Sonntag, 7. Juni 2015

In Trümmern - Teil 3

Es war nicht die strahlende Sonne, die Michael weckte. Auch sein Durst hielt ihn nicht vom Schlaf ab. Was ihn zum Aufwachen drängte war der schaukelnde Jeep, in dem er sich befand. Noch bevor er wusste, wo er war, hatte er schon das erste ihm bekannte Gesicht gesehen: Freddy, der Konstruktionsleiter des Lagers im Stephansdom, saß neben dem vermummten Fahrer und blickte aus dem Fenster. Ein leises Stöhnen, in dem sich Erschöpfung und Verwirrung zu bitterer Verzweiflung mischten, machte den breiten Norddeutschen auf Michael aufmerksam. Es folgten ein kurzer Blick und ein unverständliches Wort zum Fahrer, der das Auto abrupt zum Anhalten brachte.

Als die Männer eingerückt waren, wurde es still in den Straßen Europas. Mit jedem Tag wurde die Angst größer bis schließlich die ersten Todesmeldungen ins Land kamen - erst war es ein Onkel, ein Vetter und ein Neffe - bald folgte der Bruder, der Vater und der Sohn. Jeder Bürger hatte Familienmitglieder verloren und jeden Tag konnte es eines mehr sein. Mit dem Einsatz der atomaren Sprengköpfe wurden ganze Heeresgruppen in wenigen Momenten ausradiert und von den militärischen Landkarten gestrichen. Eine Schreckensnachricht jagte die nächste und so dauerte es nicht lange bis die Frauen und Kinder in den Städten rebellierten: Erst in Madrid, dann in London und schließlich auch in Wien gingen Millionen Frauen auf die Straßen - für ihre Männer, für ihre Söhne, für ihre Freiheit. 

Der Fahrer sprach einen örtlichen Dialekt – er erklärte Michael, dass er aufgrund seiner illegalen Aktivitäten gegen das Solidaritätsgesetz verstoßen hatte. „Verzeihen Sie vielmals“, sprach Michael und blickte dem Mann, der seine Maskierung bereits abgelegt hatte, ins Gesicht. Ein dicker Schnauzbart lag über seinen dünnen Lippen, sein Kopf war flach und lang gezogen und die Augen schielten leicht auseinander. Ehe Michael es kommen sah, versetzte der Kerl ihm einen Hieb auf die Brust. „Gusch!“, schrie ihn der Mann an. „Jemand, der gegen das Gesetz verstößt und sich der Höchststrafe auszusetzen hat, hält das Maul. Und wenn du noch ein Wort sagst, kann ich dir nicht versprechen, dass du lebend aus diesem Auto steigst.“ Die Worte klangen bedrohlich und ernst. Michael nickte entsetzt. Nicht einmal ein „Verstanden“ brachte er heraus. Eine stechende Kälte überkam ihn, er bekam Angst. Angst um sein Leben.

Der Tag nach dem Abwurf würde als Tag X in die Geschichte des Landes eingehen. Die Straßen waren bis tief in die Nacht leer, keine Menschenseele traute sich heraus. In der Stille des Abends hörte man vereinzelte Schreie, deren Qualen die Ohren der Überlebenden folterten. Aber keiner half. Am zweiten Tag fassten einige Menschen wieder Mut - wer nicht verletzt war, kletterte zwischen den Gesteinsbrocken und Straßengruben, um nach Überlebenden zu suchen. Nur wenige konnten gerettet werden. In den darauf folgenden Tagen bildeten sich Gruppen, um gemeinsam helfen zu können. Ehemalige Nachbarschaften taten sich zusammen und bauten ihre Häuser auf, um wieder darin schlafen zu können. Niemand verweigerte den Dienst, und wenn auch vereinzelt einige murrten, so war die Stadt selten so sozial gewesen.

