Donnerstag, 8. Januar 2015

Das Geheimnis des Waldes

Wenn der Schnee liegen bleibt und sich kleine Hügellandschaften bilden, dann kommen Zwerge an die Oberfläche und bauen kleine Höhlen mit unendlich vielen Gängen, Zimmern, Palästen und sogar Städten unter die Schneedecken. So stellte sich das der kleine Wilhelm vor, wenn er jeden Tag um halb drei Uhr Nachmittags den langen Weg von der Volksschule zurück nach Hause nahm. Er liebte diesen Weg und obwohl er immer allein gehen musste, da das Familienhaus abseits des Dorfes lag, freute er sich auf den einsamen Spaziergang, auf dem seine Phantasie blühende Geschichten erzählte. Am liebsten jedoch hatte Willi, das war sein Spitzname in der Schule, den Winter, wenn Eiszapfen an den Tannenzweigen wie lange Stifte herunterhingen und die Spuren der Wildschweine, die sie in der Nacht hinterließen, die Trampelpfade in den Wald zeigten. Wenn er die Hälfte des Weges geschafft hatte, brach in den dunklen Wintertagen die Dämmerung ein und bis er endlich daheim ankam war es bereits ganz finster geworden. Der Abend hatte etwas magisch schönes in diesen Stunden.
Auch an diesem Januartag verabschiedete sich Wilhelm von seinen Klassenkameraden, wünschte der Lehrerin einen guten Tag und machte sich auf den Weg durch den Wald. Die ersten Schritte führten über eine Steigung, die dann in einem ebenen Weg überging. Von hier aus sah man links und rechts Nadelbäume, deren dürre Stämme sich zu einem dichten Wald zusammenschloßen. Der Kiesweg war ein hauchdünner Grad durch den Wald, eine Grenze von Nord nach Süd, der sowohl von Mensch als auch Tier begangen wurde. Einige Meter in den Wald geschlichen, verdunkelte sich das Licht, das die Baumkronen auffingen. Die Luft wurde rein und frisch. Wilhelm packte seinen Schulranzen fest an seinen Rücken und atmete die Waldluft ein. Mit tiefen Zügen schloß er die Augen und genoß die Ruhe, die ihn willkommen hieß. Wilhelm kannte den Wald sehr gut und der Wald schien auch ihm freundlich gesinnt zu sein. So mancher Hirsch begegnete ihm schon auf seinen Wegen, als würde er ihn aus sicherer Ferne beobachten. Eine stille Freundschaft verband Willi mit dem Wald, dessen Anziehungskraft ihn nicht loszulassen schien. Oft erwischte er sich dabei, wie er den Bewohnern seine Probleme und Geheimnisse erzählte und auf eine leise Antwort wartete. Dann aber befahl er sich selbst etwas mehr Disziplin und Verstand, wie es sein Vater immer wieder sagte. Dass Willi oft zu solcher Tagträumerei aufgelegt war, tadelte sein Papa oft an ihm. Seine Lehrerin erkannte darin eine blühende Fantasie, die es auszuleben galt. Sie sei die Triebwerk jeder Kunst. Der Vater sah aber nur Firlefanz, der in Faulheit und Schwachsinn ausarten würde. Was Wilhelm dazu sagte, schien niemanden zu interessieren.
An diesem Nachmittag schien die Luft besonders rein und frisch. Bis auf einen kleinen Bach, der sein kühles Wasser plätschern ließ, war es komplett still im Winterwald. Willi hatte Durst, also ging er in Richtung des Wassers. Er fand den Bach nicht sofort, da der unter bewachsenen Moosdecken versteckt und nur zu hören war. Nach kurzem Suchen war der kleine Bursch bereits am Trinken. Hastig machte er tiefe Züge und größe Schlucke. Das Wasser war eisig kalt, doch sein Geschmack ließ Willi nicht los. So trank er sich den Magen voll, der ihm die Kälte jedoch nicht zu danken wusste. Als er sich sattgetrunken hatte, setzte er sich nieder und öffnete seinen Ranzen. Vorsichtig holte er ein Stück Apfel hervor, den seine Mutter am Morgen vorgeschnitten hatte. Mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht legte er das Stück neben den Bach. "Danke", flüsterte er leise, während er ehrfürchtig in den tiefen Wald sah. Dann stand er auf und begab sich weiter auf seinen Weg. Der Himmel hinter den Baumkronen schien bereits dunkelrot über Wilhelms Kopf. Er würde sich verspäten. Seine Beine legten ein schnelleres Tempo zu und sein Körper nahm eine gekrümmte Haltung ein, um das Gewicht der Schultasche besser verteilen zu können. Der Atem ging tief und laut. Kleine Aststücke zerbrachen unter seinen festen, braunen Winterstiefeln, die er vor einigen Wochen erst von Onkel Alfred geschenkt bekommen hatte.
