Es war nicht die
strahlende Sonne, die Michael weckte. Auch sein Durst hielt ihn nicht vom
Schlaf ab. Was ihn zum Aufwachen drängte war der schaukelnde Jeep, in dem er
sich befand. Noch bevor er wusste, wo er war, hatte er schon das erste ihm
bekannte Gesicht gesehen: Freddy, der Konstruktionsleiter des Lagers im
Stephansdom, saß neben dem vermummten Fahrer und blickte aus dem Fenster. Ein
leises Stöhnen, in dem sich Erschöpfung und Verwirrung zu bitterer Verzweiflung
mischten, machte den breiten Norddeutschen auf Michael aufmerksam. Es folgten
ein kurzer Blick und ein unverständliches Wort zum Fahrer, der das Auto abrupt
zum Anhalten brachte.
Als die Männer
eingerückt waren, wurde es still in den Straßen Europas. Mit jedem Tag wurde
die Angst größer bis schließlich die ersten Todesmeldungen ins Land kamen -
erst war es ein Onkel, ein Vetter und ein Neffe - bald folgte der Bruder, der
Vater und der Sohn. Jeder Bürger hatte Familienmitglieder verloren und jeden
Tag konnte es eines mehr sein. Mit dem Einsatz der atomaren Sprengköpfe wurden
ganze Heeresgruppen in wenigen Momenten ausradiert und von den militärischen
Landkarten gestrichen. Eine Schreckensnachricht jagte die nächste und so
dauerte es nicht lange bis die Frauen und Kinder in den Städten rebellierten:
Erst in Madrid, dann in London und schließlich auch in Wien gingen Millionen
Frauen auf die Straßen - für ihre Männer, für ihre Söhne, für ihre
Freiheit.
Der Fahrer sprach einen
örtlichen Dialekt – er erklärte Michael, dass er aufgrund seiner illegalen
Aktivitäten gegen das Solidaritätsgesetz verstoßen hatte. „Verzeihen Sie
vielmals“, sprach Michael und blickte dem Mann, der seine Maskierung bereits
abgelegt hatte, ins Gesicht. Ein dicker Schnauzbart lag über seinen dünnen
Lippen, sein Kopf war flach und lang gezogen und die Augen schielten leicht
auseinander. Ehe Michael es kommen sah, versetzte der Kerl ihm einen Hieb auf
die Brust. „Gusch!“, schrie ihn der Mann an. „Jemand, der gegen das Gesetz
verstößt und sich der Höchststrafe auszusetzen hat, hält das Maul. Und wenn du
noch ein Wort sagst, kann ich dir nicht versprechen, dass du lebend aus diesem
Auto steigst.“ Die Worte klangen bedrohlich und ernst. Michael nickte entsetzt.
Nicht einmal ein „Verstanden“ brachte er heraus. Eine stechende Kälte überkam
ihn, er bekam Angst. Angst um sein Leben.
Der Tag nach dem Abwurf
würde als Tag X in die Geschichte des Landes eingehen. Die Straßen waren bis
tief in die Nacht leer, keine Menschenseele traute sich heraus. In der Stille
des Abends hörte man vereinzelte Schreie, deren Qualen die Ohren der
Überlebenden folterten. Aber keiner half. Am zweiten Tag fassten einige
Menschen wieder Mut - wer nicht verletzt war, kletterte zwischen den
Gesteinsbrocken und Straßengruben, um nach Überlebenden zu suchen. Nur wenige
konnten gerettet werden. In den darauf folgenden Tagen bildeten sich Gruppen,
um gemeinsam helfen zu können. Ehemalige Nachbarschaften taten sich zusammen
und bauten ihre Häuser auf, um wieder darin schlafen zu können. Niemand
verweigerte den Dienst, und wenn auch vereinzelt einige murrten, so war die
Stadt selten so sozial gewesen.
Sie fuhren noch etwa
eine halbe Stunde über Waldwege und Trampelpfade, bis sie ihr Ziel erreichten.
Michael konnte nicht sagen, durch welches Dorf sie fuhren und doch kam ihm die
idyllische Landschaft vertraut vor: prächtige Bauernhäuser mit ausgeschmückten
Balkonen und Efeuranken, die die gelb und grün gestrichenen Fassaden zierten,
bildeten das Bild dieses Ortes. Hier hatte der Krieg nicht hergefunden. Das
Auto blieb an einem abgelegenen Parkplatz stehen. Freddy und der Mann mit
Schnauzer stiegen aus. Einige Männer standen in einer kleinen Gruppe zusammen
am Platz – sie hatten Militäruniformen an und Gewehre um ihre Schultern
geschnallt. Durch die zerkratzte Scheibe konnte Michael erkennen, dass der
Fahrer und sein falscher Freund den Leuten die Hände schüttelten. Sie tauschten
einige kaum wahrnehmbare Worte aus, bis sich die Gruppe auflöste und sich in
Richtung des Dorfes bewegte. Der Fahrer aber kam als einziger zurück. Wortlos
öffnete er die Tür, griff Michaels Arm und führte ihn in einen abgelegen Stall.
