Donnerstag, 11. Juni 2015

Der Wunschautomat

Die Glocke läutete das Ende des Unterrichts ein. Unzählige Kinder strömten wie Fischschwärme aus dem Schulgebäude und breiteten sich über das weite Areal aus. In Gruppen standen dicke und dünne, kleine und große, jüngere und ältere Kinder beieinander und scherzten, lachten, riefen, flüsterten oder schrien in sorgenloser Manier. Mitten im Tumult schritt ein kleiner Bursche durch die Menge. Mario war hager, seine Gestalt wirkte zärtlich, beinahe schon zerbrechlich für einen Fünfzehnjährigen. Blonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht und glänzten in der warmen Mittagssonne. Während sich die Kollegen aus verschiedensten Schulklassen miteinander unterhielten, ging Mario schweigend weiter. Sein Blick war starr auf den hellgrauen Asphalt gerichtet, der ihm den Weg heim verriet. Stumm zählte er die einzelnen Grasbüschel, die durch den harten Straßenbelag durchgebrochen waren. Neben dem Gehsteig fuhren immer wieder Autos vorbei, die mit brummendem Motor Marios Gedanken durcheinanderbrachten. Immer wieder dachte er an das Gesicht der Lehrerin – sie hatte gelächelt. War es ein böses Lächeln, oder versuchte sie ihm ihr Mitleid zu zeigen? Eine Fünf auf die Deutscharbeit. Das schmerzte. Mario verlangsamte seinen Schritt. Tief atmete er ein – und wieder aus, diesen Rythmus behielt er für einige Momente. Immer wieder malte er sich die Reaktion seiner Eltern aus: entsetztes Geschrei seiner Mutter, Hiobsbotschaften seines Vaters, Drohungen des Schulabbruchs und viele andere Situationen spielten sich wie ein trauriges Theaterstück in Marios Kopf ab, Applaus gab es dafür keinen. Du wirst die Schule nie schaffen – ertönte es in seinen Ohren. Der Bursch setzte sich auf die alte Holzbank, unweit der Hauptstraße. Still lauschte er seinem Herzschlag. Er hatte Angst davor, nach Hause zu gehen denn er wusste was ihn erwartete. Stundenlange Gespräche und böse Mahnungen würden ihm den Rest geben, bis er sich spät abends in sein Bett legen und heimlich zu schluchzen beginnen würde. Sie verstehen mich nicht, dachte Mario.

Es war ganz still gewesen, bevor sein Herzpochen plötzlich von einer eigenartigen Melodie übertönt wurde. Sie klang wie die Musik eines Spielautomaten – mechanisch und impulsiv drang sie in Marios Ohren. Er stand auf und horchte genau hin. Die Melodie wiederholte sich im immergleichen Rhythmus und metallischen Klang. Die Musik kam aus der kleinen, engen Seitengasse, die unweit der Holzbank zu einer alten Fabrik führte. Mario dachte nicht lange nach, denn jeder gewagte Gedanke hätte ihm mit äußerster Dringlichkeit davon abgeraten, dem Geräusch zu folgen. Langsam ging er einige, kleine Schritte. Er stand direkt vor der Ecke, das Geräusch wurde immer klarer – eindeutig kam es aus der Sackgasse. Die Wände waren etwa eineinhalb Meter voneinander entfernt und bestanden aus schmutzigen, alten Ziegelsteinen, deren Ecken und Kanten abgeschlagen und rundgescheuert waren. Es fiel kaum Licht in die Gasse – kurz stockte Marios Atem. Wahrscheinlich wäre er an gewöhnlichen Tagen nicht auf die Idee gekommen, in diese Gasse zu gehen – seit 5 Jahren ging er diesen Weg beinahe täglich. Aber dieser war kein gewöhnlicher Tag. Ein Bein folgte dem Nächsten. Schritt um Schritt wagte Mario sich in die Gasse. Bald schon war er am Ende angelangt: Eine alte Fabrikfassade bildete das Ende dieser Sackgasse, die vor langer Zeit wohl als Einfahrt gedient hatte. Mario sah sich um. Ein großes, rostiges Metalltor verschloss den Zutritt in die alte Halle. Mario wollte kehrtmachen, da ertönte das Geräusch lauter und schriller als zuvor. Der Bursch erschrak so arg, dass er sich ruckartig nach rechts wandte, wo ein alter Spielautomat stand. Verwunderung. Die immergleiche Melodie ertönte aus dem Spielkasten. Bunte Lichter strahlten aus dem Gerät. Rot und Blau und Grün und Gelb ließen einen kleinen Teil der Fassade aufleuchten. Mario ging auf den Automaten zu. Ungläubig sah er sich um: das Gerät war nicht angesteckt. Kein Kabel führte zu einer Steckdose – noch größere Verwunderung machte sich in dem Jungen breit. Plötzlich sprach eine abgehackte Stimme „Drücke Start!“. Nun wiederholte die Maschine diese Aufforderung neben der eintönigen Melodie, immer schneller und immer schriller. Die Lampen blinkten wilder und hörten gar nicht mehr auf. Mario bekam Furcht. Schnell haute er seine geballte Faust auf den dicken, roten Button in der Mitte des Feldes – erst jetzt erkannte er, dass es der einzige Knopf am ganzen Automaten war. Die Lichter erstarrten – die Melodie blieb aus.

