Donnerstag, 15. Januar 2015

Die Klassenfahrt

 Viktor winkte aus dem Fenster. Der Bus war ohnehin schon hoch, aber da er im oberen Stock saß, wirkte sein Vater aus der Höhe noch viel kleiner. Von hier aus war sogar Papas Halbglatze zu erkennen, die er sich mit Müh und Not zurechtzukämmen versuchte. Doch die Zeit kannte keine Entschuldigungen und Erklärungen, und so schwanden seine Haare mit jedem Tag etwas mehr. Viktor, der sich nun seine kleine, blaue Jausenbox hervorgeholt hatte, die zwischen den Pullovern, Unterhosen und Mickey Mouse Magazinen versteckt war, bot Sophia eine Hälfte seines Butterbrotes an. Sophia, ein kleines, blondes Mädchen mit Sommersproßen um der Nase und daraufgesetzten Brillengläsern, die in einem lila Rahmen gefasst waren, saß in der Klasse direkt hinter Viktor. Sie verstanden sich gut und das obwohl Jungen und Mädchen prinzipiell nur untereinander zu tun hatten. Die Freundschaft zwischen den beiden wurde nur akzeptiert, weil Sophias großer Bruder einige Klassen über ihnen die gleiche Schule besuchte. Nicht, dass Bernhard den kleinen Wicht, der sich seiner Schwester immer mehr annäherte, sympathisch fand, aber jeder Schüler, der es versuchte, Sophia zu hänseln, war mit dem dicken Bernhard verfeindet. In der Schulhierarchie wäre das der soziale Tod eines jeden Zweitklässlers gewesen, und so akzeptierte man Viktor und Sophia als befreundete Schüler der Klasse. Er hielt ihr das Brot entgegen. Sie sah ihn an, nahm es schließlich zögernd und bedankte sich bei ihm mit einem kaum geltenden Lächeln. Die Motoren starteten, die dick bepolsterten Sitze vibrierten. In den hinteren Reihen begannen einige Kinder zu lautieren. Herr Reichert, der Klassenvorstand der 2B, hielt seinen Zeigefinger fest gespreizt auf die Lippen. Sein lautes, langgezogenes "Pscht" übertönte alle Gespräche des Busses und erstickte sie in seinem schrillen Keim. Mit hochgezogenen Augenbrauen und weit aufgerissenen Augen, mit denen er wie eine Eule aussah, hielt er eine Ansprache, in der er die Reife seiner Schüler und die Dringlichkeit ihrer Verantwortung erwähnte. Viktor sah ein letztes Mal zu seinem Vater, der ihm heftig zuwinkte. Bald war der Bus an die Ecke gerollt, wo er auf die Hauptstraße abbog, um dann auf der Autobahn in Richtung Westen weiterzuziehen. Viktor atmete tief ein. Ein letzter Blick vermittelte dem Papa Hoffnung auf ein baldiges, erfreutes Wiedersehen.Doch in erster Linie freute er sich auf die bevorstehenden Wochen, die wichtigsten Wochen seines bisherigen Schullebens. Die Sommerwochen.
Der Schulbus war nach einer genauen Sitzordnung geregelt. Sie war nicht ausgesprochen und doch still vereinbart, instinktiv vorgegeben. Je weiter hinten man saß, desto angesagter galt man in der Klasse. Also saß ganz vorne die Lehrerschaft, die sich unbewusst und doch ganz richtig in die Ordnung einfügte. Dahinter saßen die Streber, Harald und Phillip, deren Zeitvertreib es war, sich mit Büchern über die Sumerer und Babylonier zu beschäftigen. Sie galten als akzeptiert, auch wenn man oft über ihren flachen Humor, in dem sie sich kryptisch unterhielten, witzelte. In der Reihe hinter ihnen saßen Laurenz und Sebastian. Sie waren die Sorgenkinder der Klasse, da sie beide Probleme hatten, sich Bekanntschaften und Freunde zu schaffen. Da sie aber in ihrer Situation nicht allein waren und sich inmitten der Gemeinschaft gefunden hatten, fanden sie Glück im Unglück. Zwischen ihnen und Viktor befand sich die Mädchengruppe, über deren genaue Formation er sich auch nach zwei Jahren noch nicht ganz klar war. Elisabeth, von