„Hier verbringst du deine letzten Stunden.“ Die Tür wurde abgesperrt. Michael
war hier nicht allein.
Es dauerte nicht lange,
bis sich die Menschen wieder auf das Nötigste zusammengerafft hatten und ihr Leben
außer Gefahr bringen konnten. Man wartete nicht lange auf Hilfe, denn das Ende
des Krieges und die Niederlage der Union und all seiner Staaten war gewiss und
in baldiger Aussicht. Die Menschen hofften auf eine milde Behandlung und
erwarteten die Kapitulation mit jedem Tag aufs Neue. Doch sie blieb aus und so
bildeten sich im Laufe der Zeit Interessensgruppen verschiedenster Art. Männer
und Frauen, sprachgewandt und rhetorisch geschult, brachten erste
Freiheitsverbände und Organisationen zum Vorschein. Viele waren friedlich,
einige waren militant und revolutionär. Je mehr Gewalt in den vollen Sälen der
Gruppen gepriesen wurde, desto lauter und fanatischer jubelten die Leute ihrem
unaufhaltbaren Schicksal entgegen.
Michael kannte niemanden
der zwanzig Menschen, die mit ihm im Stall eingesperrt waren. Einige kamen aus
Wien, andere aus dem Umland, einer aus Horn und eine Frau kam aus Tulln. Sie
waren alle verschieden alt, zum Teil hatten einige studiert, andere aber waren
einfache Arbeiter gewesen. In nur einem Punkt hatten sie alle eine
Gemeinsamkeit: Sie hatten in ihrem Heimatsort für den Fortschritt gearbeitet.
Michael fand sich schnell einen Mann zum Reden in gleichem Alter – er hieß
Kevin und war einst Koch gewesen, bevor er in Rumänien stationiert und wenige
Tage vor einem Massenbombenabwurf auf seine Heeresgruppe wegen einem
gebrochenen Bein nach Hause beordert wurde. Die Verletzung hatte ihm sein Leben
gerettet und so hatte er sich dazu entschlossen, andere Menschenleben zu retten. In Simmering,
seinem Heimatbezirk in Wien, bekochte er die Alten und Schwachen, baute ihnen
die Wände neu auf und besorgte ihnen Wasser aus den umliegenden
Besorgungsstätten. Er war ein guter Mann gewesen, der jede Sekunde des Krieges
für den Frieden und das Wohlergehen der Menschen gekämpft hatte. Michael
unterhielt sich eine Weile mit Kevin, und bald fanden sie einige
Gemeinsamkeiten. Sie beide wurden von einem Kollegen verraten, bei beiden
Fällen schlug er sich auf die andere Seite. Beide waren aus Wien und halfen der
Allgemeinheit der Stadt. Plötzlich schlug die Tür auf und ein Mann in Uniform
hielt eine Liste in seinen Händen. Die Sonne hinter ihm ließ nur die Konturen
seiner Gestalt erkennen. Er las einige Namen vor. Darunter auch Michaels.
„Mitkommen.“
Während die Mehrheit der
Wiener Bevölkerung auf baldigen Frieden hoffte und mit täglichen
Demonstrationen gegen den Krieg ein Zeichen setzte, fanden einige wenige Leute
deutlichen Gefallen an militärisch organisierten Gruppierungen. Die Macht
dieser Uniformträger wurde durch die stetig wachsenden Probleme der Bevölkerung
und das Ausbleiben einer hoffnungsvollen Lösung immer größer. Bald schon
organisierten sie sich in Zirkeln, um Waffen und Munition zu stehlen und zu
rauben. Mit jedem Tag traten mehr Mitglieder bei - die Menschen fühlten sich
hinter Gewehr und Orden sicher aufgehoben. Nach wenigen Wochen kollektivierte
ein Mann alle diese militanten Gruppierungen zum „Bataillon Wien“.
