Freitag, 9. Januar 2015

Schwendling

Die Straße lag unweit vom Badesee, in dem ich einmal beinahe ertrunken war. Fast zwanzig Jahre vergingen, bevor ich sie wieder betrat und deren fausttiefen Schlaglöcher, die wie einst das Fahren erschwerten, laut verfluchte. Keiner schien sich um sie zu kümmern, da die Jungen alt und die Alten tot geworden waren. Die Zeit hatte diesen Ort nicht verschont, sie schien ihn doppelt und dreifach verflucht zu haben. Bis auf einige alte Frauen, deren Männer gestorben und Kinder weggezogen waren, fanden sich nur mehr ein Schäfer, ein alter Bauer und eine junge Schriftstellerin im Ort wieder. Während der Schäfer hier genug Platz für sein Getier hatte und der Bauer dem Alkohol verfallen war, fand die junge Frau an diesem Ort genau, wonach sie ihre gesamte Jugend gesucht hatte. Es war nicht das leise Krähen der Raben bei der Morgen- und Abenddämmerung. Oder die Pferdekutschen, die nach alter Tradition durch das verlassene Dorf fuhren. Man könnte meinen, dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit liebte, die sie jedoch schon in der Stadt gefunden hatte. Nein, es war die geheimnisvolle Vergangenheit dieses Dorfes, das vor langer Zeit ein belebter und beliebter Ort gewesen war, die sie so faszinierte. Viele Kriege hatte es überstanden, viele Fürsten hatte es ernährt. Doch im Laufe der Zeit fand das, was einige Leute das Schicksal nannten, einen Weg diesen Ort, der trotz seiner hellen und freundlichen Seite ein finsteres Geheimnis in sich barg, zu vernichten. Keiner wurde von diesem gelenkten Treiben verschont. Selbst mein Großvater, einst Bürgermeister des Dorfes, in dem meine Familie seit Generationen aufwuchs und alt wurde, fand keinen Frieden, bevor er den unheimlichen Ort verließ. Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war.
Damals hieß es, dass die Kinder meines Jahrganges in Schwendling besonders gute Schüler wären. Kaum jemand hatte eine schlechtere Note als ein Gut und tatsächlich schien niemand größere Probleme beim Lernen zu haben. Ich war kaum 8 Jahre alt, da kam meine Mutter wie jeden Tag vor die Schule, um mich abzuholen. Diesen Tag jedoch war alles anders. Sie hatte immer lange, luftige Röcke getragen, die mit schönen, bunten Blumenblüten bestickt waren. An diesem Tag jedoch waren keine Blumen auf ihrem Rock. Auch das Lächeln vermisste ich in ihrem schönen, jungen Gesicht. Stattdessen sah ich Tränen die geröteten Backen herunterfließen. Sie waren schnell und flogen allesamt auf den schwarzen Mantel, den sie trug. Ich kann mich an den Wind erinnern, der besonders stark wehte und ihre Haare umhertrug, von links nach rechts und zurück. Die Luft war von Mandeln und Kastanien erfüllt. Während alle Kinder die Hand ihrer Mutter oder ihres Vaters nahmen und mit einem beruhigten, nach oben gerichteten Mundwinkel nach Hause gingen, stand meine Mutter reglos da. Ihre Augen sahen durch mich hindurch. Ich rief sie, stupste sie an, doch sie reagierte eine Weile nicht. Erst nach einigen Sekunden der Unruhe, kurz bevor ich angstvoll zu weinen begonnen hätte, begrüßte sie mich. Sie sah mich keine Sekunde dabei an, nicht einmal einen Blick schenkte sie mir. Ihre Worte waren kühl und fremd. "Wir gehen jetzt nach Hause.", sagte sie. Meine Lungen schienen sich zusammenzuziehen, als ich ihre Worte vernahm. Was war geschehen? War meine Mutter böse auf mich? Ich atmete tief und verkampft ein und wieder aus. Im Auto fragte ich sie nochmals was denn geschehen sei. Doch meine Mutter war weiterhin eine Fremde und reagierte nicht auf mein Bitten und mein Betteln. Dass Onkel Augustin nun verstorben war, erfuhr ich dann erst, als wir zu Hause angekommen waren. Es war auch für mich eine harte Sache gewesen. Ich weinte den ganzen restlichen Nachmittag. Eine Weile in den Armen meiner Mutter. Wir weinten gemeinsam. Als die Dämmerung eintrat, ging sie ohne ein Wort der Verabschiedung in ihr Zimmer. Die Nacht war still und kalt. Ich schlief nicht.
Am nächsten Tag telefonierte meine Mutter mit meiner Großmutter, die unweit von hier lebte. Schwendling war kein großer Ort, obwohl viele Familien ihre Sommerhäuser hierher gebaut hatten, kamen sie nur selten. Seit einem Jahr aber, vermehrten sich die Unfälle drastisch. Was anfangs nur vereinzelt und ohne Verstrickungen passiert war, schien nun eine Gefahr für jeden Bewohner des Dorfes zu sein. Als die Mutter den Telefonhörer auflegte, sagte sie ohne jeglichen Funken Lebensfreude: "Wir werden umziehen. Pack deine Sachen. Morgen ziehen wir zur Oma Margarete." Sämtliche Fragen nach dem Grund oder der Dauer unseres Umzuges wurden eiskalt ignoriert. Tatsächlich fiel mir das Einräumen der Kartons nicht leicht. Ich hatte nur zwei mittelgroße Schachteln bekommen, die wir ins Auto verfrachten konnten. Den Rest, so sagte sie, müsse ich hinterlassen. Es war in der Tat ein fluchtartiger Umzug, dessen Grund ich erst nach langer Zeit verstanden hatte. Man las in der Zeitung von vermehrten Unfällen, erhöhten Krankheitsrisiken. Menschen hingen sich im Wald auf, zündeten ihr Haus an und verschwanden so mitsamt ihrer Familie.
Warum, das ist mir selbst jetzt, wo ich vor der alten Ruine unseres Hauses stehe, noch immer nicht klar. Nach 10 Jahren verfiel Schwendling vollkommen und galt als verlassenes Geisterdorf. Erst vor wenigen Jahren beschlossen die wenigen Leute zurück in ihre Häuser zu ziehen. Ich spüre, dass dieser Ort keinen Zufall zulässt.

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