Die abgehackte, mechanische Stimme sprach ohne begleitende Melodie. „Heute ist dein Glückstag! Wie ist dein Name?“. Mario hob seine heruntergefallene Kinnlade, schloss den Mund und sah den Bildschirm entsetzt an. „Ma- Mario.“, stammelte der blonde Bursch hervor. „Hallo Mario! Heute ist dein Glückstag!“, sprach die monotone Computerstimme. Mario schluckte. Der Bildschirm wurde schwarz. Die Lichter gingen aus. „Lieber Mario. Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ Das war schließlich zu viel des Guten. Mario, der schon mit 5 hinter das Geheimnis des Osterhasen und des Weihnachtsmannes gekommen war, suchte das Geheimnis dieses Gerätes. Er suchte nach einem Kabel, einer Kamera, einem Mikrofon oder irgendeinem Anzeichen, das diesen Automaten als Streich entpuppte. Doch er fand nichts. Da will sich jemand einen Scherz mit mir erlauben, dachte er sich. Doch der Computer wiederholte seine Aussage. „Heute hast du einen Wunsch frei. Wähle ihn bedacht.“ „Gut!“, rief Mario verwirrt. „Gut, dann wünsche ich mir – ich wünsche mir den Fleck weg. Ich will eine glatte Eins ins Zeugnis, ich möchte, dass meine Eltern endlich stolz sein können auf mich und mich lieben, weil ich ihnen genüge!“ Als er seinen innigsten Wunsch ausgesprochen hatte, da rumorte es in der Maschine. Rauch stieg aus den Lüftungsschlitzen, ein elektrisches Zirpen und Knistern machte sich bemerkbar. Es stank nach Kabelbrand. Mario seufzte. Wäre auch zu schön gewesen, dachte er sich, als er aus der dunklen Gasse trat und seinen Heimweg fortsetzte.


Wortlos klatschte Mario das Arbeitsheft auf den Küchentisch. Seine Mutter blickte ihn unheilvoll an und auch der Vater hatte einen sorgevollen Blick aufgesetzt. Scham überkam Mario, als er das Heft aufschlug und ohne Kommentar seinen Eltern zuschob. Ein Moment der Stille erfüllte die Küche, in der die Gemüsecremesuppe vor sich hin köchelte. Der sanfte Geruch von gekochtem Brokkoli und Blumenkohl erfüllte die verdampfte Küche. „Bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter. Verwundert hob Mario seine Augenbrauen und blickte sie fragend an. „Sehr gut. Bin sehr stolz auf dich. Hast du gut gemacht.“ Tatsächlich. Unter dem fehlerfreien Text stand eine dicke, rote 1. Von diesem Tag an schrieb Mario nie wieder eine schlechtere Note – er wurde Klassenbester und schloss die Schule mit großartigem Erfolg ab. Den Automaten aber, den fand er nie wieder. Aber manchmal, an einsamen Tagen, da hört Mario noch heute die immergleiche, mechanische Melodie von Weitem erklingen…

2 Kommentare:

  1. Sehr schöne Geschichte, doch hab ich diesmal etwas zu bemängeln, was mir beim lesen sofort auffiel.

    Der Automat fragt Marion nach seinen Namen und dieser antwortet: " „Ma- Mario.“, stammelte [...] und 4 oder 5 Sätze fragt sich Mario, woher der Automat seinen Namen weiß ... ...
    Das scheint mir doch nicht ganz schlüssig zu sein :) :)
    Ansonsten, finde ich es sehr gelungen.
    LG Ede

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  2. Da musste ich erst mal lachen, so ein komischer Denkfehler!

    Danke Dir für den Hinweis und das Feedback!

    LG, Maximilian :)

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