Die Gruppe fand sich in
einem Gemeinschaftssaal wieder. Einige Tische waren zu einem eckigen U geformt,
in dessen Mitte ein kleiner Tisch seinen Platz gefunden hatte. Nach kurzem
Schaudern erkannte Michael, wo er gelandet war: Dieser Raum diente als
Gerichtsort. Einige Herren, jeder trug dieselbe olivgrüne Uniform, nahmen an
der Seite Platz. Sie wirkten fit und gut gelaunt, bestimmt hatten sie kurz
zuvor gut gegessen, dachte Michael. Er stand mit den anderen Menschen aus dem
Stall an der Seite des großen Raumes, gleich neben der Tür, umringt von 3
Soldaten, die ihre Zeigefinger am Abzug ihrer Gewehre bereithielten. Eine
Flucht war aussichtslos – sie hätte nichts gebracht: Am Weg im Jeep hierher
hatte Michael nur Wald und weite Weiden gesehen, hier würde ihm niemand helfen.
Da standen sie, wie Angeklagte, schmutzig, in zerrissener Kleidung, wie Sklaven
in einem Stall gehalten. Die Stimmung war getrübt, sie wirkte irreal vernebelt.
Er hatte recht: Bald schon trat ein Richter in schwarzer, langer Amtstracht in
den Raum. Michael war einer der Angeklagten. Alle nahmen Platz. Es wurde still
im Saal. Der Richter blickte kein einziges Mal in die Gesichter der Menschen,
die wie Tiere gehalten wurden. Er rief eine junge Frau auf, Maria, 24 Jahre
alt, bildhübsch. Er fragte kaum, sprach in kurzen Sätzen und blickte nicht
hoch. Seine Augen starrten auf das Blatt Papier, das auf seinem Tisch lag.
Das „Bataillon“ agierte
nicht in Wien. Viel zu auffällig wären all die Männer gewesen, die mit Gewalt
und Drohung für Ordnung sorgen wollten. Auf dem umliegenden Land, wo die Bomben
nur vom Hörensagen bekannt waren, da fanden sie viel Zuspruch. Sie versprachen,
was die Verzweiflung und der Hunger verlangte: Beendigung des Krieges,
reichliche Rationen für alle, ein Leben wie vor 10 Jahren. Bald schon konnte
sich das „Bataillon Wien“ in vielen Dörfern behaupten und stellten den jeweiligen
Bürgermeister – eine demokratische Politik war durch die zerstörte
Infrastruktur nicht möglich. Die bewaffneten Männer ersetzten die damalige
Polizei – sie sorgten für Frieden und unterdrückten jede Art von Widerstand.
Bald schon wurde klar, dass das Bataillon die Macht der Region erlangt hatte
und Wien das nächste Ziel darstellte.
„Michael Gschwindel“,
ertönte die kalte Stimme des Richters und rief ihn als letzten an der Reihe
auf. Die schrillen Worte versetzten ihm einen kalten Hieb in die Magengrube.
Er stand auf und ging vor zum Tisch, auf dem er jedem Blick, jedem Wort und
aller Aufmerksamkeit in dem Saal ausgeliefert war. „Sie sind 23.“ – „Stimmt.“,
erwiderte er rasch. „Was hat Sie dazu gebracht, gegen das Solidaritätsgesetz zu
handeln?“. Stille. Michael sah den Mann mit erstaunter Miene an. „Verzeihen
Sie, aber ich verstehe nicht.“, sagte er. Mit gleichmütiger, fast schon
freundlicher Stimme antwortete ihm der Richter. „Sie haben sich in den letzten
Wochen an dem Bau eines Fluchtmittels, namentlich einem Fluggerät, welches
jedoch nie zum Einsatz kam, beteiligt. So bescheinigt dies der Zeuge Frederick
Christher.“ Blankes Entsetzen machte sich in Michaels Gesicht breit. „Nein,
das- Nein das ist nicht wahr! Das ist nicht- Wir wollten damit Hilfe holen, um
aus der Stadt zu gelangen, warum sollten wir denn-„ – „Dankeschön, die Sitzung
ist geschlossen.“, unterbrach ihn der Richter. Michael schrie: „Nein, hören
Sie!“ Er wurde von hinten gepackt und von einem der Soldaten zu den anderen
gezerrt. Die Herren an dem Richtertisch standen auf und gingen aus dem Raum. In
den Augen der Angeklagten fand sich keine Spur der Hoffnung. Die Hoffnung, die
sie die letzten Monate, Tag für Tag, mit aller Mühe hervorgebracht hatten war
gestorben. Die meisten Leute standen still da und starrten in die Leere, wo