Wilhelm hielt inne. Sein Atem stockte und er und horchte genau in den Wald. Ein Geräusch machte ihn aufmerksam. Da! Da war es wieder! Ein leises Rufen, als wäre es fern. Doch Wilhelm konnte hören, dass es ganz nah war und so blickte er verwirrt um sich. Als er sich zum zweiten Mal umdrehte, und ein "Hier" ganz deutlich hören konnte, wollte er seinen Augen nicht glauben. Kaum zwei Meter vor ihm, auf einem hellgrünen Mooskissen saß ein Männlein, zwei Daumen hoch, einen Daumen breit. Eine rote Zipfelmütze hing ihm schief ins Gesicht. Der plumpe Körper war in eine ebenso rote Latzhose gepackt an dessen unteren Enden winzige, schwarze Schuhe heraussahen. Er winkte Willi zu und rief noch immer "Huhu!". Mit offenem Mund ging der Junge ein, zwei Schritte hervor, blieb dann vor dem Kerlchen stehen und beugte sich in seine Richtung. "Na endlich!", sagte das Männlein mit tiefer, leiser Stimme. "Dachte schon, du siehst mich nie.", sagte er mit verschmitztem Lächeln im Gesicht. Wilhelm aber bekam seinen Mund nicht zu und sah ihn weiter verwundert an. "Na, jetzt entspann dich doch erst einmal. Ich dachte du wüsstest von uns Bescheid.", sagte der kleine Mann. Dann hielt er ihm die Hand entgegen und brummte: "Ich bin Janosch. Stellvertrender Waldmeister der Zwerge hier im Wald. Mein Bruder, Bernhard, ist gerade auf Besuch in den Süden gezogen, deswegen verwalte ich hier alles Organisatorische." Willi, der jegliche "Disziplin und Verstand" verloren hatte, gab dem Zwerg die Hand. "Willi", hauchte er leise. Janosch nahm seinen Daumen in beide Hände schüttelte sie in kleinsten Bewegungen so fest er konnte. "Es freut mich, dich kennenzulernen. Weißt du, wir sehen viele Menschen durch unseren Wald spazieren. Zumeist ignorieren sie uns, was sie natürlich erwidert bekommen. Manche aber werfen ihren Abfall in unsere Wohnungen, zerstören unsere Straßen und Gänge, schneiden den Bäumen die Äste ab und machen anderen Unfug. Ich möchte dir, im Namen aller Waldbewohner, für deinen Respekt danken." Ein ehrliches Lächeln machte sich in dem Zwergengesicht breit, dessen Backen nun zu dicken Beulen hochgezogen wurden. Wilhelm beruhigte sich allmählich. "Waldmeister? Janosch? Waldbewohner?", sagte er verständnislos. "Ich wusste nicht, dass ihr wirklich existiert. Vater sagt ihr -", da unterbrach ihn der kleine Herr mit einem lauten Brummer. "Was die Leute sagen, sollen sie sagen. Du aber, mein lieber Wilhelm, bist ein guter Mann! Du teilst nicht nur deine Sorgen mit uns, auch dein Essen überlässt du den hungrigen Bewohnern des Waldes. Wir haben seit langer, langer Zeit keinen so herzlichen Menschen begrüßen dürfen. Das ist der Grund, warum man uns als Fabelwesen abtun möchte. Wir halten uns von respektlosen Leuten fern. Wer hat denn heute noch Respekt vor uns?" Seine Augen schauten traurig in den Wald und blieben an einer dicken, alten Tanne stehen. "Ich freue mich über deine Worte.", sagte der kleine Bursche. "Aber mein Vater wird böse, wenn ich länger -." Janosch lachte leise auf. "Jaja, dein Vater.. Nun, mach dich auf den Weg! Erik, unser ältester Hirsch, wird ein Auge auf dich werfen, damit du problemlos nach Hause kommst." Als Wilhelm hinter sich sah, bemerkte er tatsächlich einen großen, prächtigen Hirsch, der auf ihn zu warten schien. So verabschiedete sich der Junge vom Zwerg und ging seinen Weg durch den alten, stolzen Wald, der sein großes Geheimnis mit dem kleinen Willi teilte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen