Mittwoch, 3. Juni 2015

In Trümmern - Teil 1

Zwei Jahre waren nun seit dem Vergeltungsschlag vergangen. Im Panorama der Stadt stachen spitze Gebäuderuinen in den Horizont. Dunkler Rauch hing wie der ewig lauernde Tod über den zerstörten Fabriken, Häusern, Schulen und Kirchen. Die einst lebenswerteste Stadt der Welt ist zum Mittelpunkt der Grausamkeit, Unbarmherzigkeit und Gier der Menschheit geworden.

Michael lag in seinem Schlafsack als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht erfassten. Wärme und Licht waren lange Zeit verschwunden geblieben und fanden nun erst sehr scheu und schüchtern in die Gesichter der Verschreckten zurück. Die ersten Bagger waren auf der Straße zu hören und Menschen schrien durch die Gassen. Michael öffnete seine Augen, rieb sich seine Stirn und betrachtete die aufgehende Frühlingsonne. Seine Jeans hatten sich im feinen Nieselregen nassgesogen. Es war das wohl einzige freistehende Haus in der Stadt seitdem die Anarchie anfing. Der Grund war wohl schwer zu übersehen, denn durch das fehlende Obergeschoss bot es kaum Schutz. Doch einen Schlafplatz mit Fremden zu teilen war in diesen Zeit höchst riskant, weshalb man niemanden trauen wollte.

Auf der Straße schuftete man bereits. Starke Männer, deren Oberkörper in der Morgensonne glänzten, schoben Gesteinsbrocken, hebten Gruben aus, bauten Ziegelwände in die zerrissenen Fassaden, überzogen verbrannte oder vom Wind verwehte Dächer und fuhren Schubkarren Zement durch die Gegend. Die ganze Stadt war am Aufbau beteiligt und an diesem Tag, den 73. nach der katastrophalen Zerstörung der Stadt, sah man bereits erste Fortschritte auf den Straßen. Das Parlament wurde komplett mit Ziegelwänden saniert und die Staatsoper vollkommen überdacht. In diesen Gebäuden fanden bis zu 300 Familien ihren Schlafplatz, auch wenn durch Sicherheitsmaßnahmen kaum Platz gespart wurde.

Michael ging in die Oper um seine tägliche warme Mahlzeit zu ergattern. Es war bereits 9.27 Uhr geworden, und in diesen Zeiten hieß es: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. In der Empfangshalle warteten bereits weit über 100 Menschen vor ihm, obwohl die Ausgabe erst Punkt 10 begann. Viele Menschen waren von dieser Mahlzeit abhängig. Da sind eine Schüssel Kartoffeleintopf und 4 Brotscheiben bereits der weite Weg wert.

Die Menschen tuschelten und nuschelten in kleinen Gruppen. Sicher fühlte sich niemand in Gesellschaft anderer seitdem die Gesetzregelung außer Kraft getreten war. In Familienklans, die oft nicht mehr als 5 Personen betrugen, regelten sich die Menschen ihre Gesetze selbst. In der Not schreibt der Hunger die Gesetze. Geplündert und geraubt wurde nicht, allein aus zwei Gründen. Der erste war wohl, dass es gar nichts mehr zu plündern gab, der zweite, dass nach den schrecklichen Zeiten niemand mehr sein Leben aufs Spiel setzen wollte und schönere Zeiten erhoffte. Dazu trug jeder aus Gründen der Selbstliebe bei; Männer halfen beim Aufbau der Gebäude, versuchten Essen im Wald um der Stadt zu jagen oder zu sammeln, Frauen halfen bei der Nahrungsbesorgung, verteilten sie, kümmerten sich um Waisenkinder, erzogen ihre eigenen, und planten die nahe Zukunft der Stadt; junge Männer halfen ihren Vätern oder gingen Holz sammeln, putzten und schliffen Steine, junge Frauen webten Kleidung, spielten Musik, um der Depression entgegenzuwirken oder malten der Bevölkerung Bilder aus Kreide und Kohle. In diesem Leichnam einer Gesellschaft, in der der Fortschritt einst nicht schnell genug vorangetrieben werden konnte, erhofften die Menschen nun den nächsten Tag des nächsten zu überleben.

Jetzt war Michael an der Reihe. Er nahm die Plastikschale Eintopf und einen Becher kaltes, sauberes Wasser dankend an, ging damit zu einer der freien Holzbänke, die überall in den Saal der Oper gestellt wurden. Hastig aß er seinen überwürzten Gulascheintopf mit den harten Brotscheiben und trank den halben Liter klares Wasser herunter, um sich seiner Arbeit zu widmen. Er stellte das schmutzige Geschirr mit einem dankenden Gruß zu den anderen und verließ das mächtige Gebäude. Sein Weg führte über die Kärntner Straße, deren Gebäude von allen Seite aufgerissen waren. Beim Vorbeigehen konnte man die Schlafsäcke und einfach kostruierten Zelte innerhalb der Stockwerke betrachten, Kinder und deren Eltern, die sich ihren Tee über offenem Feuer erwärmten. Welch trauriges Leben die Generation der Zukunft zu erleiden habe, wollte sich Michael bei diesem Anblick nicht fragen. Mit den Händen in seinen Jeanstaschen ging er weiter, bis er bei dem verfallenen Stephandsom ankam. Die Spitzen waren weggesprengt und jede Art der auffällig konstruierten Kunstwerke an dem Gebäude mit ihnen. Übrig blieb ein armseliges, verbranntes Gebäude, welches ein Opfer von vielen war.


Nachdem die erste Bombe detonierte verspürte man ein starkes Beben in der Stadt. Sie verfehlte ihr Ziel um einige Kilometer und brachte nicht die erwünschte Wirkung mit sich. Die zweite Bombe erfüllte ihre Aufgabe mit vollstem Erfolg. Ein Druck, der aus der Höhe von 250 Metern Höhe auf die Erde stieß, ließ Häuser im Umkreis seiner Hauptwirkung zersträuben. Der große Rest der Stadt wurde von einem Windhauch des Teufels in verschiedenste Neigungen verdreht. Ein Drittel der Bevölkerung starb unmittelbar dabei; mit ihr die Bezirke und Ämter, die Demokratie und der Rechtsstaat. Ein Land dahingerafft – in 15 Sekunden. 

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