Dienstag, 9. Juni 2015

Arm und Reich

Der Linseneintopf schmeckte nach Kokosfett und ranziger Butter. Ein Löffel rührte den kalten, schlammigen Brei um, versuchte ihn zu einer appetitlicheren Masse zu formen – erfolglos. Lukas saß auf der alten Couch mit zerrissenen Stoffüberzügen. An manchen Stellen hielten nurmehr einzelne Fadenstränge das Geflecht der blauen und roten Muster zusammen. „Heut schmeckt‘s besonders scheiße.“, sagte er mit vollem Mund. Das Fett triefte ihm aus dem rechten Mundwinkel heraus und tropfte auf seine hellblau ausgeblichene Jeans, hinterließ dicke, dunkle Flecken auf seinem Hosenbein. Markus kam mit einer halbvollen Schüssel, setzte sich dazu, schaltete die Glotze an und schwieg vor sich hin. Im Fernsehen lief Fußball. Die beiden Brüder, gerade in die Zwanziger geschlittert, lebten in der angemieteten Wohnung, versteckt im dunklen Innenhof einer Wohnanlage. Ein Zimmer teilten sie sich, zusammen mit einer Toilette und einem Badezimmer, das neben einem Waschbecken und einer Badenische räumlich nicht mehr erlaubte. Aber nicht nur mit dem Platz mussten die beiden sparen – auch das Geld war knapp, beide konnten lange keine Arbeit finden. Erst vor wenigen Wochen durfte Lukas, der ältere der beiden Brüder, einen Aushilfsjob an einer Baustelle übernehmen. Die Arbeit war hart und machte dem eins dreiundachtzig großen Kerl nicht sonderlich glücklich – aber ein paar Hunderter mehr im Monat waren ein guter Grund sechsmal die Woche das Bett vor Sonnenaufgang zu verlassen und erst spät nach Sonnenuntergang wieder zurückzukehren.

4:45 Uhr. Der Wecker läutete schrill und unbarmherzig, bis Lukas ihn mit schmerzerfüllter Miene ausschaltete. Er blickte zu seinem jüngeren Bruder –  er schlief tief und fest. Innerhalb einer Stunde machte sich Lukas fertig und verließ das kleine Zimmer kurz vor Sonnenaufgang. Die Straßen waren noch leer. Sein Körper fühlte sich unangenehm angespannt und steif an, jeder Schritt war eine Qual. Lukas wollte diesen Job nicht mehr übernehmen. Seine Kollegen behandelten ihn wie Dreck, sein Chef war ein fauler Sack, der nicht mehr zustande brachte als alle anderen zu kommandieren und sein Lohn wurde stark gekürzt – „Aufgrund fehlender praktischer Arbeitskenntnisse“, wie sein Chef es nannte. Er wusste ganz genau, dass er den armen Jungen so behandeln konnte, Herr Schachenger hatte ein gutes Gespür für junge Leute. Besonders für diese Art, die Lukas vertrat.  Solche Leute schmissen die Schule bevor sie 17 waren, rauchten Gras bis sie 19 wurden und mit 20 werden sie von den Eltern auf die Straße gesetzt – natürlich kamen sie zum Herrn Diplomingenieur um Arbeit zu bekommen und Arbeit bekamen sie auch. In seinen Augen durfte sich Lukas keinen weiteren Fehltritt erlauben, ganz klar, es gab genug andere, die seine Stelle gerne annehmen würden – das Business kennt keine Emotionen und Kompromisse.
Lukas stand an der Busstation. Er hatte den letzte vor zehn Minuten verpasst und so musste er doppelt so lange auf den nächsten warten. Er setzte sich auf die kalte Gittersitzfläche aus Metall. Die Stadt war tatsächlich am Schlafen, nur die Vögel zwitscherten den ankommenden Tag willkommen. Lukas ließ seine Gedanken schweifen – heute würde er sich nichts gefallen lassen. Niemand würde ihn heute stoßen, ohne sich im Nachhinein bei ihm zu entschuldigen. Niemand könnte ihm heute seine Pause streichen. Und niemand, schon gar nicht Herr Schachenger könnte ihm heute weismachen, dass seine Arbeitskenntnisse unzureichend oder fehlerhaft wären. Niemand, würde ihn heute rumschubsen.