sich die Vergangenheit in ihren Erinnerungen spiegelte. Dann kamen die Herren
in Uniformen wieder in den Raum. Sie nahmen Platz. Der Richter las alle Namen
vor. „Milhonik, Precht, Lehn, Gülyür, Abrahm, Felzel, Stock, Fischbauer,
Hintermayer und Gschwindel werden als Angeklagte in dem Strafvorsatz des
Verstoßes gegen Solidaritätsgesetzes, welches besagt, dass jegliche Handlung
wider das vorläufig provisorische Regierungsprogramm mit harter Strafe, jedoch
nach eigenem Ermessen des zu handelnden Richters, zu belangen sei, schuldig
gesprochen und zum Tod durch Erschießung verurteilt. Das Urteil ist sofort
durchzuführen.“
75 Tage nach dem Abwurf
der detonierten Massenvernichtungswaffe marschierten 12.000 bewaffnete Männer
und Frauen durch Wien. Sie kamen in der Nacht und mussten kaum Verluste
vermerken – die meisten Bewohner bemerkten sie nicht, und wer sich trotz aller
Einschüchterung wehrte, wurde gnadenlos zur Strecke gebracht. Bis auf wenige
Festnahmen, die in aller Stille durchgeführt wurden, um sogenannte
Widerstandskämpfer zu beseitigen, wurde die Bevölkerung verschont. Das
„Bataillon Wien“ hatte sein Ziel erreicht.
Michael ließ den
Soldaten widerstandslos die Arme hinter seinen Rücken festbinden. Nun sollte
auch er eines der zahllosen Opfer des dritten Weltkrieges werden. Ein komisches
Gefühl, dachte er. Während alle Verurteilten sich wehrten, schrien oder
flehten, war er vollkommen still und ließ sich alles gefallen, was von ihm
erwartet wurde. Er wartete in einer Zweierreihe vor einer verschlossenen Tür.
Neben ihm stand Kevin, der junge Bursch aus Wien, der die Armen und Alten
bekocht hatte. Michael sah ihn an und lächelte ihm zu. Das Lächeln war quälend,
beinahe schon sardonisch. „Wer hätte sich das gedacht.“, sagte Kevin und biss
sich auf die Lippen. „Ich wollte den Menschen ihren Hunger nehmen und ihnen den
Tag erleichtern. Nun muss ich deswegen sterben.“ Michael sah ihm tief in die
Augen. „Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Bist ein guter Mann.“ – „Danke
dir! Du auch!“, sagte Kevin, während ihm eine Träne an der Wange herunter rann.
Die Tür öffnete sich. „Die Guten sterben jung.“, sagte er. Dann lachte er laut.
Das war das letzte, was Kevin zu ihm gesagt hatte.
Der Krieg dauerte noch
einige Wochen, bis die Union nicht mehr genug Soldaten stellen konnte und die
Ostfront rasant einbrach. Fisher, der Oberbefehlshaber des Unionsheeres
kapitulierte und stellte keine Friedensbedingungen. Wer nach diesem
Teufelskrieg noch sein Leben besaß, durfte sich dessen nicht mehr sicher sein.
Alle europäischen Staaten waren auf Gedeih und Verderb den Siegermächten
unterstellt. In Wien wurde, wenige Jahre nach Kriegsende eine große Tafel an
den Stephansplatz angebracht. An ihr stand: „Hier gedenken wir den armen Seelen
derjenigen, die durch das Militärkollektiv des Wiener Bataillons ihr Leben
lassen mussten. Mögen sie auf ewig ruhen.“
Die Gewehre waren auf
ihn gerichtet. Der Moment stand still. Die Gesichter der Schützen waren ausdruckslos.
Sie taten ihre Arbeit um am Abend zu ihren Familien zurückzukehren und das
gekochte Essen ihrer Frau zu genießen, ihren Kindern in die Wange zu kneifen
und ihnen vorm Schlafengehen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Sie ließen
keine Emotion zu und bedachten nicht, was sie taten. Neben Michael stand Maria,
das schöne Mädchen, das vor ihm verhört wurde. Sie hob die Faust und schrie
„Tod dem Faschismus!“. Schuss. Michael sackte zusammen. Eine warme Träne
kullerte seine Backe herunter und kühlte allmählich aus.
Die Guten starben jung.
Bin endlich dazu gekommen deinen Dreiteiler zu lesen.
AntwortenLöschenIch finde die Geschichte erschreckend gut. Grausam und unvorstellbar, aber doch so nah ein eine wahrscheinliche Wirklichkeit.
Gut gemacht.
Auch ohne Happy End.
Gruß Ede