Freitag, 5. Juni 2015

In Trümmern - Teil 2

Michael betrat den Dom. Im Inneren schien es wie in alten Zeiten – das große Gitter versperrte den Weg zu den Betbänken, Jesus betrachtete die arbeitenden Männer vom Kreuz aus, und Friedrich III. schlummerte in seinem kaiserlichen Sarg auf vergessene Zeiten. Bis auf die zersprungenen und zum Teil völlig zerstörten Glasfenster brachte der Anblick im Inneren des Domes beinahe Hoffnung in die Augen der Betrachtenden. Michael begrüßte Frederick, den Baumeister des neuesten Projekts. Von allen nur Freddy genannt, war er der älteste von allen, die am Projekt im Dom arbeiteten. Ursprünglich aus Norddeutschland, hat sich Frederick an der technischen Universität für Maschinenbautechnik eingeschrieben – zum tatsächlichen Studium kam es dann jedoch nie."Na, gut geschlafen?" fragte er mit festem Handdruck. "Wunderbar, hatte eine Nachtdusche." sprach Michael grinsend. "Ah verstehe." sagte Freddy und blickte auf seine durchnässte Hose. "Also hör zu", fuhr er fort, "Heute müssen wir das Gerüst fertig haben. Die Männer haben 47 Metallstäbe gleicher Art gefunden und hierher gebracht. Die bearbeiten der Hans und der Max gerade. Wenn die zurechtgebogen sind, bauen wir den Vogel zusammen." Michael blickte zu Hans und Max, die die Eisenstangen am Amboss bearbeiteten und winkte ihnen einen schönen Tag. Sie blickten auf und winkten ihm lächelnd zurück, bevor sie weiterarbeiteten.

In einem Krieg wie diesem existierte Neutralität nicht mehr. Die Klauseln und kleingedruckten Absätze verschiedenster Verträge, die in Friedenszeiten halbherzig, ja wenn nicht ungelesen unterzeichnet wurden, zwangen das Land bei der internationalen Aufrüstung teilzunehmen. Friedliche Proteste der Bevölkerung wurden durch Propaganda und Einschüchterung, Medien und Politiker als aussichtslos und reine Zeitverschwendung abgetan. Nachdem die Fronten geklärt waren, wurden zunächst wehrpflichtige Väter und Söhne nach Rumänien, Polen, Spanien und Schweden beordert. Der traurige Abschied auf ewig schien anfangs noch als "reine Sicherheitsmaßnahme" in den Zeitungen auf.

Im Dom herrschten angenehme Temperaturen, während auf den Straßen immer mehr Menschen durch Kreislaufprobleme und Unterernährung unter der glühenden Sonne zusammenbrachen. Wasser war rar, denn seitdem die Hochquellwasserleitungen zerbombt wurden, ließ die Regierung in der Hauptstadt alte Brunnen neu ausheben, die seit über 300 Jahren verschlossen waren. Dementsprechend war das Wasser unrein und verursachte Durchfall, Brechreiz und Kopfschmerzen. Einen halben Liter sauberes Wasser bekam jedoch jeder Bürger der Stadt bei der täglichen Essensvergabe. Diese eisernen Reserven gingen jedoch schön langsam aus und so wurden die Menschen immer verzweifelter und wütender.
Michael ging zu Hans, der sich neben dem Amboss eine kurze Verschnaufpause gönnte und schlug ihm einen freundschaftlichen Stoß auf den Rücken,: „Na, wie sieht’s aus, schaffen wir es bis zum Adlerhaus?" Hans rauchte den letzten Zentimeter seiner Zigarette in einem Zug, zuckte mit den Achseln und blies den Rauch aus seinen Lungen. "Michi, ich habe keine Ahnung. So wie das hier aussieht, kommen wir keine 50 Meter mit dem Vogel. Das Material ist zu steif, für einen Gleitflug sind die Flügel falsch konstruiert. Aber der Frederick sitzt lieber auf seinem fetten Arsch, als dass er sich an dem Projekt beteiligt. Das Problem an der ganzen Sache ist, dass wir keine ausgebildeten Fachkräfte hier haben. Ich war Gärtner, der Freddy hat gerade mal Abitur und Max war Langzeitalkoholiker. Michael erwiderte mit einem Lächeln, während Hans seine Zigarette auf den Fließen ausdrückte. "Mathematiker, Physiker, Piloten, solche Leute brauchen wir. Aber die sind ja alle im Osten verreckt. Uns bleibt nur der Rest, der für den Krieg nicht gut genug war. Traurige Wahrheit." Michael biss sich auf seine Unterlippe, blickte durch den Raum und stimmte nickend zu. "Ich kann euch bei Berechnungen der Flugbahnen auch nicht helfen, aber ich habe zwei Hände. Ich hab‘s euch versprochen, ich komm und helfe euch. Also, was kann ich tun?" Hans deutete ihm zu Max. "Er braucht Hilfe beim Löten. Erklär einem Trinker doch einmal wie man lötet. Nachdem er sich die Hand dreimal verbrannt hat, bin ich erst einmal eine rauchen gegangen. Der Typ hat hier nichts zu suchen, wenn du mich fragst." Michael sah ihn an, zwinkerte ihm zu und sagte: "Wer hat das schon? Ich probiere mein Bestes."

