Michael betrat den Dom. Im
Inneren schien es wie in alten Zeiten – das große Gitter versperrte den Weg zu
den Betbänken, Jesus betrachtete die arbeitenden Männer vom Kreuz aus, und
Friedrich III. schlummerte in seinem kaiserlichen Sarg auf vergessene Zeiten.
Bis auf die zersprungenen und zum Teil völlig zerstörten Glasfenster brachte
der Anblick im Inneren des Domes beinahe Hoffnung in die Augen der
Betrachtenden. Michael begrüßte Frederick, den Baumeister des neuesten
Projekts. Von allen nur Freddy genannt, war er der älteste von allen, die am
Projekt im Dom arbeiteten. Ursprünglich aus Norddeutschland, hat sich Frederick
an der technischen Universität für Maschinenbautechnik eingeschrieben – zum tatsächlichen
Studium kam es dann jedoch nie."Na, gut geschlafen?" fragte er mit
festem Handdruck. "Wunderbar, hatte eine Nachtdusche." sprach Michael
grinsend. "Ah verstehe." sagte Freddy und blickte auf seine
durchnässte Hose. "Also hör zu", fuhr er fort, "Heute müssen wir
das Gerüst fertig haben. Die Männer haben 47 Metallstäbe gleicher Art gefunden
und hierher gebracht. Die bearbeiten der Hans und der Max gerade. Wenn die
zurechtgebogen sind, bauen wir den Vogel zusammen." Michael blickte zu
Hans und Max, die die Eisenstangen am Amboss bearbeiteten und winkte ihnen
einen schönen Tag. Sie blickten auf und winkten ihm lächelnd zurück, bevor sie
weiterarbeiteten.
In einem Krieg wie diesem
existierte Neutralität nicht mehr. Die Klauseln und kleingedruckten Absätze
verschiedenster Verträge, die in Friedenszeiten halbherzig, ja wenn nicht
ungelesen unterzeichnet wurden, zwangen das Land bei der internationalen
Aufrüstung teilzunehmen. Friedliche Proteste der Bevölkerung wurden durch
Propaganda und Einschüchterung, Medien und Politiker als aussichtslos und reine
Zeitverschwendung abgetan. Nachdem die Fronten geklärt waren, wurden zunächst
wehrpflichtige Väter und Söhne nach Rumänien, Polen, Spanien und Schweden beordert.
Der traurige Abschied auf ewig schien anfangs noch als "reine
Sicherheitsmaßnahme" in den Zeitungen auf.
Im Dom herrschten angenehme
Temperaturen, während auf den Straßen immer mehr Menschen durch
Kreislaufprobleme und Unterernährung unter der glühenden Sonne zusammenbrachen.
Wasser war rar, denn seitdem die Hochquellwasserleitungen zerbombt wurden, ließ
die Regierung in der Hauptstadt alte Brunnen neu ausheben, die seit über 300
Jahren verschlossen waren. Dementsprechend war das Wasser unrein und
verursachte Durchfall, Brechreiz und Kopfschmerzen. Einen halben Liter sauberes
Wasser bekam jedoch jeder Bürger der Stadt bei der täglichen Essensvergabe.
Diese eisernen Reserven gingen jedoch schön langsam aus und so wurden die
Menschen immer verzweifelter und wütender.
Michael ging zu Hans, der sich
neben dem Amboss eine kurze Verschnaufpause gönnte und schlug ihm einen
freundschaftlichen Stoß auf den Rücken,: „Na, wie sieht’s aus, schaffen wir es
bis zum Adlerhaus?" Hans rauchte den letzten Zentimeter seiner Zigarette
in einem Zug, zuckte mit den Achseln und blies den Rauch aus seinen Lungen.
"Michi, ich habe keine Ahnung. So wie das hier aussieht, kommen wir keine
50 Meter mit dem Vogel. Das Material ist zu steif, für einen Gleitflug sind die
Flügel falsch konstruiert. Aber der Frederick sitzt lieber auf seinem fetten
Arsch, als dass er sich an dem Projekt beteiligt. Das Problem an der ganzen
Sache ist, dass wir keine ausgebildeten Fachkräfte hier haben. Ich war Gärtner,
der Freddy hat gerade mal Abitur und Max war Langzeitalkoholiker. Michael
erwiderte mit einem Lächeln, während Hans seine Zigarette auf den Fließen
ausdrückte. "Mathematiker, Physiker, Piloten, solche Leute brauchen wir.
Aber die sind ja alle im Osten verreckt. Uns bleibt nur der Rest, der für den
Krieg nicht gut genug war. Traurige Wahrheit." Michael biss sich auf seine
Unterlippe, blickte durch den Raum und stimmte nickend zu. "Ich kann euch
bei Berechnungen der Flugbahnen auch nicht helfen, aber ich habe zwei Hände.
Ich hab‘s euch versprochen, ich komm und helfe euch. Also, was kann ich
tun?" Hans deutete ihm zu Max. "Er braucht Hilfe beim Löten. Erklär
einem Trinker doch einmal wie man lötet. Nachdem er sich die Hand dreimal
verbrannt hat, bin ich erst einmal eine rauchen gegangen. Der Typ hat hier
nichts zu suchen, wenn du mich fragst." Michael sah ihn an, zwinkerte ihm
zu und sagte: "Wer hat das schon? Ich probiere mein Bestes."
