Dienstag, 27. Januar 2015

1001 Worte

Bürger! Wie kannst du klagen? Wie kannst du es wagen, deinen Mund zum Protest zu öffnen, um deinem Groll Gehör zu verschaffen, der sich in Undank und Faulheit suhlt? Denke an die Generation unserer Eltern, hat sie nicht alles getan, um uns eine bessere Welt zu hinterlassen? Was hat die Elternseltern Generation gemacht? War sie nicht still und hat ihr Schicksal hingenommen, wie es kam? Es kam voll Hass und Tod und Trauer und Verlust. Hat sie das Land nicht aufgebaut, hat sie die Wirtschaft nicht angekurbelt? Ihr Leben war hart und voll von Sorge, Verzweiflung und Trauer um den kommenden Tag. Aber du, Erdenbürger, willst dein Haupt erheben, zwischen deiner Verschwendung und deiner Arroganz, willst auf den Boden spucken, den Boden, der als Fundament unserer heutigen Welt dient? Eine Welle von Scham und Selbsthass soll dich überrollen im Augenblick, in dem deine Selbstsucht  dich erdrosselt.
Wir leben in einer futuristisch angehauchten Welt. Wer vor 80 Jahren durch die Stadt der ehemaligen Habsburgermonarchie spazierte, der würde an der gleichen Stelle heute Aug‘ und Ohr verlieren. Wo einst Kutschen auf den Backsteinstraßen knirschten, brummen heute Mercedes und BMW über den Wiener Ring. Protzige Hotelanlagen, deren Namen an die alten Zeiten erinnern sollen, laden zum teuren Absteigen ein. Der Luxus wurde neu entdeckt, er wurde aufgezogen und ist nun groß geworden, größer als wir es je waren. Niemand muss heute mehr hungern in unseren Ländern. Europa hat zusammengefunden. Wo einst Hasstiraden gesungen wurden, finden sich Afrika-Workshops und Zelte zum Origamischwan falten. Ziel erreicht? Nur scheinbar. Denn in Wirklichkeit sind wir weiter davon entfernt als je zuvor. Warum, fragt sich der Bürger von heute. Wir haben doch alles was wir wollen, leben im Überfluss, jeder kann in einem Haus leben, na fast jeder. Wer konnte damals schon ein Haus mit Swimming Pool und Garten und Zwergen und Rutsche und Hollywood Schaukel haben? Natürlich, nur die oberen Zehntausend leisteten sich einen solchen Luxus. Aber braucht man einen Garten mit einem Haus darauf? Sind die Gartenzwerge tatsächlich notwendig, um ein sinnerfülltes Leben zu führen? Da ruft der neue Bürger „Das ist mein Recht!“. Wohl wahr, dein Recht zu tun was du willst. Aber willst du denn tatsächlich dein Leben mit solchem Unfug füllen? Die Selbstbestimmung scheint an den meisten Leuten zu scheitern – oder ist es umgekehrt?
Luxus ist ein wunderbares Wort – vor allem wenn wir seiner Bedeutung nachgehen. Da müssen wir nicht lange suchen: Luxus ist lateinisch und bedeutet Verschwendung. Da fällt die Maskerade des vermeintlich edlen Wortes! Wer möchte schon verschwenderisch sein? Doch genau das ist der Lebensstil, den die heutige Gesellschaft für sich anstrebt. Problematisch wird die Frage, wie eine Gesellschaft, bestehend aus unzähligen Individuen, monoton luxuriös leben könnte? Nein, das ging schon damals nicht, denn wer ein Buch in die Hand nimmt und in den Zeilen der alten Zeiten nachliest, wird finden, wovon ich spreche: Die antike Oberschicht, die Aristokratie. Diese Gesellschaft, ein stets eingekesselter, isolierter Teil der eigentlichen, lebte von den Mühen und auf Kosten der Bauern, Knechte, Arbeiter, Kaufmänner und Leibeigenen. Der Hof des Kaisers blühte prunkvoll auf, wenn die Ernte im Herbst verkauft und