der Klasse liebevoll Liserl genannt, war das schönste Mädchen der Klasse, viele sagten gar der ganzen Unterstufe. Eine warme, vertraute Aura umgab ihre schöne Gestalt, und so war sie der geheime Schwarm unzähliger Schüler. Viktor konnte kein Interesse an ihr entdecken und wusste bereits am ersten Schultag, dass sie der zukünftige schöne Schwan der kommenden acht Jahre sein würde. Er hegte eine Unlust an Allerweltsdingen. Er interessierte sich seitdem er denken konnte für alternative Lebenswege. Als seine Eltern ihm vor einigen Jahren Pinsel und dazugehörige Farben gekauft hatten, um die Kreativität ihres Sohnes zu fördern, malte Viktor den Parkettboden in verschiedensten Rottönen an. Die Blätter aus Kartonpapier aber blieben blank. In den beiden letzten Reihen, direkt hinter Viktor und seiner blonden Sitznachbarin, saßen die coolen Burschen der Klasse. Unter ihnen Florian, ein schwarzhaariger Kerl mit grünen Augen und blassem Teint. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Schneewittchen, wahrscheinlich wäre er die perfekte männliche Version von ihr gewesen. Er war der Schönling der Klasse, das Alphamännchen. Um ihn herum sammelte sich eine Gruppe von menschlichen Kletten, die durch Florians Licht zu strahlen versuchten, doch ihr Versuch war immer schon zum Scheitern verurteilt. So saßen sie um ihn herum und unterhielten ihren kleinen Fürsten.
Stunde um Stunde verging, bis der Bus ans Ziel gekommen war und Herr Reichert um die Aufmerksamkeit seiner Schüler bat. Während Harald und Phillip, die beiden Streber, vom Vorstand gerne fleißige Schüler genannt, gespannt auf die Ansprache warteten, war Florians Gehabe durch das Geschnatter der Mädchen nicht zu hören. Sekunden vergingen, in denen Herr Reicherts Ader an der Schläfe immer schneller und deutlicher pochte, bis er aufschrie. Es war ein gellender Schrei. Die Kinder erstarrten. Selbst der übergewichtige Busfahrer sah den Lehrer mit verwunderter Mine an. "Meine Lieben!", rief der Lehrer bis ans Ende des Busses. "Wir sind nun in Bad Neustadl. Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter, das Gepäck wird ins Ferienlager geschickt." Die Schülerschaft, ein jeder für sich, und doch alle zusammen, packte den Rucksack und schnallte ihn um den Rücken. So ging einer nach dem anderen in geduckter Haltung aus dem Bus. Frischluft. Es roch nach Pferdemist und Düngemittel. Florian, dessen Rucksack von seinem größten Schergen, Raphael, getragen wurde, lehnte seinen Kopf in den Nacken und verzog seine wulstigen Lippen. Wie aufs Kommando beschwerten sich seine Jünger. "Boah, riecht ihr diesen Dreck?", fragte Raphael in die Gruppe. "Ja, ist wirklich krass ekelig.", bestärkte ihn Lukas, beide die Blicke auf Florians wegweisende Mimik gerichtet. Vom anderen Ausgang des Busses, einige Meter entfernt, dröhnten laute Buh-Rufe und uneifes Lachen. Auch die Mädchengruppe beschwerte sich über den Duft der Natur. Einzig und allein Sophia verzog keine Mine, als sie ausstieg. Sie sah Viktor an, schielte aber in den Augenwinkeln zu den Zicken hinüber und schmunzelte ihre Schadenfreude in seine Richtung. "Das riecht wie bei meinem Onkel.", flüsterte ihm das blonde Mädchen ins Ohr. Er lächelte. Sie wusste, was er für sie empfand. Beide wussten, was sie füreinander empfanden, und doch traute sich keiner der beiden über den eigenen Schatten. Sie gingen zu Herrn Reichert, der einen roten Regenschirm in die Luft hielt. Von Florians Ecke kam eine herablassende Bemerkung. "Schirm im Sommer, dem regnets in den Kopf."

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