Krakau, Kiew, Bukarest, Stockholm und Helsinki waren die militärischen Starkstützpunkte der Union. Von hier aus wurden Lang- und Kurzstreckenraketen geschossen, verteidigt und angegriffen. Das erste Kriegsjahr verlief nach Brüssels Plänen. Der Westen wurde stabilisiert, der Süden bis Kairo erweitert und der Osten in einen internationalen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Soldaten wurden gut behandelt, Ingenieure und Mathematiker vor Ort verdienten ein Vermögen. Der Feind schien bis nach Moskau zurückgedrängt und hatte mit den Vereinigten Staaten und Japan zu kämpfen. Ein gewonnenes Kriegsende wurde in allen Hauptstädten der Union vorbereitet, und die Straßen füllten sich mit glücklichen Frauen und Kindern, die ihre Väter, Söhne, Brüder und Onkels bereits sehnsüchtig erwarteten.

Max war bereits am Ende seiner Geduld als Michael sich zu ihm stellte. Zittrig hielt er den Stahlstab in der linken Hand, um ihn mit dem Lötkolben in der rechten zu bearbeiten. "Max, was hältst du von einer kurzen Pause? Ich weiß, wir haben Zeitdruck, alles scheint aussichtslos und eigentlich sollten wir alle nach Hause gehen und auf unser Ende warten. Aber eine kurze Zigarettenpause würde doch genügen, oder?" versuchte Michael den sichtlich überforderten Mann zu beruhigen. Nachdem er ihn mit bösem Blick ansah, sein Kinn nach vor schob und seinen Kopf ungläubig schüttelte, stand Max auf, holte sich eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie sich an. "Willst auch?" fragte er Michael entnervt. "Nein, danke. Hab aufgehört." erwiderte er. "Auch gut", sagte Max und blieb wortlos sitzen.

Als Japan nach knapp 8 Monaten kapitulierte, blickte die Großmacht aus dem Osten in Richtung Europas. Während die siegesberauschte Bevölkerung der Union einen Angriff verlangte, wandten sich die Politiker und Generäle verschreckt an die Vereinigten Staaten, um militärische Unterstützung zu erbitten. Dass die Armee solche Gewinne verzeichnen konnte, wurde nicht ihren militärischen Leistungen, eher aber ihrer diplomatischen Teilnahmslosigkeit gutgeschrieben.

Es war bereits dunkel geworden. Michael ging die Kärntner Straße entlang, an der er bereits am frühen Morgen zum Dom marschiert war. Die Familien waren in die freien Geschoße zurückgekehrt und aßen gemeinsam oder erzählten sich Geschichten an einem kleinen Lagerfeuer, um sich das Essen gar zu machen. Es lag eine ruhige, entspannte Stimmung in der Luft und beinahe konnte man meinen, eine neue Zeit würde anbrechen. Doch Michael wusste, dass die Arbeit die sich die Bürger der Stadt antaten mehr Schein als Sein bedeutete. Denn ohne ausreichend Nahrung, Kraft und Männer in Wien würde die Arbeit noch Jahre dauern. Verbindungen zum nächsten Bezirk waren nur persönlich möglich, da das Telefonnetz komplett zerstört wurde. Somit war Kontakt zur Außenwelt ausgeschlossen und selbst in ferner Zukunft noch weit entfernt.

Nachdem Kiew verloren war und Helsinki unter massiven Beschuss eingenommen wurde, erblickte die Bevölkerung der Union das erste Mal die wahren Gesichter des Krieges. Kinder wurden verschleppt und vergewaltigt, Frauen auf Bäumen aufgehängt oder zu Tode geprügelt. Von dem Gefühl der Überlegenheit war in den Augen der Opfer nichts mehr zu sehen. Ein grauer Nebel der Trauer und der Angst machte sich über Europa breit – und gerade im Herzen des Kontinents war die Panik ausgebrochen. Der Großteil der eingerückten Männer war in den Brennpunkten der Gefechte stationiert und eine Chance auf ihre Heimkehr aussichtslos gering.

Michael schlug die Augen weit auf. Eine Hand packte ihn an seiner Schulter, während eine andere ihm den Mund zuhielt.

Am 28. September unterschrieb der Präsident das Dokument, welches das Genick seines Volkes brechen sollte. Die Union zwang jedes Mitglied seine Nationalarmee und sämtliche Reservisten an die Unionsarmee zu überstellen - auf Gedeih und Verderb der Bevölkerung. Mit 39 Millionen Mann war genügend Kanonenfutter gefunden, um die ohnehin schon verlorenen Städte und den Krieg für einige Monate zu halten. Während die Propagandamaschine auf Hochtouren lief, ließen der Präsident und sein Kabinett die Koffer packen, um im Falle des Schlimmsten möglichst schnell aus dem Lande fliehen zu können.



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