die Steuer vom Adel eingezogen war. Die Könige und Fürsten sind heute verschwunden, mit ihnen die missbrauchte Aristokratie und die Leibeigenschaft. Dennoch leben wir heute unter ähnlichen Umständen, wenn auch den Umständen entsprechend in anderer Quantität. Die heutigen Fürsten sind selten mehr geadelt, meist ist ihr Hof ein privates Gut. Sie leben abgeschieden von der Welt in ihrer eigenen, mit Personal und Golfplatz, eigentlich doch ganz dem alten Muster entsprechend. Dass der Mensch nichts dagegen unternehmen mag und von einer Ungerechtigkeit in die nächste schlittert, das mag wohl an seinem Egoismus liegen, der von unten nach oben verteilt. Wo sich dann einige Egoisten zusammenschließen, da entsteht eine Lobby, eine Gemeinschaft der Einzelnen, die alle ihrem eigenen, subjektiven Wohl nacheifern.
Das Jammerdasein seiner eigenen Unterdrückung wusste der Bürger von damals wie der heutig moderne ganz einfach zu verdrängen: Mit Brot und Spielen – zur Verfügung gestellt von der herrschenden Klasse, die sich damals wie heute eine Menge Geld, Leben und Mühe damit ersparte. Waren es in früheren Jahrtausenden blutige Kämpfe, die dazu nötig waren den niederen Instinkten des Kleinbürgertums zu gefallen, hat sich die Unterhaltungsindustrie einen neuen Streich erlaubt: Unterschichtsfernsehen. Die allbekannten Sender mit ihren „scripted reality shows“ bringen den Bürger von heute praktisch kostenlos auf seine Kosten. Das Brot liefern Fast-Food-Ketten billig und fettig, wie es der Gaumen der Unteren bevorzugt.  Während sie also gemütlich vor den Wohnzimmeraltären ihre neuen Götter anbeten, fressen sie Hormone und Giftstoffe aller Art und Konsistenz in sich hinein, um sich Tags darauf in der Arbeit über den Trott des Lebens zu beschweren. Die klebrige Ironie, die diese Gesellschaft zusammenhält, ist komplizierter als je zuvor. Jawohl, diese Welt ist kein Deut besser geworden, als man Demokratien ausrief, Sklaverei verbat, Leibeigenschaft abschuf und Diktaturen zerschlug – das Ungleichgewicht hat sich nur verlagert, nie wurde es tatsächlich bekämpft, geschweige denn besiegt.
Schon immer hat der Mensch versucht, einen Schuldigen für sein eigenes Übel zu suchen – nie jedoch hat er sich selbst getadelt. Stets waren es die anderen: mal die Adeligen, mal die Kaufleute, mal die Kommunisten, mal die Juden. Die Schuld scheint so vielfältig wie die Beschuldigten, nie jedoch nimmt sie die Gestalt der Realität an. Eine Schande für ein solch edles Geschöpf wie dem Menschen, einzigartig auf diesem Planeten. Der Mensch hatte den Fortschritt nur im Kollektiv bestritten. In der Gruppe war der Mensch immer stark. Ohne Zusammenschluss wäre der Mensch in der ostafrikanischen Savanne verreckt. In Gruppen wurde der Mensch auch gehalten, als er versklavt und verkauft wurde, denn die Kraft eines Einzelnen vermag nichts zu verändern. Die Pyramiden wurden von hunderttausenden Menschen gebaut, deren Stärke in ihrer Zahl lag. Hätte die Masse ihre Kraft für das eigene Wohlergehen eingesetzt, so wäre es anfangs eine Revolution, dann ein Aufstand, später aber eine Demokratie geworden. Ihre  Kraft wurde ausgenutzt, um der Geltung eines einzigen Pharaos zu dienen, ihm die Ewigkeit zu schenken. Das Prinzip widerspricht dem evolutionären Gedanken der Selektion. Aber dazu ein andermal.

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