Sie fuhren noch etwa eine halbe Stunde über Waldwege und Trampelpfade, bis sie ihr Ziel erreichten. Michael konnte nicht sagen, durch welches Dorf sie fuhren und doch kam ihm die idyllische Landschaft vertraut vor: prächtige Bauernhäuser mit ausgeschmückten Balkonen und Efeuranken, die die gelb und grün gestrichenen Fassaden zierten, bildeten das Bild dieses Ortes. Hier hatte der Krieg nicht hergefunden. Das Auto blieb an einem abgelegenen Parkplatz stehen. Freddy und der Mann mit Schnauzer stiegen aus. Einige Männer standen in einer kleinen Gruppe zusammen am Platz – sie hatten Militäruniformen an und Gewehre um ihre Schultern geschnallt. Durch die zerkratzte Scheibe konnte Michael erkennen, dass der Fahrer und sein falscher Freund den Leuten die Hände schüttelten. Sie tauschten einige kaum wahrnehmbare Worte aus, bis sich die Gruppe auflöste und sich in Richtung des Dorfes bewegte. Der Fahrer aber kam als einziger zurück. Wortlos öffnete er die Tür, griff Michaels Arm und führte ihn in einen abgelegen Stall. „Hier verbringst du deine letzten Stunden.“ Die Tür wurde abgesperrt. Michael war hier nicht allein.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Menschen wieder auf das Nötigste zusammengerafft hatten und ihr Leben außer Gefahr bringen konnten. Man wartete nicht lange auf Hilfe, denn das Ende des Krieges und die Niederlage der Union und all seiner Staaten war gewiss und in baldiger Aussicht. Die Menschen hofften auf eine milde Behandlung und erwarteten die Kapitulation mit jedem Tag aufs Neue. Doch sie blieb aus und so bildeten sich im Laufe der Zeit Interessensgruppen verschiedenster Art. Männer und Frauen, sprachgewandt und rhetorisch geschult, brachten erste Freiheitsverbände und Organisationen zum Vorschein. Viele waren friedlich, einige waren militant und revolutionär. Je mehr Gewalt in den vollen Sälen der Gruppen gepriesen wurde, desto lauter und fanatischer jubelten die Leute ihrem unaufhaltbaren Schicksal entgegen.

Michael kannte niemanden der zwanzig Menschen, die mit ihm im Stall eingesperrt waren. Einige kamen aus Wien, andere aus dem Umland, einer aus Horn und eine Frau kam aus Tulln. Sie waren alle verschieden alt, zum Teil hatten einige studiert, andere aber waren einfache Arbeiter gewesen. In nur einem Punkt hatten sie alle eine Gemeinsamkeit: Sie hatten in ihrem Heimatsort für den Fortschritt gearbeitet. Michael fand sich schnell einen Mann zum Reden in gleichem Alter – er hieß Kevin und war einst Koch gewesen, bevor er in Rumänien stationiert und wenige Tage vor einem Massenbombenabwurf auf seine Heeresgruppe wegen einem gebrochenen Bein nach Hause beordert wurde. Die Verletzung hatte ihm sein Leben gerettet und so hatte er sich dazu entschlossen, andere Menschenleben zu retten. In Simmering, seinem Heimatbezirk in Wien, bekochte er die Alten und Schwachen, baute ihnen die Wände neu auf und besorgte ihnen Wasser aus den umliegenden Besorgungsstätten. Er war ein guter Mann gewesen, der jede Sekunde des Krieges für den Frieden und das Wohlergehen der Menschen gekämpft hatte. Michael unterhielt sich eine Weile mit Kevin, und bald fanden sie einige Gemeinsamkeiten. Sie beide wurden von einem Kollegen verraten, bei beiden Fällen schlug er sich auf die andere Seite. Beide waren aus Wien und halfen der Allgemeinheit der Stadt. Plötzlich schlug die Tür auf und ein Mann in Uniform hielt eine Liste in seinen Händen. Die Sonne hinter ihm ließ nur die Konturen seiner Gestalt erkennen. Er las einige Namen vor. Darunter auch Michaels. „Mitkommen.“

Während die Mehrheit der Wiener Bevölkerung auf baldigen Frieden hoffte und mit täglichen Demonstrationen gegen den Krieg ein Zeichen setzte, fanden einige wenige Leute deutlichen Gefallen an militärisch organisierten Gruppierungen. Die Macht dieser Uniformträger wurde durch die stetig wachsenden Probleme der Bevölkerung und das Ausbleiben einer hoffnungsvollen Lösung immer größer. Bald schon organisierten sie sich in Zirkeln, um Waffen und Munition zu stehlen und zu rauben. Mit jedem Tag traten mehr Mitglieder bei - die Menschen fühlten sich hinter Gewehr und Orden sicher aufgehoben. Nach wenigen Wochen kollektivierte ein Mann alle diese militanten Gruppierungen zum „Bataillon Wien“.

