Beim
Supermarkt an der Ecke. Ein feiner Geschäftsmann, die Blüte seiner Jugend
gerade eben verlassen, telefoniert an der Wursttheke. Sein Blick ist starr auf
die gebratene Putenbrust aus Fleischstücken gerichtet, von der er „a bisserl was“ bestellt hat. Im Telefon
ertönt, unschwer zu überhören, ein Mann mit lautem Sprechorgan. Man hört seine
Anweisungen sicherlich einige Meter weit, wo auch die Frau von der Theke an der
Schneidemaschine steht und im monotonen, immergleichen Rhythmus die Putenbrust herunter
blättert. Der junge Herr windet sich sichtlich aus einem Schlamassel, in das er
wohl aufgrund einer Verspätung geraten ist. Immer wieder verzieht er seinen
breiten Mund und bleckt seine gebleichten Zähne während er durch sie die
sauerstoffarme Luft einzieht. Dann aber passiert es! Er hebt seinen rechten
Arm, winkelt ihn ab, blickt auf die teure Uhr. Seine Stimme ertönt zum ersten
Mal in diesem Gespräch. „Jo, Peter. I hab ja gsagt, ich beeil mich. Aber i hab
viel Zeit verloren.“ Der Mann hat, ich wiederhole es ausdrücklich, Zeit
verloren. Das macht ihn um einiges sympathischer. So nehme ich meine bestellten
Semmeln und bedanke mich mit einem zufriedenen Lächeln bei der Frau an der
Theke.
Zurück in
den engen Gassen der Altstadt versuche ich dem Wortlaut zu folgen. Immer wieder
huscht mir der Satz durch den Kopf. „Aber i hab viel Zeit verloren – Zeit verloren.“
Wenn man Zeit verliert, dann muss man Zeit erst einmal besitzen. Warum verliert
man so etwas? Wenn man nicht genug darauf aufpasst, wohlmöglich. Oder aber weil sie herausgefallen war, aus der Tasche oder vielleicht aus einem Beutel – einem Zeitbeutel.
Ich blicke in meine Hosentaschen, finde keinen Beutel, der die Zeit aufbewahrt.
Eigenartig. Man sagt doch auch, dass einem die Zeit gestohlen wird. Das ist es!
Auf den Straßen machen Zeitdiebe das Leben der Menschen unsicher. Aber wo sind
diese Diebe – wie sehen sie aus – und vor allem: Wie stehlen sie denn die Zeit,
wenn sie nicht verwahrt ist? Fragen über Fragen häufen sich in meinem Kopf an,
als ich an einem kleinen Tischchen vorbeikomme, an dem ein Hütchenspieler hockt
und sein Spiel mit einem der Passanten treibt. Fasziniert sehe ich seinen
schnellen Bewegungen zu. Immer wieder schafft er es, den kleinen Ball unter
einem der Hüte zu verstecken. Der Passant, ein kleiner, dicker Mann in Anzug
und Krawatte, sieht den Spieler verärgert an. Er hat ihn wohl ausgetrickst,
darüber ist er sich bewusst – zum Beweis fehlt jedoch jede Spur. Ich sehe auf
die Uhr – mein Atem stockt. 20 Minuten verloren! Wie ist das passiert?
Vielleicht hat sie wer eingesteckt, als ich nicht aufgepasst habe? Aber, nein
es ist wohl zu spät, ich sehe niemanden mit zu viel Zeit. Zu viel Zeit, kann
man das haben? Ist Zeit so etwas wie Geld, kann man genug davon haben – ist man
dann unabhängig?
Mein Kopf
schmerzt bei solcher Gehirnakrobatik. Wie viel Zeit bleibt mir wohl noch? Was ist,
wenn sie aufgebraucht ist? Völlig verstört komme ich an einem alten Brunnen an.
Das Wasser läuft aufgrund der kalten Jahreszeit nicht mehr und so sitzen allerhand
Menschen nebeneinander am Rand des Wasserbeckens. Ich setze mich auf die
Steinkante. Spanische Studenten witzeln mit großzügiger Gestik um die Wette.
Ich verstehe nur ein paar Brocken, mein Spanisch ist wohl nicht mehr das Beste.
Es ist schon einige Jahre her, als ich Spanisch lernte, das war wohl am
Gymnasium. Nach einiger Zeit der Ruhe setzt sich ein alter Mann zu mir. Sein
grau-schwarzer Wollmantel scheint sauber und gepflegt, seine Brille ist in
einem Zinnrahmen gefasst. Er zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch
in weitem Bogen aus. Dann blickt er zu mir und sieht mich von der Seite an. „Junger
Herr“, spricht er. „Haben Sie eine Sekunde Zeit?“ Fassungslos streift mein
Blick ins Leere. „Ich weiß es nicht.“, antworte ich.
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