Eine Menschengruppe kam ihm entgegen. Es waren junge Leute, etwa in seinem Alter. Sie waren sichtlich betrunken und scherzten und lachten laut. Als sie an ihm vorbeikam, blieb die Gruppe stehen. Zwei Burschen bildeten die Spitze der Gruppe, in der sich noch einige Kerle und ein Mädchen befanden. Einer der beiden deutete auf den jungen Mann auf der kalten Gittersitzfläche. „Na sieh mal einer an.“, sagte der große Kerl mit weinrotem Mantel. Er ging zu Lukas und blieb vor ihm stehen. Er sah ihn an, bemerkte seinen offensichtlich luxuriösen Kleidungsstil, seine blonden, zurückgekämmten Haare, die vor Brillantine trieften, seine Wildlederschuhe, deren Spitzen künstlich aufgerieben wurden, und er wusste, dass dieser große, schlanke Kerl zum anderen Teil der Bevölkerung gehörte. Der Kerl blieb vor ihm stehen und sprach Lukas direkt an. „Wartest auf den Bus, hm? Musst arbeiten, so früh?“ Das Mädchen kicherte hinter all den Burschen, die wild und unverschämt um sie buhlten. Lukas sah ihn an, blickte hinter ihn und spürte den verachtenden Blick der ganzen Gruppe in seinem Gesicht kleben. „Ja.“, sagte er. Die Gruppe lachte laut auf. Das Gelächter wurde immer schriller, und klang nicht ab. Die Situation war schon beinahe lächerlich, als sich die Leute schließlich einkriegten und  der blonde Typ sich groß und breit machte. „Schön zu sehen, dass das Volk arbeitet.“, er drehte sich mit seinem Oberkörper nun zu seinem Gefolge aus Studenten, „Dann hat unser Kontrollgang ja gefruchtet.“ Lautes Gelächter. Lukas fühlte sich allmählich unwohl. Er blickte nur mehr gerade aus, starrte auf die Gehsteigkante, die wenige Meter vor ihm lag. „Na schau, jetzt ignoriert uns der Bub. Komm, wir laden dich auf was ein – erzähl uns von deinem harten, schweren Leben.“ Lukas stand auf. Er wollte sich nichts sagen lassen, schon gar nicht von Leuten, die keinen Finger rühren mussten, um zu überleben. „Hör mal zu, du reiches Stück Scheiße.“, zischte es aus seinen Lippen hervor. Der Blonde verstummte und mit ihm die ganze Gruppe. Seine Miene verfinsterte sich. „Du hast keine Ahnung vom Leben“, fuhr Lukas fort, „Bist stolz auf den Reichtum deiner Eltern, rennst hier herum als wärst du der Fürst des Ortes.“ Schüchternes Gelächter machte sich in den Reihen der Unbeteiligten breit, starb jedoch nach fehlender Reaktion des Rudelanführers. „Hast schon richtig gehört, Arschloch. Sieh dich doch einmal an. Du lebst auf Kosten anderer, hast nicht das Zeug etwas zu vollbringen und musst anderen Leuten mit deinem Reichtum imponieren. Tatsächlich aber, und das wissen wir beide, hast du keine Leistung vollbracht, die deinen Wohlstand rechtfertigt. Jetzt verpiss dich, bevor ich dir mit meinen Bauarbeiterhänden Eine auflege.“ Sichtlich irritiert zwinkerte der Kerl mehrere Male hintereinander – wie vom Blitz getroffen stand er regungslos da. Der Lockenkopf hinter ihm nahm ihn am Arm und zog ihn weg. Der Rest der Gruppe folgte ihm, nicht ohne Lukas einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.


Der Arbeitstag verlief problemlos – Lukas setzte sich nicht nur durch, er bekam eine Beförderung vom Ingenieur Schachenger. „Endlich können wir dich hier gebrauchen, Bursche.“, sagte er. Doch er meinte das nicht böse. Es war eben seine Art, so mit dieser Art umzugehen. Die Art, die Lukas vertrat.



Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Albert Brecht.

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