Die Gruppe fand sich in einem Gemeinschaftssaal wieder. Einige Tische waren zu einem eckigen U geformt, in dessen Mitte ein kleiner Tisch seinen Platz gefunden hatte. Nach kurzem Schaudern erkannte Michael, wo er gelandet war: Dieser Raum diente als Gerichtsort. Einige Herren, jeder trug dieselbe olivgrüne Uniform, nahmen an der Seite Platz. Sie wirkten fit und gut gelaunt, bestimmt hatten sie kurz zuvor gut gegessen, dachte Michael. Er stand mit den anderen Menschen aus dem Stall an der Seite des großen Raumes, gleich neben der Tür, umringt von 3 Soldaten, die ihre Zeigefinger am Abzug ihrer Gewehre bereithielten. Eine Flucht war aussichtslos – sie hätte nichts gebracht: Am Weg im Jeep hierher hatte Michael nur Wald und weite Weiden gesehen, hier würde ihm niemand helfen. Da standen sie, wie Angeklagte, schmutzig, in zerrissener Kleidung, wie Sklaven in einem Stall gehalten. Die Stimmung war getrübt, sie wirkte irreal vernebelt. Er hatte recht: Bald schon trat ein Richter in schwarzer, langer Amtstracht in den Raum. Michael war einer der Angeklagten. Alle nahmen Platz. Es wurde still im Saal. Der Richter blickte kein einziges Mal in die Gesichter der Menschen, die wie Tiere gehalten wurden. Er rief eine junge Frau auf, Maria, 24 Jahre alt, bildhübsch. Er fragte kaum, sprach in kurzen Sätzen und blickte nicht hoch. Seine Augen starrten auf das Blatt Papier, das auf seinem Tisch lag.

Das „Bataillon“ agierte nicht in Wien. Viel zu auffällig wären all die Männer gewesen, die mit Gewalt und Drohung für Ordnung sorgen wollten. Auf dem umliegenden Land, wo die Bomben nur vom Hörensagen bekannt waren, da fanden sie viel Zuspruch. Sie versprachen, was die Verzweiflung und der Hunger verlangte: Beendigung des Krieges, reichliche Rationen für alle, ein Leben wie vor 10 Jahren. Bald schon konnte sich das „Bataillon Wien“ in vielen Dörfern behaupten und stellten den jeweiligen Bürgermeister – eine demokratische Politik war durch die zerstörte Infrastruktur nicht möglich. Die bewaffneten Männer ersetzten die damalige Polizei – sie sorgten für Frieden und unterdrückten jede Art von Widerstand. Bald schon wurde klar, dass das Bataillon die Macht der Region erlangt hatte und Wien das nächste Ziel darstellte.

„Michael Gschwindel“, ertönte die kalte Stimme des Richters und rief ihn als letzten an der Reihe auf. Die schrillen Worte versetzten ihm einen kalten Hieb in die Magengrube. Er stand auf und ging vor zum Tisch, auf dem er jedem Blick, jedem Wort und aller Aufmerksamkeit in dem Saal ausgeliefert war. „Sie sind 23.“ – „Stimmt.“, erwiderte er rasch. „Was hat Sie dazu gebracht, gegen das Solidaritätsgesetz zu handeln?“. Stille. Michael sah den Mann mit erstaunter Miene an. „Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht.“, sagte er. Mit gleichmütiger, fast schon freundlicher Stimme antwortete ihm der Richter. „Sie haben sich in den letzten Wochen an dem Bau eines Fluchtmittels, namentlich einem Fluggerät, welches jedoch nie zum Einsatz kam, beteiligt. So bescheinigt dies der Zeuge Frederick Christher.“ Blankes Entsetzen machte sich in Michaels Gesicht breit. „Nein, das- Nein das ist nicht wahr! Das ist nicht- Wir wollten damit Hilfe holen, um aus der Stadt zu gelangen, warum sollten wir denn-„ – „Dankeschön, die Sitzung ist geschlossen.“, unterbrach ihn der Richter. Michael schrie: „Nein, hören Sie!“ Er wurde von hinten gepackt und von einem der Soldaten zu den anderen gezerrt. Die Herren an dem Richtertisch standen auf und gingen aus dem Raum. In den Augen der Angeklagten fand sich keine Spur der Hoffnung. Die Hoffnung, die sie die letzten Monate, Tag für Tag, mit aller Mühe hervorgebracht hatten war gestorben. Die meisten Leute standen still da und starrten in die Leere, wo sich die Vergangenheit in ihren Erinnerungen spiegelte. Dann kamen die Herren in Uniformen wieder in den Raum. Sie nahmen Platz. Der Richter las alle Namen vor. „Milhonik, Precht, Lehn, Gülyür, Abrahm, Felzel, Stock, Fischbauer, Hintermayer und Gschwindel werden als Angeklagte in dem Strafvorsatz des Verstoßes gegen Solidaritätsgesetzes, welches besagt, dass jegliche Handlung wider das vorläufig provisorische Regierungsprogramm mit harter Strafe, jedoch nach eigenem Ermessen des zu handelnden Richters, zu belangen sei, schuldig gesprochen und zum Tod durch Erschießung verurteilt. Das Urteil ist sofort durchzuführen.“