Krakau, Kiew, Bukarest,
Stockholm und Helsinki waren die militärischen Starkstützpunkte der Union. Von
hier aus wurden Lang- und Kurzstreckenraketen geschossen, verteidigt und
angegriffen. Das erste Kriegsjahr verlief nach Brüssels Plänen. Der Westen wurde
stabilisiert, der Süden bis Kairo erweitert und der Osten in einen
internationalen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Soldaten wurden gut behandelt,
Ingenieure und Mathematiker vor Ort verdienten ein Vermögen. Der Feind schien
bis nach Moskau zurückgedrängt und hatte mit den Vereinigten Staaten und Japan
zu kämpfen. Ein gewonnenes Kriegsende wurde in allen Hauptstädten der Union
vorbereitet, und die Straßen füllten sich mit glücklichen Frauen und Kindern,
die ihre Väter, Söhne, Brüder und Onkels bereits sehnsüchtig erwarteten.
Max war bereits am Ende seiner
Geduld als Michael sich zu ihm stellte. Zittrig hielt er den Stahlstab in der
linken Hand, um ihn mit dem Lötkolben in der rechten zu bearbeiten. "Max,
was hältst du von einer kurzen Pause? Ich weiß, wir haben Zeitdruck, alles
scheint aussichtslos und eigentlich sollten wir alle nach Hause gehen und auf
unser Ende warten. Aber eine kurze Zigarettenpause würde doch genügen,
oder?" versuchte Michael den sichtlich überforderten Mann zu beruhigen.
Nachdem er ihn mit bösem Blick ansah, sein Kinn nach vor schob und seinen Kopf
ungläubig schüttelte, stand Max auf, holte sich eine Zigarette aus der
Hosentasche und zündete sie sich an. "Willst auch?" fragte er Michael
entnervt. "Nein, danke. Hab aufgehört." erwiderte er. "Auch
gut", sagte Max und blieb wortlos sitzen.
Als Japan nach knapp 8
Monaten kapitulierte, blickte die Großmacht aus dem Osten in Richtung Europas.
Während die siegesberauschte Bevölkerung der Union einen Angriff verlangte,
wandten sich die Politiker und Generäle verschreckt an die Vereinigten Staaten,
um militärische Unterstützung zu erbitten. Dass die Armee solche Gewinne
verzeichnen konnte, wurde nicht ihren militärischen Leistungen, eher aber ihrer
diplomatischen Teilnahmslosigkeit gutgeschrieben.
Es war bereits dunkel geworden.
Michael ging die Kärntner Straße entlang, an der er bereits am frühen Morgen zum
Dom marschiert war. Die Familien waren in die freien Geschoße zurückgekehrt und
aßen gemeinsam oder erzählten sich Geschichten an einem kleinen Lagerfeuer, um
sich das Essen gar zu machen. Es lag eine ruhige, entspannte Stimmung in der
Luft und beinahe konnte man meinen, eine neue Zeit würde anbrechen. Doch
Michael wusste, dass die Arbeit die sich die Bürger der Stadt antaten mehr
Schein als Sein bedeutete. Denn ohne ausreichend Nahrung, Kraft und Männer in
Wien würde die Arbeit noch Jahre dauern. Verbindungen zum nächsten Bezirk waren
nur persönlich möglich, da das Telefonnetz komplett zerstört wurde. Somit war
Kontakt zur Außenwelt ausgeschlossen und selbst in ferner Zukunft noch weit
entfernt.
Nachdem Kiew verloren war und
Helsinki unter massiven Beschuss eingenommen wurde, erblickte die Bevölkerung
der Union das erste Mal die wahren Gesichter des Krieges. Kinder wurden
verschleppt und vergewaltigt, Frauen auf Bäumen aufgehängt oder zu Tode
geprügelt. Von dem Gefühl der Überlegenheit war in den Augen der Opfer nichts
mehr zu sehen. Ein grauer Nebel der Trauer und der Angst machte sich über
Europa breit – und gerade im Herzen des Kontinents war die Panik ausgebrochen.
Der Großteil der eingerückten Männer war in den Brennpunkten der Gefechte
stationiert und eine Chance auf ihre Heimkehr aussichtslos gering.
Michael schlug die Augen weit
auf. Eine Hand packte ihn an seiner Schulter, während eine andere ihm den Mund
zuhielt.
Am 28. September unterschrieb
der Präsident das Dokument, welches das Genick seines Volkes brechen sollte.
Die Union zwang jedes Mitglied seine Nationalarmee und sämtliche Reservisten an
die Unionsarmee zu überstellen - auf Gedeih und Verderb der Bevölkerung. Mit 39
Millionen Mann war genügend Kanonenfutter gefunden, um die ohnehin schon verlorenen
Städte und den Krieg für einige Monate zu halten. Während die
Propagandamaschine auf Hochtouren lief, ließen der Präsident und sein Kabinett
die Koffer packen, um im Falle des Schlimmsten möglichst schnell aus dem Lande fliehen
zu können.
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