorgevollen Blick aufgesetzt. Scham überkam Mario, als er das Heft aufschlug
und ohne Kommentar seinen Eltern zuschob. Ein Moment der Stille erfüllte die
Küche, in der die Gemüsecremesuppe vor sich hin köchelte. Der sanfte Geruch von
gekochtem Brokkoli und Blumenkohl erfüllte die verdampfte Küche. „Bin stolz auf
dich“, sagte seine Mutter. Verwundert hob Mario seine Augenbrauen und blickte
sie fragend an. „Sehr gut. Bin sehr stolz auf dich. Hast du gut gemacht.“
Tatsächlich. Unter dem fehlerfreien Text stand eine dicke, rote 1. Von diesem Tag an schrieb Mario nie
wieder eine schlechtere Note – er wurde Klassenbester und schloss die Schule
mit großartigem Erfolg ab. Den Automaten aber, den fand er nie wieder. Aber
manchmal, an einsamen Tagen, da hört Mario noch heute die immergleiche,
mechanische Melodie von Weitem erklingen…
Sehr schöne Geschichte, doch hab ich diesmal etwas zu bemängeln, was mir beim lesen sofort auffiel.
AntwortenLöschenDer Automat fragt Marion nach seinen Namen und dieser antwortet: " „Ma- Mario.“, stammelte [...] und 4 oder 5 Sätze fragt sich Mario, woher der Automat seinen Namen weiß ... ...
Das scheint mir doch nicht ganz schlüssig zu sein :) :)
Ansonsten, finde ich es sehr gelungen.
LG Ede
Da musste ich erst mal lachen, so ein komischer Denkfehler!
AntwortenLöschenDanke Dir für den Hinweis und das Feedback!
LG, Maximilian :)