75 Tage nach dem Abwurf der detonierten Massenvernichtungswaffe marschierten 12.000 bewaffnete Männer und Frauen durch Wien. Sie kamen in der Nacht und mussten kaum Verluste vermerken – die meisten Bewohner bemerkten sie nicht, und wer sich trotz aller Einschüchterung wehrte, wurde gnadenlos zur Strecke gebracht. Bis auf wenige Festnahmen, die in aller Stille durchgeführt wurden, um sogenannte Widerstandskämpfer zu beseitigen, wurde die Bevölkerung verschont. Das „Bataillon Wien“ hatte sein Ziel erreicht.

Michael ließ den Soldaten widerstandslos die Arme hinter seinen Rücken festbinden. Nun sollte auch er eines der zahllosen Opfer des dritten Weltkrieges werden. Ein komisches Gefühl, dachte er. Während alle Verurteilten sich wehrten, schrien oder flehten, war er vollkommen still und ließ sich alles gefallen, was von ihm erwartet wurde. Er wartete in einer Zweierreihe vor einer verschlossenen Tür. Neben ihm stand Kevin, der junge Bursch aus Wien, der die Armen und Alten bekocht hatte. Michael sah ihn an und lächelte ihm zu. Das Lächeln war quälend, beinahe schon sardonisch. „Wer hätte sich das gedacht.“, sagte Kevin und biss sich auf die Lippen. „Ich wollte den Menschen ihren Hunger nehmen und ihnen den Tag erleichtern. Nun muss ich deswegen sterben.“ Michael sah ihm tief in die Augen. „Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Bist ein guter Mann.“ – „Danke dir! Du auch!“, sagte Kevin, während ihm eine Träne an der Wange herunter rann. Die Tür öffnete sich. „Die Guten sterben jung.“, sagte er. Dann lachte er laut. Das war das letzte, was Kevin zu ihm gesagt hatte.

Der Krieg dauerte noch einige Wochen, bis die Union nicht mehr genug Soldaten stellen konnte und die Ostfront rasant einbrach. Fisher, der Oberbefehlshaber des Unionsheeres kapitulierte und stellte keine Friedensbedingungen. Wer nach diesem Teufelskrieg noch sein Leben besaß, durfte sich dessen nicht mehr sicher sein. Alle europäischen Staaten waren auf Gedeih und Verderb den Siegermächten unterstellt. In Wien wurde, wenige Jahre nach Kriegsende eine große Tafel an den Stephansplatz angebracht. An ihr stand: „Hier gedenken wir den armen Seelen derjenigen, die durch das Militärkollektiv des Wiener Bataillons ihr Leben lassen mussten. Mögen sie auf ewig ruhen.“

Die Gewehre waren auf ihn gerichtet. Der Moment stand still. Die Gesichter der Schützen waren ausdruckslos. Sie taten ihre Arbeit um am Abend zu ihren Familien zurückzukehren und das gekochte Essen ihrer Frau zu genießen, ihren Kindern in die Wange zu kneifen und ihnen vorm Schlafengehen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Sie ließen keine Emotion zu und bedachten nicht, was sie taten. Neben Michael stand Maria, das schöne Mädchen, das vor ihm verhört wurde. Sie hob die Faust und schrie „Tod dem Faschismus!“. Schuss. Michael sackte zusammen. Eine warme Träne kullerte seine Backe herunter und kühlte allmählich aus. 

Die Guten starben jung.









1 Kommentar:

  1. Bin endlich dazu gekommen deinen Dreiteiler zu lesen.
    Ich finde die Geschichte erschreckend gut. Grausam und unvorstellbar, aber doch so nah ein eine wahrscheinliche Wirklichkeit.
    Gut gemacht.
    Auch ohne Happy End.
    Gruß Ede

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